12.09.2012: Zur Lage vor der großen Absatzkrise der europäischen Automobilindustrie sprach die UZ mit Achim Bigus, IG Metall-Vertrauensmann bei Volkswagen Osnabrück.
UZ: Jeder vierte Arbeitsplatz in Europa hängt von der Autoindustrie ab. Nun brechen die Absätze ein. Mit welchen Folgen?
Achim Bigus: Zunächst einmal wird der beginnende Absatzeinbruch in der Automobilindustrie massiv Arbeitsplätze in der Branche und wahrscheinlich auch ganze Automobilstandorte in Deutschland gefährden. Beim Kriseneinbruch 2008 mussten wir ja schon erleben, dass zwar große Teile der Stammbelegschaften in den großen Konzernbetrieben ihre Arbeitsplätze behalten konnten, dass aber mit Ausbruch der Krise vor allem Leiharbeiter und befristet Beschäftigte auf die Straße geworfen wurden. Karmann ging in die Insolvenz, auch andere Zulieferer waren hart betroffen. Bei neuen Absatzeinbrüchen könnte sich diese Entwicklung wiederholen und verstärken, zumal nicht mehr einfach mit kurzfristigen Konjunkturspritzen wie der Abwrackprämie gegengesteuert werden könnte.
Und auch die Stammbelegschaften zahlten einen hohen Preis für das sogenannte „Jobwunder“: extreme Unterordnung ihrer Lebenszeiten unter die betrieblichen Bedürfnisse und Intensivierung ihrer Arbeit. Eine neue Runde der Arbeitsplatzvernichtung dürfte wieder begleitet sein von neuen Angriffen der Konzernherren auf Löhne, Arbeitszeiten und soziale Standards unter der Losung der „Standortsicherung durch Wettbewerbsfähigkeit“. Dies trifft die Beschäftigten auch in Konzernen wie Volkswagen, die bisher als Krisengewinner von den Absatzeinbrüchen noch weniger betroffen sind.
UZ: Welche Maßnahmen sind erforderlich, um die Arbeitsplätze in der Autoindustrie zu erhalten?
Achim Bigus: Die Vermeidung von Massenentlassungen bei vielen Stammbeschäftigten in den Jahren ab 2008 war nur möglich durch massive Verkürzungen der Arbeitszeit in Form von Kurzarbeit und Abbau von Arbeitszeitkonten. Diese Formen der Arbeitszeitverkürzung wurden weitgehend von den Beschäftigten selbst bezahlt. Bei einem erneuten Absatzeinbruch stellt sich wieder die Frage, ob ganze Menschen oder Arbeitsstunden „entlassen“ werden, ob also die weniger werdende Arbeit auf alle Beschäftigten verteilt werden kann. Ein solidarischer Abbau vorhandener Überkapazitäten in der Branche ohne Entlassungen würde eine massive Verkürzung der Arbeitszeiten erfordern, vergleichbar mit der Vier- Tage-Woche bei Volkswagen 1994. Die zweite Frage wäre dann wieder, wer das bezahlt: die Beschäftigten selbst oder die Konzernherren als Verursacher der Krise. Und als „Insellösung“ bei einem Konzern ist dies auf Dauer nicht zu halten – auch das zeigt das Beispiel Volkswagen.
UZ: Arbeitszeitverkürzung: Ist das tatsächlich ohne Lohneinbußen zu machen?
Achim Bigus: Rein volkswirtschaftlich betrachtet: ja. Wir haben gerade in der Autoindustrie bei jedem Modellwechsel erhebliche Steigerungen der Produktivität. Und wir haben in der Gesellschaft auch in der Krise einen weiter anwachsenden Reichtum. So ist in Deutschland in den Jahren von 2008 bis 2010 sowohl die Zahl der Millionäre gestiegen als auch ihr Vermögen. Die Nutzung dieser Zuwächse für eine solidarische Krisenbewältigung würde allerdings eine erhebliche Umverteilung von oben nach unten erfordern, und das wird wiederum nicht ohne massive Mobilisierung der Unteren in dieser Gesellschaft zu erreichen sein. Davon aber ist bisher nicht viel zu sehen und zu spüren.
UZ: Was heißt Konversion der Autoindustrie? Muss es zur großen Abkehr vom Individualverkehr kommen?
Achim Bigus: „Konversion“ ist ein Begriff aus der Diskussion um Abrüstung und meint eigentlich den Wechsel von militärischer zu ziviler Produktion und Beschäftigung. Ich möchte Autos nicht mit Waffen gleichsetzen, auch wenn es sicher Fahrer gibt, deren Nutzung ihrer Fahrzeuge davon nicht weit entfernt ist. Allerdings stellt sich auch bei einer Reduzierung der Autoproduktion die Frage alternativer Beschäftigung.
