Sabine Leidig war als Wahlbeobachterin der Kommunalwahl in der Türkei.
kommunisten.de sprach mit Sabine Leidig.
Frage: In der Türkei fanden am 31.03.2019 die Kommunalwahlen statt. Du warst als Wahlbeobachterin vor Ort.
Sabine Leidig: Ich war eine der etwa 85 Freund*innen, die sich auf Einladung der HDP auf den Weg gemacht hatten, etlichen wurde die Einreise verweigert, einige wurden wohl vorübergehend festgesetzt, angekommen sind 72.
Die größte Gruppe war eine Delegation der Gewerkschaft Cobas aus Italien. Aus Spanien und aus Frankreich einige, aus Norwegen ein sozialdemokratischer Abgeordneter mit Begleitung und aus Deutschland waren wir zehn – einige von der Grünen Jugend und eine MdB von Bündnis90/Die Grünen und außer mir noch drei Landtagsabgeordnete der LINKEN. Die Landtagsabgeordneten Elisabeth Kula und Heide Scheuch-Paschkewitz aus Hessen wurden beim Umsteigen am Flughafen Izmir von der Polizei festgehalten und konnten erst auf Intervention der Fluggesellschaft weiterreisen.
Frage: Wo warst Du im Einsatz?
Sabine Leidig: Wir sind zunächst alle nach Diyarbakir gereist. Dort versammelten wir uns am Samstag vor der Wahl in der Parteizentrale der HDP. Ein wahrer "Taubenschlag", in dem junge und alte Aktivist*innen ein und aus gehen, beim Tee Pläne schmieden, und solidarische Unterstützung für drei hungerstreikende Abgeordnete organisieren, die im selben Haus gegen die Isolationshaft von Abdullah Öcalan und anderen protestieren. Das mehrstöckige Haus mitten im Wohngebiet wird von Polizeispitzeln abgehört und beobachtet; vor der Tür sind ein Panzerwagen und ein Wasserwerfer postiert.
Bevor die Gruppen und Teams eingeteilt wurden hat uns die Vorsitzende der Frauenorganisation begrüßt und über die politische Lage informiert.
Ich war zusammen mit Hakan Tas (MdL Berlin) in Batman unterwegs und in Hasankeyf (*), begleitet vom Bürgermeisterkandidaten für Batman (und jetzigen Bürgermeister!) Demir, ein Augenarzt, der von HDP-Anhänger*innen in basisdemokratischer Abstimmung auf Platz zwei der Männerliste gewählt worden war.
Mit dabei war Sabir Özdemir, der eigentliche Favorit, der 2014 mit großem Erfolg für 5 Jahre zum Bürgermeister gewählt wurde; dann eineinhalb Jahre später von Erdogan abgesetzt; dann noch ein Jahr mit der Co-Bürgermeisterin zusammen weiter machte, den Zugang zum Rathaus erkämpfte, Bürgerversammlungen abhielt, Probleme löste, ... . Bis die Repression immer stärker wurde. Die Co-Bürgermeisterin, eine alleinerziehende Mutter mit Kleinkind, konnte den massiven Einschüchterungen nicht mehr standhalten und zog sich zurück. Sabir wurde kurz vor dieser Kommunalwahl mit Mehrfachanklagen vor Gericht gestellt und so als Kandidat kaltgestellt. Vor den Wahllokalen wurde er sofort erkannt, begrüßt, umringt – vor allem in den ärmeren Stadtteilen.
Frage: Wie ist Dein Eindruck vom Ablauf der Wahl? Manipuliert? Wähler*innen behindert oder eingeschüchtert?
Sabine Leidig: Wenn 10.000 Funktionär*innen einer Partei (der HDP) willkürlich ins Gefängnis geworfen werden, wenn demokratisch gewählte Bürgermeister*innen abgesetzt, verhaftet und vertrieben werden, wenn 100.000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst entlassen oder versetzt werden, kann die Einschüchterung kaum größer sein, überhaupt für die HDP zu kandidieren!
Erdogan hat im Wahlkampf darüber hinaus alle Oppositionskräfte als Terroristen bezeichnet - und damit massiv bedroht. Die kurdische Region war unter Ausnahmezustand gesetzt: Versammlungen, Kundgebungen waren verboten oder wurden aufgelöst, der Wahlkampf war für die HDP auf Socialmedia und Hausbesuche begrenzt, während die AKP alle großen Medien zur Verfügung hat – das ist alles andere als fair.
Schließlich hat Erdogan offen damit gedroht, dass Kommunen, deren Bürgermeister*innen ihm nicht genehm sind, der Geldhahn zugedreht wird: das Gemeindefinanzierungsgesetz wurde geändert, so dass die finanzielle Autonomie (über Steuerzuweisung pro Einwohner) praktisch abgeschafft ist. Ausgaben und Stellenbesetzung müssen von der Zentralregierung genehmigt werden. Das ist natürlich auch Manipulation der Wähler*innen.
