Im Interview

alt30.03.2010:  "Staaten wollen ihre Unabhängigkeit, Nationen ihre Befreiung" - das zeigt sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren besonders in Latainamerika als starke Strömung gegen imperialistische Ausbeutung und Unterdrückung. In Ecuador nahm dieser Prozess politische Gestalt an, als Ende 2006 der indigene Wirtschaftswissenschaftler Rafael Correa die Präsidentschaftswahlen gewann. Eines seiner wichtigsten Vorhaben war die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung und nach der überwältigenden Zustimmung der Bevölkerung zu diesem Auftrag die Erarbeitung und Verabschiedung einer neuen Verfassung (Sept./Okt. 2008).

Die neue Verfassung Ecuadors beruft sich auf die in der indigenen Kultur begründeten Leitbilder Pachamama (Mutter Erde) und Sumak kawsay (würdiges Leben). Die Wirtschaftsform soll sozial und solidarisch, sowie einer nachhaltigen Entwicklung verpflichtet sein. Soziale Grundrechte auf Ernährung, Gesundheit und Bildung sowie die staatliche Souveränität über „strategische Ressourcen“ wurden festgeschrieben. Neben der traditionellen Gewaltenteilung sieht die Verfassung Bürgerkommitees als "Vierte Gewalt" im Staate vor. Die Natur wurde als eigenes Rechtssubjekt definiert, indigene Kulturen erhielten größere Anerkennung und Schutz und das Prinzip der Geschlechtergerechtigkeit wurde erweitert.

Zu einigen damit verbundenen aktuellen Problemstellungen äußerte sich am 22.3.2010 die Wirtschaftswissenschaftlerin Tania Narvaez Ruíz. Sie war stellvertretende Abgeordnete der verfassungsgebenden Versammlung (Bereich Gesetzgebung und Steuern), Beraterin des Ministeriums für politische Zusammenarbeit und des Bezirks Pichincha, politische Vorsitzende des Bezirks Quito-Pichincha. Derzeit berät sie das Parlament. Tania Narvaez ist seit drei Jahren im Linksbündnis aktiv, das die Regierung von Ecuador stellt.

Frage: Die regierende Linkspartei hier nennt sich 'Alianza País' (Allianz des Landes). Es scheint aber weniger eine politische Partei zu sein, mehr ein Bündnis aus Parteien und Gruppen, die ein Ziel eint. Wie würden Sie die Alianza País beschreiben?

Tania Narvaez: Es handelt sich hier um ein Bündnis von Personen und sozialen Gruppen, die an einen Prozess glauben, der die traditionellen Parteistrukturen bereits zerbrochen hat. Wir hatten anfangs unterschiedliche Bezeichnungen, bis wir uns für den jetzigen Namen entschlossen haben. Es handelt sich um eine Allianz aus verschiedenen Parteien und sozialen Vereinigungen.

Frage: Die politischen Veränderungen Ecuadors werden im Begriff 'Bürgerrevolution' zusammengefasst. Was steht dahinter, was ist charakteristisch daran und was wird angestrebt?

Tania Narvaez: Mit diesem Begriff verbinden wir einen friedlichen Wechsel hin zur sozialen Gerechtigkeit unter besonderer Beachtung der verwundbarsten sozialen Bereiche, aber ohne die Aufmerksamkeit auf alle Bürger und Bürgerinnen zu vernachlässigen. Die wesentlichen Grundzüge waren und sind die folgenden:

  • Politische Revolution: Die Schaffung einer neuen Verfassung unter Beteiligung aller Bürger und Bürgerinnen, die Rettung und Wiedergewinnung der Institutionen des Staates auf allen Ebenen und die Rechenschaftslegung der Regierenden
  • Ökonomische Revolution: Das Ende der Privatisierung und des Outsourcings staatlichen und kommunalen Eigentums, die Verringerung der Arbeitslosigkeit durch Hilfen für Handwerker sowie Klein- und Kleinstunternehmen, um damit die Produktion zu erhöhen, die Arbeitsplätze schaffen kann.
  • Soziale Revolution: Wir wollen für alle Menschen Chancengleichheit, garantierten Zugang zu Gesundheit und Bildung, aber auch zu würdigen Löhnen und Wohnungen. Deshalb wurde in der neuen Verfassung auch das Recht auf ein "würdiges Leben" festgeschrieben, auf Spanisch und auf Kichwa (sumak kawsay), der Sprache eines der indigenen Völker dieses Landes.
  • Revolution für die Souveränität: Wir wollen und wir müssen den Reichtum dieses Landes an natürlichen Ressourcen wiedergewinnen, aber auch die Souveränität des Landes an sich. Wir haben die US-Militärbasis Manta wieder in Besitz genommen, die von den Vorgängerregierungen den USA als Militärstützpunkt übergeben wurde. Wir wollen die Einheit Lateinamerikas stärken.
  • Ethische Revolution: Der unerbittliche Kampf gegen die Korruption, ein großes Problem in diesem Land, wie in Lateinamerika insgesamt.

