09.12.2025: "Die Einbindung der Arbeiterbewegung in eine Politik aus Aufrüstung und Kriegsvorbereitung zu verhindern" – dazu soll der Sammelband "Gewerkschaften in der Zeitenwende" mit Beiträgen von Gewerkschafter*innen aus unterschiedlichen Organisationen einen Beitrag leisten.
Die zunehmende Militarisierung des Alltags – von der aktuellen Debatte über die Wiedereinführung der Wehrpflicht bis hin zu den Investitionen in die Rüstungsindustrie – ist eine Herausforderung für die Friedensbewegung und insbesondere auch die Gewerkschaften. Denn die aktuelle Kriegsvorbereitungspolitik ist verbunden mit enormen Angriffen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten und ihrer Familien: Abbau von existenziellen Sicherheiten und sozialer Sicherheiten mit der Gefahr auch massiver Eingriffe in Arbeits- und Gewerkschaftsrechte. Darauf machen Gewerkschafter*innen aus unterschiedlichen Organisationen in dem Band Gewerkschaften in der Zeitenwende aufmerksam.
Hervorgegangen aus der inzwischen dritten "Gewerkschaftlichen Friedenskonferenz" in Salzgitter im Juli 2025, vereint er Beiträge vor allem von hauptamtlichen Gewerkschaftssekretär/innen aus IG Metall, ver.di, GEW und dem DGB.
Heinz Bierbaum, Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die diese Konferenz zusammen mit der IG Metall-Verwaltungsstelle Salzgitter veranstaltete, stellt in seinem Beitrag in Frage, dass der Ausbau der Rüstungsindustrie (beschönigend "Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie" genannt) ein Ausweg aus der stagnierenden Wirtschaftsentwicklung ist; Industriepolitik heute muss, in Zusammenhang mit der Klimakrise, Konversionspolitik sein, nicht nur bei der Rüstung, sondern z.B. auch beim System der Mobilität.
Dierk Hirschel, "Chefvolkswirt" beim ver.di-Bundesvorstand und Mitglied der SPD-Grundwertekommission, untersucht, wie sich der neue "Rüstungskeynesianismus" auf die Wirtschaft auswirken wird; er stellt fest, dass Rüstungsgüter totes Kapital sind: "Militärausgaben sind keine Investitionen, die später Erträge abwerfen", sondern unproduktive Ausgaben, die zudem Arbeitskräfte und Kapital aus produktiven Bereichen abziehen, zulasten von wirtschaftlicher Entwicklung. Er argumentiert, unterlegt mit vielen Zahlen, dass auch nur der Erhalt des Sozialstaats auf bisherigem Niveau bei gleich-zeitigem Aufrüstungskurs nicht möglich sind ("Kanonen statt Butter", wie auch in dankenswerter Offenheit Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts formuliert hat).
Ralf Krämer vertieft diese Feststellung und geht auf die Finanzplanung bis 2029 ein, die er, unterlegt mit den Zahlen der Bundesregierung, als "Mehr für Rüstung, weniger für den Rest" bilanziert. Dabei werden die Sozialausgaben im Visier der Kürzungen stehen. Als Fazit bleibt: Hochrüstung ruiniert Sozialstaat und Zukunft. Wenn wir, die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, das nicht wollen, müssen wir politisch mobilisieren, um die Hochrüstung zu verhindern und eine Umkehr zu einer sozialen Verteilungspolitik durchsetzen.
Dass Aufrüstung und Kriegswirtschaft ein lukratives Geschäftsmodell sind, beschreibt Ulf Immelt, nennt auch einige der Profiteure und andere, die Aufrüstung als neues profitables Geschäftsfeld entdeckt haben. Anhand vieler Zahlen beschäftigt er sich mit Dimension und Ursachen der Arbeitsplatzvernichtung in der Industrie und den Prognosen für Veränderungen in der Branchen- und Berufsstruktur, aus denen sich tiefgreifende Verschlechterungen für die Kampfbedingungen der Gewerkschaften ergeben werden, wenn sie/wir das nicht rechtzeitig erkennen und dagegenhalten.
Der Kriegswirtschaft als lukratives Geschäftsmodell stellt Anne Rieger die Forderung entgegen: "Pervertierte Konversion stoppen". Dass es stattdessen möglich ist, Rüstungs- in Friedensproduktion umzustellen, beschreibt sie anhand verschiedener erfolgreicher Beispiele aus vergangenen Jahren. U.a. erwähnt sie auch den Umbau bei Krupp-MaK in Kiel von der Panzer- zur Lokomotivenproduktion im Jahr 2001. Sie stellt heraus, dass nicht die Beschäftigten in der Rüstungsindustrie und ihre Gewerkschaft die Gegner sind, sondern die Regierungen, die die Aufrüstungsprogramme beschließen und die Profiteure der Kriegsproduktion. Sie plädiert für Solidarität und Diskussion mit den durch Arbeitsplatzverlust Erpressten und stellt fest: "Was produziert wird, ist eine Klassenfrage".
