09.09.2022: Von den 87 Schiffen, die die Ukraine verließen, waren nur zwei mit Lebensmitteln beladen ++ 43,5 Prozent der Ladungen wurden in Volkswirtschaften mit hohem Einkommen geliefert ++ Putin droht mit einer Revision der Vereinbarungen mit Erdogan.
"Ein Betrug an Russland und den armen Länder", donnerte Wladimir Putin am Mittwoch aus Wladiwostok über das Getreidegeschäft. Der russische Präsident spielt die nicht besonders glaubwürdige Rolle des Verteidigers der Armen und des Kämpfers gegen den Hunger in Afrika. Auf dem Wirtschaftsforum in der wichtigsten russischen Hafenstadt am Pazifik, nicht weit von Nordkorea und China entfernt, beschuldigte der Kreml-Chef die Europäische Union, ukrainisches Getreide, das durch die im Schwarzen Meer eröffneten Korridore exportiert wird, zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Von den 87 Schiffen, die mit Getreide aus der Ukraine beladen wurden, beförderten nur zwei Schiffe Getreide für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, d. h. 60.000 Tonnen von insgesamt etwa 2 Millionen Tonnen.
Der Westen macht Russlands Krieg für eine internationale Hungerkatastrophe verantwortlich. Bundesaußenministerin Baerbock (Grüne) warf Russland vor, die Blockade von Getreideexporten aus der Ukraine als Kriegswaffe einzusetzen.
"Russland führt diesen brutalen Krieg nicht nur mit Panzern, Raketen und Bomben. Russland führt diesen Krieg mit einer anderen furchtbaren und kräftigen Waffe: Hunger und Entbehrung. Mit der Blockade ukrainischer Häfen, der Zerstörung von Getreidesilos, Straßen, Schienen und Feldern hat Russland einen Kornkrieg begonnen, der eine weltweite Ernährungskrise auslöst." [1]
Nur eine Öffnung der ukrainischen Häfen könne eine weltweite Hungersnot vermeiden, verlautbarten Politiker*innen und Medien unisono. Dabei wurde der Anteil der Ukraine an der weltweiten Weizenproduktion maßlos übertrieben.
"Afrika ist Opfer des Krieges"
"Afrika ist Opfer des Krieges", sagten die beiden Schwergewichte der afrikanischen Politik, der Präsident des Senegal und der Afrikanischen Union, Macky Sall, und der Vorsitzende der Kommission der Afrikanischen Union, Moussa Faki Mahamat, bei ihrem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am 13. Juni in Sotschi.
Russland und die Ukraine produzieren zusammen ein Drittel der weltweiten Gerste und des Weizens, wovon ein Großteil an afrikanische Länder verkauft wird, die 40 Prozent ihres Bedarfs von dort importieren, in Ruanda, Tansania und Senegal sind es sogar über 60 Prozent, in Ägypten 80 Prozent und in Benin und Somalia 100 Prozent.
Mit dem Russischen Angriff auf die Ukraine wurden nicht nur die Getreideexporte der Ukraine blockiert, sondern auch die russischen Getreideexporte stark eingeschränkt. Zwar sind Lebensmittelexporte von den weitreichenden Sanktionen, die die Vereinigten Staaten und die Europäische Union gegen Russland verhängt haben, ausgenommen, aber die Komplikationen bei den Devisenzahlungen über das internationale Bankensystem und die Behinderungen Russlands im Seeverkehr durch die Sanktionen haben die russischen Weizenlieferungen stark reduziert.
Unterdessen führen die unglaubliche Trockenzeit, die steigenden Düngemittelpreise und die steigenden Transportpreise die afrikanischen Länder in eine neue Phase der Nahrungsmittelarmut. "Die hohen Kosten für eine gesunde Ernährung in Verbindung mit einem anhaltend hohen Maß an Armut und Einkommensungleichheit führen dazu, dass etwa 3 Milliarden Menschen in allen Regionen der Welt weiterhin nicht in der Lage sind, sich mit solchen Lebensmitteln zu versorgen", so die Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) in ihrem jüngsten Bericht zur Ernährungssicherheit. Nach Angaben des Welternährungsprogramms sind am Horn von Afrika mehr als 14 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht, in Westafrika sind es sogar 40 Millionen.
Die Afrikanische Entwicklungsbank veröffentlichte einen Bericht, in dem es heißt, dass die Blockade der Exporte aus der Ukraine zu einer "Verknappung von 30 Millionen Tonnen Lebensmitteln auf dem gesamten Kontinent und zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise um 40 Prozent beigetragen hat". In Nigeria zum Beispiel hat sie dazu beigetragen, dass die Preise für Grundnahrungsmittel wie Nudeln und Brot um bis zu 50 Prozent gestiegen sind. In Syrien, einem weiteren wichtigen Importeur von ukrainischem Weizen, hat sich der Brotpreis verdoppelt.
"Seien Sie sich bewusst, dass unsere Länder", auch wenn sie weit vom Konfliktherd entfernt sind, wirtschaftliche Opfer sind", sagte Macky Sall vor den Kameras zu Putin und fügte hinzu, dass es wichtig sei, zusammenzuarbeiten", damit die Sanktionen des Westens gegen Russland sich nicht mehr auf Nahrungsmittel und Düngemittel auswirken.