Präsident Rafael Correa steht an der Spitze dieses Prozesses mit dem Ziel, erstmals ein würdiges und souveränes Land zu sein und nicht mehr nur ein Hinterhof der dominierenden Mächte  IWF, Weltbank und USA.

Frage: Wodurch unterscheidet sich der Prozess beispielsweise von denen in Bolivien oder Venezuela?

Tania Narvaez: Jedes Land hat seine Eigenarten, individuelle Wesenszüge und Regierungsformen. Diese drei Länder eint aber das Ziel, endlich das neoliberale Joch abwerfen, um Selbstbestimmung, Chancengleichheit und Wohlstand für ihre Menschen zu erreichen.

Frage: Wie ist die Beziehung von Ecuador zu Bolivien, Venezuela oder gar Kuba?
 
Tania Narvaez: Wir sind Geschwister, vereint durch unsere gemeinsamen Nöte, Prinzipien und Ziele.

Frage: In Venezuela und Bolivien gibt es starke Spannungen zwischen der Linksregierung und den privaten Medien. Wie ist die Situation in Ecuador?

Tania Narvaez: Die Massenmedien gehören zu wirtschaftlichen Machtblöcken, die dieses Land immer bestimmt haben. Diese sehen sich als natürliche Verbündete der Rechtsparteien, die  Ecuador über Jahrzehnte regierten. Vor allem zwei Fernsehkanäle betreiben Fundamentalopposition: Teleamazonas und Ecuavisa; sie gehören je einer Familie von ecuadorianischen Großbankiers. Es wird keine Möglichkeit ausgelassen, aufwiegelnd gegen die Regierung oder auch gegen der Regierung nahe stehende Politiker oder Abgeordnete zu hetzen. Das betrifft auch die beiden Zeitungen, die diesen beiden Bankiersfamilien gehören, El Comercio und Hoy, die sich durch eine besonders aggressive Art der Meinungsmache auszeichnen. Interessanterweise unterstützen die lokalen Medien eher die Regierung; sie sind nicht Teil dieser Geldmafia.

Frage: Könnten Sie uns Beispiele für diese Stimmungsmache geben?

Tania Narvaez: Von Teleamazonas sind wir es ja gewohnt, dass der nur der extremen Rechten eine Plattform bietet und schlecht über die Regierung redet, einschließlich offener Lügen, Behauptungen und Halbwahrheiten. Im Mai 2009 lancierte Teleamazonas die Nachricht, dass bei der Suche nach Erdgas, die gemeinsam mit dem venezolanischen Konzern PdVSA durchgeführt wird, die Fische vertrieben würden und die Regierung 6 Monate lang den Fischfang verbieten wolle. Die Fischer der Gegend fürchteten um ihre Lebensgrundlage, es gab Unruhen, die Gasförderanlagen wurden besetzt, teilweise zerstört, Arbeiter bedroht und auch misshandelt. Alles basierte auf einer Lüge. Ein anderes Beispiel ist ein Bericht, der am Tag vor der Abstimmung über die Verfassung veröffentlicht wurde, nach dem die Regierung im ganzen Land geheime Computerzentren eingerichtet hätte, um den Ausgang der Abstimmung zu fälschen. Kritik an dieser Art von Lügen und Stimmungsmache wird dann als Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit bezeichnet.

Frage: Vor einigen Monaten warnte Präsident Correa vor der Gefahr eines Staatsstreiches. Gibt es diese Gefahr?
 
Tania Narvaez: Ja, es gibt diese Gefahr, aber sie wurde eingedämmt. Es ist Tradition, dass die Rechte versucht, die Armee zu beeinflussen und zu spalten. Aber sie hat es nicht geschafft. Die Soldaten haben die Unterstützung vom Präsidenten und wissen das auch. Die gestreuten Gerüchte konnten widerlegt werden.

Frage: Sieht Ecuador eine Gefahr in den geplanten neuen Militärstützpunkten der USA in Kolumbien? Glaubt man, dass diese sich nur gegen den Drogenhandel richten?

