"Wer nicht zu den Verlierern zählen will, sollte eben zu den Gewinnern wechseln."
Diesen zynischen Satz formulierte Martin Lück, deutscher Chefstratege des weltweit größten Vermögensverwalters BlackRock, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9.12.19 angesichts der Debatte um die sich vergrößernde Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland.
Eine Buchbesprechung von Günther Stamer.
Es ist nicht zu übersehen, dass in der öffentlichen Wahrnehmung das Thema der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung an Bedeutung gewinnt. So gingen in den vergangenen Wochen z.B. folgende Meldungen durch die Presse:
- Die Zahl der Wohnungslosen in Kiel hat sich binnen zehn Jahren mehr als vervierfacht: von 277 Menschen im Jahr 2009 auf 1178 im Jahr 2019. (Kieler Nachrichten 29.2.20)
- Deutschland liegt mit der Höhe des Mindestlohns von 9.35 Euro im EU-Vergleich auf Platz 16 der 19 Länder, für die Daten zur Verfügung stehen. Nur Estland, Tschechien und Spanien schneiden noch schlechter ab. Die EU-Kommission sieht den Mindestlohn in Deutschland sogar auf armutsgefährdendem Niveau.
- Insgesamt haben seit Anfang 2005 etwa 20 Millionen Personen zumindest eine Zeit lang die Grundsicherungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit (Hartz-IV) bezogen. Dass die Gesamtzahl der Transferleistungsempfänger/innen zuletzt ebenso abgenommen hat wie die relative Höhe der Zahlbeträge, liegt nicht etwa an einem Rückgang der materiellen Bedürftigkeit von Leistungsberechtigten, sondern primär an den durch die Hartz-Reformen drastisch verschärften Anspruchsvoraussetzungen, Kontrollmechanismen und Repressalien.
"Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der arme sagte bleich, wär‘ ich nicht arm, wärst du nicht reich."
Bert Brecht
Kein Problem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wird gegenwärtig für dringlicher erachtet als die Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungs-instituts Civey im Auftrag des SPIEGEL verdeutlicht dies erneut: Drei von vier Befragten halten die materielle Ungleichheit in Deutschland für ungerecht. Nur 17 Prozent empfinden sie hingegen als gerecht (spiegel-online 5.3.20).
Diese Feststellung ist insofern bemerkenswert, als das Jahrzehntelang "Armut" in der Bundesrepublik ein Tabuthema war, das von den Massenmedien höchstens während der Vorweihnachtszeit aufgegriffen, dann oft mit einer karitativen Zielsetzung (Spendeneinwerbung) behandelt und anschließend für die nächsten zwölf Monate wieder "vergessen" oder verdrängt wurde.
Erst vor 26 Jahren, Ende Januar 1994, legten Paritätischer Wohlfahrtsverband und DGB ihren ersten Armutsbericht über das seit vier Jahren vereinte Deutschland vor und betraten damit Neuland indem sie das Thema "Armut" in einem reichen Land einer breiteren Öffentlichkeit faktenbasiert darlegten. [1]
Im Vorwort dieser Studie hieß es: "Armut ist stumm, tabuisiert und wehrlos. Der Bericht wirft Fragen auf, die für die soziale Zukunft unseres Landes von entscheidender Bedeutung sind. Vor allem aber zwingt er zur Auseinandersetzung darüber, was künftig nicht nur den Wirtschaftsstandort, sondern was vor allem den Lebensstandort Bundesrepublik ausmachen soll."
Eine in dem Bericht erhobene Forderung an die Bundesregierung lautete, sich dieses Themas anzunehmen. Seit 2001 hat die Regierung nun in eigener Regie fünf Armutsberichte vorgelegt, der aktuelle Bericht stammt vom April 2017. [2]
Butterwegge: Die zerrissene Republik
Für all jene, die neben einer aktuellen Bestandsaufnahme und einer kritischen Auseinandersetzung mit den derzeitigen gesellschaftlichen Spaltungen in unserer Gesellschaft sich darüber hinaus grundsätzlicher mit dieser Thematik auseinandersetzen möchten, sei das aktuelle Buch des "Armutsforschers" Christoph Butterwegge empfohlen: "Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland."