Der Individualverkehr mit Pkw ist sicherlich in manchen Regionen, z. B. bei dünner Besiedelung, nicht zu ersetzen. Allerdings ist die Form von Mobilität, die in den industriell entwickelten Staaten des Nordens und Westens durchgesetzt wurde, mit dem Individualverkehr auch in Ballungszentren als Hauptform des Personenverkehrs Teil eines Entwicklungsmodells, das aufgrund seines Ressourcenverbrauchs und seiner Emissionen kein langfristiges Modell für den ganzen Planeten sein kann. Davon wegzukommen liegt also auch im Interesse der lohnabhängigen Klasse als Ganzes.
Für die vielen Beschäftigten in der Automobilindustrie stellt sich aber schon aus ökonomischen Gründen, auch ohne Umbau des Verkehrssystems, die Frage: Was wird aus unseren Arbeitsplätzen? Diese Frage würde durch den weiteren Wegfall von Arbeitsplätzen in der Autoindustrie als Folge einer Reduzierung des Individualverkehrs mit Pkw noch verschärft. Der Auf- und Ausbau von Produktion für z. B. Busse und Bahnen als andere Verkehrsträger könnte diesen Arbeitsplatzabbau nur zu einem Teil kompensieren. Wenn das Interesse der gesamten lohnabhängigen Klasse an einem aus Umwelt- und Klimagründen erforderlichen Umbau des Verkehrssystems und der Autoindustrie und das Interesse der Autoarbeiter am Erhalt ihrer Arbeitsplätze also nicht gegeneinander gestellt werden sollen, dann setzt dies die Frage der Arbeitszeiten noch dringlicher auf die Tagesordnung, als die ökonomische Krisenentwicklung allein dies schon tut.
UZ: Welche Haltung nimmt die Gewerkschaftsführung ein?
Achim Bigus: „Die“ Gewerkschaftsführung ist ein weites Feld und differenziert zu betrachten– da gibt es solche und solche Positionen. Generell muss man für die Führung der IG Metall aber eine starke Orientierung auf die Wettbewerbs- und Exportstärke der deutschen Autoindustrie feststellen. Diese „Standort“- Orientierung wird von den Betriebsräten und Gesamtbetriebsräten auf die Ebene der einzelnen Konzerne und Standorte heruntergebrochen, wo sie gewählt worden sind. So gerät die Hoffnung auf Beschäftigungssicherung bei Volkswagen durch Wettbewerbsstärke des Konzerns in Konkurrenz zu der gleichen Hoffnung z. B. bei Opel, die Ziele der IG Metall auf Betriebs- und Konzernebene durchkreuzen sich gegenseitig. Dies spiegelt zwar nur die reale objektive Konkurrenz der Beschäftigten untereinander. Aufgabe der Gewerkschaft wäre es aber gerade, dem entgegenzuwirken. Dazu fehlt eine übergreifende gemeinsame Perspektive für einen solidarischen Abbau der Überkapazitäten ohne Entlassungen und Standortschliessungen, z.B. durch kürzere Arbeitszeiten.
UZ: Ist den Beschäftigten klar, in welcher Lage sie sind? Sind sie bereit und in der Lage, gegenüber dem Kapital die skizzierte Politik durchzusetzen?
Achim Bigus: Nein. Eine Untersuchung von Sozialwissenschaftlern der Universität Jena beschreibt die Haltung vieler Stammbeschäftigter als „exklusive Solidarität“: Sie sind solidarisch innerhalb ihrer Belegschaft, aber nicht betriebs- und standortübergreifend oder mit den vom Arbeitsmarkt mehr oder weniger dauerhaft Ausgegrenzten. Es gibt eine Belegschafts-, aber keine Klassensolidarität. Spontan können die Beschäftigten auch gar nicht anders, als in der Standortlogik zu verbleiben. Es wäre Aufgabe der Gewerkschaften und der politischen Arbeiterbewegung, über den Standort hinaus Perspektiven zu entwickeln und zu vermitteln. Doch Gewerkschaftsführung und Sozialdemokratie wollen dies nicht, und die Kräfte links davon sind dafür zu schwach. Veränderbar ist dies nur durch die Stärkung kapitalismuskritischer und antikapitalistischer Kräfte an der betrieblichen Basis der Gewerkschaften.
Die Fragen stellte Adi Reiher (Vorabdruck aus der UZ vom 14.09.12)