Literatur und Kunst

degenhardt schmuddelkinder cover26.05.2015: Bei den bevorstehenden bundesweiten Ostermärschen wird mit Sicherheit hier und dort auch das „alte“ Degenhardtsche Lied „Diesmal werd' ich nicht“ zur Begleitmusik gehören. Erstmals veröffentlicht vor fünfzig Jahren auf dem Albums „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ ist dieses Lied aktueller denn je. Neben diesem Lied gegen die Beteiligung an Kriegseinsätzen finden sich mit Wölfe mitten im Mai (einer eindringlichen Warnung vor faschistischen und reaktionären Gefahren) und dem unsterblichen Spiel nicht mit den Schmuddelkindern weitere Perlen des politischen Liedes auf diesem Album.

 

In seiner 1965 veröffentlichten zweiten „Platte“ (so der damalige Sprachgebrauch)  führte Degenhardt einen völlig neuen in Ton in die bundesdeutsche Musikszene ein. Allein die Einordnung in ein musikalisches Genre machte der Musikindustrie schon Schwierigkeiten. Den „Liedermacher“ gab es ja damals noch nicht. So firmierten die ersten beiden LPs Degenhardts  unter der sperrigen Rubrik „Chansons / Politisches Kabarett / Bänkellied.“ Degenhardt entwickelt einen neuen Liedtypus, indem er Elemente des französischen Chansons und der us-amerikanischen Folkmusik mit textlichen und musikalischen Versatzstücken aus deutschen Volksliedern und deutscher Volksliteratur verbindet.

Ausgangspunkt des Degenhardtschen Musikverständnisses bildet dabei die Tradition des französischen politischen Chanson, das in Frankreich seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts  „in Arbeitervierteln als Waffe des republikanischen Partisanenkampfes diente“ ( Axel Körner, Das Lied von einer anderen Welt, Frankfurt/Main 1997) und in der Zeit der Pariser Commune (1871) seine größte Wirkung entfaltete. Während der gesamten Zeit der Commune schmückten Lieder von Pottier („Die Internationale“) und anderen Chansonniers die Titelseiten der Tagespresse. Das Chanson diente dabei sowohl der Übermittlung von politischen Neuigkeiten als auch der Verbreitung von Solidarität und Widerstandswillen gegen den näher rückenden Feind.

Diese beiden inhaltlichen Bestandteile sind auch in den Liedern auf dem 1965 veröffentlichten Album Degenhardts deutlich spürbar: Die Lieder spiegeln unverkennbar die gesellschaftlichen Verhältnisse der BRD Mitte der 60er Jahre wider -  mit offenkundigen ersten Brüchen im sog. „Wirtschaftswunder-Land“. Bundeskanzler Erhard (CDU) setzte auf eine "formierte Gesellschaft", die die Autorität des Staates durch einen umfassenden Konsens aller „Sozialpartner“ stützen und durch die Einführung einer Notstandsgesetzgebung absichern sollte. Und mit der Gründung und Zulassung der NPD wird wieder eine legale faschistische Partei etabliert. Aber zur gesellschaftlichen Realität gehört auch: 1965 veröffentlichen kritische Intellektuelle ein Buch unter dem Titel "Plädoyer für eine neue Regierung", worauf hin Erhard  die Verfasser als "ganz kleine Pinscher" beschimpft. Im gleichen Jahr organisiert der SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund ) einen Kongress „Demokratie vor dem Notstand“ und es beginnt sich außerparlamentarischer Protest gegen die bundesdeutsche Unterstützung des US-Krieges gegen Vietnam zu formieren. Und ein Jahr später sollte die erste Wirtschaftskrise die BRD erschüttern und Erhards Propaganda einer „krisenfreien Marktwirtschaft" ad absurdum führen.