Am Wahltag selber sah ich – im Unterschied zur Nationalwahl kaum martialische Präsenz von Militär und Polizei vor den Wahllokalen.
Frage: Wurdet ihr als Wahlbeobachter*innen behindert?
Sabine Leidig: Wir konnten dreimal in die Schulen hinein und direkt an der Urne mit den Wahlhelfer*innen sprechen. Mehrfach wurde uns von Polizisten der Zugang zum Gebäude untersagt. Das wurde so ähnlich auch von den anderen berichtet. Allerdings hatten wir ja keinen offiziell anerkannten Status.
Auffällig war, dass wir drei hessischen Genoss*innen in Diyarbakir von Spitzeln "begleitet" wurden, die wohl den Auftrag hatten uns auszufragen (auf Deutsch) – aber als ehrbare Frauen lassen wir uns natürlich nicht von wildfremden Männern anquatschen. (lacht)
Frage: Wie bewertest Du das Wahlergebnis
Sabine Leidig: Zuallererst finde ich es wirklich enorm, dass die HDP so viele Rathäuser wieder gewonnen hat. Das zeigt eine sehr starke Verankerung in der Bevölkerung – die Partei ist im besten Sinne populär. Allerdings ist die Frage offen, wie unter den krass antidemokratischen Bedingungen der Kriminalisierung und Entmachtung gewählter Gremien, Politik für die Bevölkerung umgesetzt werden kann. Auf meine Frage dazu, meinte Demir, dass entscheidend die Beratung mit den Menschen in den Bürgerversammlungen sei. Dort werde man diskutieren, was unter den Bedingungen am wichtigsten ist und wie man handlungsfähig bleibt.
Sehr bemerkenswert finde ich, dass die HDP mit der (kurdenfeindlichen) CHP informell den Verzicht auf konkurrierende Kandidaturen verabreden und das gegenüber ihren Anhänger*innen erfolgreich kommunizieren konnte. Ohne die Stimmen der HDP, hätte die CHP in einigen Städten im Westen sicher nicht die Mehrheit gewinnen können – vor allem nicht in Istanbul.
Nun braucht es Aufmerksamkeit, internationale Unterstützung und Druck auf die Bundesregierung, damit Erdogan nicht wieder zuschlagen kann. In der Partei Die LINKE gibt es Überlegungen, kommunale Kontakte zu intensivieren und eventuell auch eine Delegation in HDP-Rathäuser zu organisieren, um mehr Öffentlichkeit zu erreichen.
Frage: Und was sagst du zu den Hungerstreiks?
Sabine Leidig: Wir haben Leyla Güven zu Hause besucht, am 143. Tag ihres Hungerstreiks. Es hat mich sehr erschüttert, diese großartige Aktivistin für Frauenrechte und Demokratie so zu erleben. Und zu wissen, dass sich landesweit mittlerweile etwa 7.000 angeschlossen haben. Zentrale Forderung ist die Aufhebung der illegalen Isolationshaft von Abdullah Öcalan und anderen, denen seit Jahren jeglicher Kontakt zu Angehörigen oder Anwälten verwehrt wird. Und es geht darüber hinaus um das Recht auf rechtmäßige Behandlung für alle Kurd*innen und politischen Gefangenen. Der Hungerstreik ist ein Akt der Verzweiflung, weil so viele Bemühungen – auch gegenüber der Europäischen Union – keinen Erfolg hatten.
Ich halte diese Entscheidung für falsch, weil keine(r) von diesen Genoss*innen verzichtbar ist. Es sind auch keineswegs kollektive Beschlüsse oder die politische Linie der HDP. Aber selbstverständlich teile ich das Anliegen der Hungerstreikenden.
Und wir müssen immer wieder die unsägliche Kriminalisierung der PKK auch hier zu Lande thematisieren. Im Windschatten dieser "Dämonisierung" werden schlimmste Verstöße gegen Menschenrechte und Gesetze unter den Tisch gekehrt.
(*) zu Hasankeyf
Hier haben die Bewohner*innen – unterstützt von vielen Initiativen aus aller Welt – viele Jahre gegen ein monströses Staudammprojekt gekämpft: die Gemeinde Hasankeyf ist eine der ältesten noch bewohnten menschlichen Siedlungen der Welt, mit Höhlenhäusern, die vor 12.000 Jahren errichtet wurden. Dieses Kulturdenkmal wird – nach dem Willen der türkischen Regierung – demnächst in Wasser des Stausees versinken.
https://www.fr.de/politik/hasankeyf-uralte-kulturen-werden-ueberflutet-11792332.html
zur Person:
Sabine Leidig ist Mitglied der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag und Vorstandsmitglied der marxistischen linken.