Statt Lebensmittel fast nur Rohstoffe in Volkswirtschaften mit hohem Einkommen
Aber seit Russland, die Ukraine, die Türkei und die Vereinten Nationen am 22. Juli vereinbart haben, die Blockade bestimmter ukrainischer Häfen aufzuheben, um Getreideexporte zu ermöglichen, sind es bisher fast nur Rohstoffe, die das Schwarze Meer verließen - für die Futtermittelproduktion und die chemische Industrie bestimmt. Dies ist Folge des strukturellen Problems der Verteilung von Nahrungsmitteln auf dem Planeten, in das alle reichen Länder, einschließlich Russland, unabhängig vom Krieg in der Ukraine verwickelt sind. Dazu kommt, dass ein großer Anteil der Getreideproduktion für die Tierfütterung für den Konsum in den reichen Ländern vergeudet wird. Darüber hinaus wird der Preis von Lebensmitteln durch Spekulation an den Finanzmärkten getrieben. Einer Studie zufolge sind allein in der ersten Märzwoche 2022 4,5 Milliarden Dollar in Fonds geflossen, die mit Agrarrohstoffen handeln.
"Hunger säen, Profite ernten""... Jede Krise in der Geschichte wurde von den Weizenmonopolen genutzt, um ihre Profite und ihre Kontrolle zu erhöhen. Lebensmittel wurden zu einer Ware, zu einem Finanzwert gemacht. … Darüber hinaus hat das globalisierte, industrialisierte Agrar- und Ernährungssystem selbst den Präzedenzfall für diese wiederholten Nahrungsmittel- und Hungerkrisen geschaffen, obwohl es immer wieder verkündet, dass es die beste Lösung für die globale Ernährungssicherheit sei. Eine Kombination aus historischen und aktuellen Bedingungen, die von der Agrarindustrie geschaffen wurden, hat ein starres, globalisiertes System geschaffen, das auf industrieller Landwirtschaft, Finanzialisierung und der Vorherrschaft von Konzernen basiert. Diese Einschränkungen in Kombination mit dem Versagen bei der Umgestaltung der Nahrungsmittelsysteme, der aktuellen Überspekulation und den Nachwirkungen der Pandemie treiben uns nun auf eine mögliche Hungersnot zu. |
Eine Sprecherin des mit dem Getreideabkommen in Istanbul errichteten Gemeinsamen Koordinierungszentrums, das seit dem 22. Juli die ukrainischen Weizenexporte überwacht, sagte, dass bis zum 8. September 43,5 Prozent der Ladungen in Volkswirtschaften mit hohem Einkommen geliefert worden sind. 27,9 Prozent seien in Volkswirtschaften mit niedrigem oder mittlerem Einkommen geliefert worden. Im Ländervergleich war die Türkei Hauptempfänger (21 Prozent).
Gegenüber Associated Press teilte das Gemeinsame Koordinierungszentrum mit, dass von den Ladungen der Schiffe, die die freigegebenen Häfen verließen, 47 Prozent nach Asien, davon 21 Prozent in die Türkei, 36 Prozent nach Europa und nur 17 Prozent nach Afrika verschifft wurden, davon der Löwenanteil von 10 Prozent nach Ägypten und kleinere Mengen in den Sudan, nach Kenia, Somalia und Dschibuti.
Nach Angaben der Vereinten Nationen sind bisher insgesamt 630.000 Tonnen Lebensmittel auf den Markt gelangt. In einigen Berichten werden 451.481 Tonnen Mais, 41.622 Tonnen Weizen und 6.000 Tonnen Sonnenblumenöl genannt.
Die UNO gehörte zu den Hauptabnehmern von Weizen für Nahrungsmittel und erreichte die von Putin angeführte Zahl von 60.000 Tonnen. Ein großer Teil davon, nämlich 23 000, befindet sich auf dem für Äthiopien und Somalia bestimmten Frachter "Brave Commander", der am 30. August im Hafen von Dschibuti angelegt hat. Nach Angaben des Welternährungsprogramms reicht die Ladung aus, um 1,5 Millionen Menschen einen Monat lang mit vollen Rationen zu versorgen.
Es gebe jedoch "beschämende Beispiele für Fehlverhalten", sagte Putin in Wladiwostok und bezog sich dabei auf die reicheren Länder, die "kein Getreide in die Entwicklungsländer weiterleiten". Daher sei die Überlegung einer "Beschränkung der Ausfuhr von Getreide und anderen Nahrungsmitteln" über das Schwarze Meer seiner Ansicht nach nicht abwegig. Im Gegenteil: "Ich werde mich in dieser Frage sicherlich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan beraten, schließlich haben wir den Mechanismus für den Export von ukrainischem Getreide entwickelt", so der russische Staatschef.
"Wohin geht es? Wir haben den begründeten Verdacht, dass dieses Getreide nicht den hungrigen Bedarf des globalen Südens decken wird, sondern stattdessen die Getreidespeicher der europäischen Länder füllen wird. Wir verstehen, dass die Ukraine für vom Westen gelieferte Waffen bezahlt."
Wassili Nebensja, Russlands Ständiger Vertreter vor dem UN-Sicherheitsrat
Allerdings ging mit Ausnahme von Ägypten der größte Teil der ukrainischen Exporte schon vor dem Krieg nicht nach Afrika. Kiews wichtigster Getreideimporteur war nach den Daten von Standard & Poor's 2021 Ägypten mit 3,62 Millionen Tonnen, gefolgt von Indonesien (3,22 Tonnen), Bangladesch (2,3), der Türkei (1,9) und an zehnter Stelle Äthiopien mit 0,68.
Mit der großen Schnelligkeit, die für die Kommunikation der Kiewer Regierung kennzeichnend ist, twitterte Zelensky schon am Mittwoch (7.9.) in Antwort auf Putin, dass sein Land "28.600 Tonnen Weizen in das vom Hunger geplagte Somalia" schicken werde, und fügte hinzu, dass "die Ukraine weiterhin die Welt mit ihrem Weizen rettet". Eine ebenso sinnlose Aussage wie die von Putin, die das andere Extrem darstellt.
Anmerkungen:
[1] Tagesschau, 19.05.2022: https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/baerbock-un-konferenz-ernaehrung-101.html