Seit 1960 fanden auch in der BRD alljährlich Ostermärsche gegen die weltweite atomare Bedrohung statt. In diesen – oft mehrtägigen – Friedens- und Protestmärschen war das gemeinsame Singen ein wichtiger Identifikations- und Solidaritätsfaktor und legte im Rückgriff auf progressives deutsches Liedgut und Lieder der us-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung den Grundstein für das, was man später als  „Protestlieder“ bezeichnen sollte. Im Frühjahr 1964 fand erstmalig auf der Burg Waldeck im Hunsrück ein Treffen von Musikern statt, die später den Begriff "Liedermacher" prägten sollten. Die Teilnehmer, darunter u.a. Reinhard Mey, Fasia Jansen, Dieter Süverkrüp und Franz-Josef Degenhardt setzten auf das engagierte und kritische Lied als Gegenpol zur verkitschten Volksmusik und zum damals gängigen Schlager.

Nebenbei bemerkt: Parallel zum „politischen Lied“ erhielt im Jahre 1965 auch die Popmusik mächtige neue Impulse, die die Musikszene nachhaltig verändern sollte. Die Rolling Stones veröffentlichten mit„Satisfaction“ ein Lied, das die damalige Beatmusik revolutionierte, Bob Dylan stöpselte auf der LP „Bringing It All Back Home“ seine Gitarre erstmals an den Strom an und trug damit zur Verbindung von politischer Folk- und Beatmusik bei und Otis Redding und Wilson Pickett etablierten die schwarze Soulmusic weltweit.

Der 1931 in Schwelm/Westfalen geborene Degenhardt, aus „einer militant katholischen und antifaschistischen Familie stammend“, war damals wissenschaftlicher Assistent für europäisches Recht an der Uni Saarbrücken und absolvierte parallel zur juristischen Karriere erste Auftritte als Sänger.

Der auf seiner zweiten LP enthaltene Titelsong Spiel nicht mit den Schmuddelkindern sollte zu einem der bekanntesten politischen Lieder der 60er Jahre werden. Das Lied erzählt die Geschichte eines Jungen aus "besserem" Hause, der sich aus der Oberstadt dorthin schleicht, „wo sie Sechsundsechzig spielten, Mädchen unter Röcke schielten. Wo man, wenn der Regen rauschte, Engelbert, dem Blöden, lauschte. Der auf einem Haarkamm biss, Rattenfängerlieder blies“ Die Schmuddelkinder sind eine Absage an den Manipulierungsversuch des "Wirtschaftswunders" und der Ideologie der Transformation der Klassengesellschaft in eine sogenannte Mittelstandsgesellschaft mit entsprechen Normen und Lebensgewohnheiten. „Aus Rache reich geworden“ erleidet der Held in der Ballade ein schauriges Ende. Dreiunddreißig Jahre später (1998) veröffentlicht die deutsche Hip-Hop-Band Anarchist Academy diesen Song erneut in einer aktuellen Fassung. Degenhardt fand das passend: „Ja – das ist ein Schmuddelkinderlied von heute – so wie ich es auch schreiben würde, wäre ich 17 oder 25 und rappte durch Tag und Nacht in diesen lausigen Zeiten.“

Das Lied Wölfe mitten im Mai erzählt eine Geschichte, wie Wölfe langsam die Herrschaft über ein Dorf erringen. Die Metapher spielt unzweideutig auf die latente faschistische Gefahr in der BRD an. „August der Schäfer hat Wölfe gehört / Wölfe mitten im Mai…“ – doch statt den Anfängen zu wehren, wiegt sich das Dorf  in trügerischer Sicherheit – bis es zu spät ist. 1965 galt dieses Lied der Gefahr erneuter faschistischer Bedrohung, war doch die NPD gerade in sieben westdeutsche Landtage eingezogen. Darüber hinaus versuchte die damalige Bundesregierung alles, die Verjährungsfrist von zwanzig Jahren auch für Nazi- und Kriegsverbrecher anzuwenden, was durch weltweiten Protest verhindert werden konnte.