Christoph Butterwegge, Jahrgang 1951, lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität Köln. Er leistete wichtige Beiträge zur Erforschung von Ursachen der Armut und sozialer Spaltung der Gesellschaft. Von 1970 bis 1975 sowie von 1987 bis 2005 war er Mitglied der SPD. Er verließ die Partei, als vor gut zwölf Jahren eine Große Koalition besiegelt wurde. 2017 kandidierte er für die LINKE bei der Wahl des Bundespräsidenten.
Auf 414 Seiten richtet Butterwegge in seinem Buch einen umfassenden Überblick über die wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in der BRD/Deutschland seit 1945.
Im folgenden der Versuch eines komprimierten Abrisses:
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert, die sich der Sozialstrukturentwicklung und sozialer Ungleichheit in verschiedenen Facetten nähern, sowohl historisch als auch aktuell.
1. Definitionen, Dimensionen und Diskussionen über Grundlagen der gesellschaftlichen Ungleichheit
Hier werden theoretische Modelle gesellschaftlicher Ungleichheit vorgestellt und auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft: So die marxistische Klassenanalyse, Max Webers Gesellschaftsmodell und vor allem die Schichtungssoziologie von Theodor Geiger, die dieser 1949 in seinem Buch "Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel" entwickelt hat. Butterwegges Resümee lautet: Zwar hat Geiger "einige interessante Denkanstöße zur Analyse der Sozialstruktur moderner Gesellschaften geliefert," ein überzeugender Alternativentwurf zur Marx‘schen Klassentheorie sei ihm aber nicht gelungen. "Eine an Marx und Engels orientierte Klassenanalyse bleibt vielmehr auch in Zukunft aktuell. Was sie vor sämtlichen Schichtungsmodellen auszeichnet, ist der Umstand, dass Gesellschaftsklassen nicht bloß bestimmte Herrschaftsverhältnisse widerspiegeln, sondern auch in bestimmten Produktionsverhältnissen wurzeln" (S. 62).
2. Untersuchungen zur (west)deutschen Sozialstruktur zwischen seriöser Empirie und purer Ideologie
Hier referiert Butterwegge soziologische Forschungs- und Theorieansätze von 1945 bis zur Gegenwart: Von Helmut Schelsky "nivellierter Mittelstandsgesellschaft", über die "Kritische Theorie" der Frankfurter Schule, der Beck‘schen "Risikogesellschaft" bis hin zum aktuellen Diskurs wie z.B. Heinz Budes These über das Prekariat, der "Ausgeschlossenen und Überflüssigen". Für Butterwegge stellt sich die Nachkriegssoziologie dar als "die Geschichte zahlloser Versuche, die verpönten Termini »Klasse« bzw. »Klassengesellschaft« durch weniger brisante Kategorien zu ersetzen und zu entsorgen." In der Folge führte dies dazu, dass in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit "Reichtum verschleiert und Armut verharmlost" wurden, um die bestehenden Verteilungsverhältnisse zu rechtfertigen (S. 143).
3. Sozialstrukturentwicklung und Diskurskonjunkturen der Ungleichheit
Hier geht es um den Diskurs über soziale Ungleichheit in der bundesdeutschen Öffentlichkeit von Ludwig Erhards Versprechen eines "Wohlstands für alle" über die Wahrnehmung des Endes des "Wirtschaftswunders" durch die Rezession 1966/67 und die sog. "Ölkrise 1973" bis hin zu der in der Öffentlichkeit diskutierten Studie des französischen Ökonomen Piketty über das Kapital im 21. Jahrhundert und Kevin Kühnerts Sozialisierungsforderung.
4. Erscheinungsformen der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit
Der Leser erfährt Fakten über die Polarisierung von Privatvermögen und Einkommen. Erörtert wird, inwieweit das Bildungssystem sozioökonomische Ungleichheit reproduziert. Schließlich werden auch noch Fakten und Daten zur gesundheitlichen Ungleichheit dargestellt. Insgesamt schafft es dieses Kapitel, einen umfassenden Einblick in Daten und Fakten zu gewinnen, mit denen Ungleichheit analysiert und zugleich beschrieben werden kann.