Tania Narvaez: Die USA wollen den Drogenhandel gar nicht unterbinden, da dieses Geschäft zu lukrativ ist. Deshalb hat man auch keine radikalen Maßnahmen ergriffen. Vielmehr dient der angebliche Kampf gegen die Drogen nur dazu, den Preis zu erhöhen. Die Militärbasen in Kolumbien verletzen die Souveränität Lateinamerikas, da sie die geopolitische Kontrolle dieser Region ermöglichen. Dies ist natürlich ein Versuch der USA, die aufkommenden Linksregierungen der Region zu kontrollieren, die die traditionelle Hegemonie bedrohen.

Frage: Man liest über Auseinandersetzungen zwischen der Zentralregierung und indigenen Organisationen. Was steckt dahinter? Sind die Indigenen gegen die Linksregierung?

Tania Narvaez: Eine große Anzahl ethnischer Gruppen unterstützt die Politik der Regierung. Es gibt aber Vertreter indigener Gruppen, oder Personen, die sich für Indigene halten, die gegen uns sind. Teilweise von Vereinigungen, die es gar nicht mehr gibt. In der neuen Verfassung wird die Urbevölkerung anerkannt, und die Regierung hat sich verpflichtet, diese zu unterstützen und zu stärken, aber immer aus einer Sicht des Zusammenhalts des Landes ohne separatistische Bestrebungen. Die Regierung versucht, die dringendsten Probleme dieser Menschen zu lösen, wie Trinkwasser, Kanalisation, Strom, Straßenanbindung und ein neues Erziehungssystem – Notwendigkeiten, die von den Vorgängerregierungen vernachlässigt oder gar nicht angegangen wurden.

Frage: Was sind die aktuellen Konfliktpunkte? Gibt es Möglichkeiten der Versöhnung, oder ist ein Konflikt unausweichlich?

Tania Narvaez: Die neue Verfassung gibt die Antwort und bietet die Lösung für alle diese Konflikte. Die Streitfragen betreffen vor allem Gebiets- und Wasseransprüche. Die Regierung stimmt mit den Vorschlägen der Indigenen überein. Aber die Regierung stimmt nicht damit überein, dass ausschließlich die Spitzenvertreter der indigenen Vereinigungen hierüber befinden. Es sind also eher Konflikte wegen Machtverteilungen, weniger solche inhaltlicher Art.

Frage: Ecuador hat nicht einmal mehr eine eigene Währung,  sondern den US-Dollar. Vor allem die ALBA-Staaten  drängen zu einer verstärkten lateinamerikanischen Integration. Historisch gesehen waren die USA dominierender Handelspartner Ecuadors, der Handel mit Lateinamerika war eher vernachlässigbar. Was ist die Perspektive?

Tania Narvaez: Im Jahr 2000 wurde der Dollar als Währung eingeführt, und zwar aufgrund der verheerenden Wirtschafts- und Währungspolitik durch die Rechtsregierungen und des Ausverkaufs des Landes an die Banken. In dieser Zeit schien die Dollarisierung der einzige Ausweg zu sein, nachdem unsere eigene Währung, der Sucre, wertlos geworden war. Der Vorschlag einer gemeinsamen Währung ist in Planung, gemeinsam mit der lateinamerikanischen Integration. Mit der neu gegründeten Bank des Südens (Banco del Sur) soll dieser Prozess der wirtschaftlichen Integration auf den Weg gebracht werden. Alles hängt vom politischen Willen der Länder unseres Kontinents ab. Wir sehen viele Fortschritte in dieser Beziehung, und die Bildung der lateinamerikanischen Staatengemeinschaft UNASUR ist ein Beispiel hierfür.

Frage: Zur Zeit versucht die Alianza País sogenannte 'Komitees der Bürgerrevolution' zu gründen. Was sind diese und wofür dienen sie?

Tania Narvaez:  Diese Bürgerkomitees sollen den Prozess der Bürgerrevolution unterstützen und den Aktivisten die Möglichkeit geben, als Basis der Bewegung Einfluss zu nehmen. Sie dienen der politischen Bewusstseinsbildung unserer Unterstützer und ihrer Vernetzung. Es handelt sich um einen laufenden politischen Vorgang, der langsam, aber sicher Formen annimmt.

Das Interview führten Albert Koestler und Maria Elisa Montesdeoca am 22.3.2010 in Guayaquil (Ecuador). Redigierung: Ludovico;

Farkha Festival Komitee ruft zu Spenden für die Solidaritätsarbeit in Gaza auf

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zum Text hier
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