Im Lied Diesmal werd' ich nicht erklärt ein Soldat, dass er nicht mehr länger auf Kriegsfahrt ausgehen will. "Diesmal werd' ich nicht mit ihnen ziehn" steht für die verantwortungsbewusste individuelle Haltung, an Verbrechen und Krieg nicht teilzunehmen. Ein ähnlich entschlossener Ton prägt "Komm sing mir noch ein schönes Lied", in dem sich der Sänger angesichts der Kriegsverbrechen in Vietnam weigert, ein schönes Lied zu singen. Das Lied Hochzeit erzählt eine Liebesgeschichte inmitten von düsteren Metaphern, die auf die Gefahr eines Atomkriegs anspielen. In einer der Strophen parodiert Degenhardt die berühmten Zeilen von Walther von der Vogelweide: Unter der linden, bei der heide / wo unser beider bette was...


Eine köstliche Milieustudie des Kleinbürgertums der 60er Jahre bildet das Lied Deutscher Sonntag ("Sonntags in der kleinen Stadt"), in der sonntagstypische Szenen in einer Kleinstadt abgebildet werden, denen sich der Sänger auf sarkastische Weise zu verweigern sucht.

Anders als bei den damaligen Protest-Folk-Songs aus den USA (Bob Dylan, Pete Seeger, Phil Ochs, Joan Baez) dominieren in Degenhardts Liedern die Zwischentöne, bildet er - wie mit einem Seziermesser - die bürgerlichen Dressurakte in der bundesdeutschen Gesellschaft ab (so wie dies für Frankreich George Brassens getan hatte). "Der philantrope Rechtsgelehrte (...) reitet auch auf seiner neuen LP keine Attacken. Während die mächtige Volksmusikwelle in den Vereinigten Staaten erfüllt ist von dem herrischen Ruf nach Freiheit, träumt Degenhardt, und nicht selten träumt er, von der Großen Anarchie," so urteilte seinerzeit der angesehene Musikkritiker Werner Burkhardt.

Drei Jahre später – 1968 auf den Essener Songtagen – sang Degenhardt dann sein Lied „Zwischentöne sind bloß Krampf im Klassenkampf“. Und neben immer eindeutigeren politischen Aussagen in seinen Liedern ließ er sich als Anwalt in Hamburg nieder und verteidigte vorrangig Angeklagte der Ausserparlamentarischen Opposition (APO). Als SPD-Mitglied (seit 1961) trat Degenhardt nach der Neukonstituierung der DKP (1968) für eine Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Kommunisten ein. 1971 wurde er aus der SPD ausgeschlossen, nachdem er im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf die DKP unterstützt hatte; 1978 wurde Degenhardt deren Mitglied. Der bis zu seinem Tod in Quickborn (Kreis Pinneberg) lebende Künstler hat dann später in seinen Konzerten „Zwischentöne sind bloß Krampf...“ nicht mehr gesungen, ebenso wie Rio Reiser auf „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ seiner früheren Band Ton Steine Scherben verzichtete, um einen anderen im besten Sinne linksradikalen Musiker zu nennen. Nicht, dass beide Parolen falsch wären – sie stimmen allerdings nur auf einer „Metaebene“ und Bewusstseinsveränderung beginnt wahrscheinlich doch auf anderen Ebenen. So hat Franz Josef Degenhardt in seinen Konzerten  auch immer wieder Lieder seiner Schmuddelkinder-LP eingestreut. Auf den diesjährigen Ostermärschen wäre es an der Zeit, sein Lied „Diesmal werd' ich nicht“ besonders kräftig anzustimmen.

Diesmal werd ich nicht mit ihnen ziehn,
werd nicht mal winken, nicht an meinem Hoftor stehn,
wenn sie die schwarzen Boote strandwärts tragen,
verschwitzt, im Gleichschritt, den die Trommeln schlagen.
Wenn man im Chor die Killerhymne singt,
der Priester seinen nassen Besen schwingt,
diesmal werd ich nicht.“

Text: Günther Stamer

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Farkha-Festival 2024 abgesagt.
Wegen Völkermord in Gaza und Staatsterror und Siedlergewalt im Westjordanland.
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