5. Entstehungsursachen und Entwicklungstendenzen der Ungleichheit: Prekarisierung, Pauperisierung und Polarisierung
In diesem Kapitel erfolgt eine grundsätzliche Kritik an der von der rot-grünen Regierung auf den Weg gebrachten Agenda 2010-Politik und deren Kern, der Hartz-IV-Gesetzgebung. Butterwegge sieht darin "das Symbol für soziale Demontage, Verarmung und Verelendung." Damit einher geht die Deregulierung von Arbeitsmärkten. Abschließend arbeitet Butterwegge heraus, inwiefern die globale Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise Ursache für eine weitere Verschärfung von Ungleichheit war.
6. Konturen und Perspektiven einer zerrissenen Republik
Im 80 Seiten umfassenden sechsten Kapitel bündelt der Autor den Ist-Zustand der "zerrissenen Republik" und bietet Überlegungen für eine zukünftige Entwicklung an. Als Stichworte, zu denen der Autor pointiert argumentiert, seien genannt: digitales Proletariat, Globalisierung und Fluchtmigration, Wohnungsnot und Mietenexplosion, Standortnationalismus als ideologischer Nährboden des Rechtspopulismus.
Butterwegges Fazit: "Deutschland steht vor einer sozialen Zerreißprobe, und in fast allen Gesellschaftsbereichen wächst die Unruhe, ohne dass in der Öffentlichkeit die Gründe dafür erkannt und von den politisch Verantwortlichen die nötigen Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Es ist beinahe zum Verzweifeln. (…) Trotzdem gibt es auch gewisse Lichtblicke: Wie es scheint, ist die Bevölkerung der sozioökonomischen Ungleichheit hierzulande gegenüber zuletzt sensibler geworden und weist dem Staat heute vermehrt die Aufgabe zu, Einkommens- und Vermögensunterschiede zu begrenzen" (S. 391).
Politisch sei deshalb eine umfassende System-, also Fundamentalkritik notwendig, die die destruktiven Folgen kapitalistischen Wirtschaftens anprangert und Alternativen benennt. Und dafür sei ein harter Klassenkampf notwendig: "Der gesellschaftliche Zusammenhang kann nur durch gezielte Umverteilung von oben nach unten gestärkt werden, was harte Auseinandersetzungen zwischen mächtigen Interessengruppen, die früher als Klassenkämpfe bezeichnet worden wären, nicht ausschließt, sondern zur Voraussetzung hat" (S. 403).
Als Alternativen zur wachsenden Ungleichheit fordert Butterwegge mit dreierlei Maßnahmen zu beginnen:
- Entwicklung des Mindestlohns zu einem Lebenslohn
- Solidarische Bürgerversicherung und soziale Mindestsicherung für einen inklusiven Sozialstaat
- Abschöpfung des Reichtums: Vergesellschaftung und/oder Umverteilung von oben nach unten.
Mein Fazit
Das Buch bietet den Lesern keine neuen Untersuchungen, es liefert auch keine völlig neuen Fakten. Butterwegge gelingt es aber nicht nur historische Fäden zu ziehen und Diskurse, die veraltet schienen, zu rekonstruieren; ihm gelingt es vor allem, vor langer Zeit vorgetragene Überlegungen zur sozialen Ungleichheit mit aktuellen Positionen verbinden. Dadurch werden vor allem ideologische Kontinuitäten deutlich und verweisen andererseits auf die Notwendigkeit mit Althergebrachtem rigoros zu brechen.
Das Buch ist somit Beides: eine historische Rekonstruktion der Forschung und des Denkens über soziale Ungleichheit und die Herstellung eines neuen und spannenden Zusammenhangs dieser Studien und Überlegungen. Vor allem das umfangreiche sechste Kapitel bietet reichlich Stoff zum eigenen Nachdenken und vor allem auch zum Diskutieren. Und über alle Theorie, die dem Leser in diesem Buch begegnet, sollte er nicht aus den Augen verlieren, was ein junger Doktorand vor 175 Jahren in seinem Notizbuch notierte : "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern." [3]
Anmerkungen
[1] "Armut in Deutschland." Veröffentlicht als 480 seitiges Buch der rororo-aktuell Reihe (Februar 1994)
[2] “Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“,
www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Pressemitteilungen/2017/5-arb-kurzfassung.pdf
[3] Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW Bd. 3, S. 533
Christoph Butterwegge
Die zerrissene Republik
Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland
Beltz Juventa, Weinheim 2020
ISBN 9783779961147
414 Seiten, 24,95 Euro
Hier ein Leseprobe und zu bestellen: https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/buecher/produkt_produktdetails/42606-die_zerrissene_republik.html