"Rüstungsaufträge – Betriebsräte in der Zwickmühle" ist die Überschrift des Artikels von Hans Schenk. Er schreibt über die wirtschaftliche Bedeutung von Rüstungsaufträgen für den einzelnen Betrieb, aber auch über die Auswirkungen auf die Beschäftigten: Rüstung schränkt Arbeitnehmerrechte ein, weil der Staat die politische Zuverlässigkeit des Unternehmens und der Beschäftigten kontrolliert; und er zeigt auf, wie die Betriebsräte mit Hilfe des Betriebsverfassungsgesetzes Einfluss nehmen können, auch wenn diese Möglichkeiten natürlich begrenzt sind.
Der Rechtswissenschaftler Andreas Engelmann schreibt über die Bedeutung des "Arbeitssicherstellungsgesetzes" von 1968, formuliert im Rahmen der Notstandsgesetzgebung. Mit ihm kann der Staat Teile der Bevölkerung für kriegswichtige Dienste zwangsverpflichten. Kurz vor Ende der Legislaturperiode, im Februar 2025, hat der alte Bundestag dieses mehr als 50 Jahre alte Gesetz noch angepasst ("novelliert"), und bei dem Manöver "Red Storm Bravo" im September in Hamburg hat die Agentur für Arbeit seine Anwendung geprobt.
Mark Ellmann (GEW) schreibt über die "Zeitenwende in Schule und Hochschule". Ausführlich beschreibt er Ziele und Auswirkungen des "Gesetzes zur Förderung der Bundeswehr in Bayern", das als Blaupause für andere Bundesländer gelten kann. Die GEW, 17 Einzelverbände und 185 Einzelpersonen klagen dagegen beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof.
Ein kleines Autorenkollektiv aus dem "Verein demokratischer Ärzt*innen" beschreibt, wie die Kriegslogik in das Gesundheitswesen "einsickert". Mit Hilfe von Bedrohungsszenarien wird die Militarisierung des Gesundheitswesens auch in der öffentlichen Debatte vehement forciert, bis hin zur selbstverständlichen Hinnahme der Einrichtung unterirdischer OP-Säle. (Das "Grünbuch 4.0 zur zivil-militärischen Zusammenarbeit" beschäftigt sich ausführlich damit, leider thematisieren sie es nicht im Artikel.)
Mit der "Tarifpolitik in der Zeitenwende" am Beispiel der Tarifrunde 2025 im Öffentlichen Dienst befassen sich zwei Artikel: Sidar Carman, ver.di-Geschäftsführerin in Stuttgart, stellt fest, dass die "Zeitenwende" staatliche Ressourcen gezielt "von einer für die Gesellschaft notwendigen Daseinsvorsorge hin zur militärischen Aufrüstung" lenkt. Für die Tarifpolitik schlussfolgert sie, dass sie, gerade im Öffentlichen Dienst, bewusst als eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um haushaltspolitische Prioritätensetzung angelegt sein muss. Sie zitiert ausführlich eine Erzieherin bei einer Streikkundgebung, die feststellt, dass der Fokus des Staats nicht bei Bildung und Sozialem, sondern bei der Kriegsführung liegt. Das Fazit: "Tarif-, gewerkschafts- und friedenspolitische Kämpfe stehen nicht nebeneinander, sondern gehören unzertrennlich zusammen."
Davon geht auch Armin Duttine in seinem Beitrag aus: Tarifpolitik darf die Rahmenbedingungen der Zeitenwende nicht außer Acht lassen, sondern muss sie auf- und angreifen. Die Führungen der DGB-Gewerkschaften wollen, mit wenigen Ausnahmen, diesen Weg bisher nicht gehen. Geschuldet ist dies auch ihrem Verhältnis zur SPD, in der sie über Jahrzehnte hinweg einen wichtigen politische Arm zur Unterstützung ihrer Anliegen gesehen hatten. Dieses Verhältnis ist aber inzwischen eine Hypothek, wie er auch am Verhalten der Gewerkschaften zum Bruch eines zentralen Wahlkampfversprechens der SPD, der Erhöhung des Mindestlohns auf 15.-€, illustriert.
"Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!" – Dieser Satz wurde zur programmatischen Grundlage der Gewerkschaftsbewegung nach 1945. Trotzdem blieben friedenspolitische Positionen umkämpft, schreibt Norbert Zirnsak, 1. Bevollmächtigter der IG Metall Würzburg. Er erinnert in seinem Beitrag an Georg Benz, jahrzehntelang Vorstandsmitglied der IG Metall, prominentester gewerkschaftlicher Redner auf der großen Friedensdemonstration 1981 im Bonner Hofgarten. Er trug viel dazu bei, dass sich die Gewerkschaften schließlich gegen den sog. "NATO-Doppelbeschluss" zur Stationierung von US-Mittelstreckenraketen wandten – wer denkt da nicht an den Beschluss der US-Regierung mit Zustimmung des Ex-Bundeskanzlers Scholz und das Schweigen der Gewerkschaftsführungen dazu! Im Sinn von Georg Benz müssten die Gewerkschaften auch heute nicht nur im Betrieb und am Werkstor sichtbar sein, sondern auch auf der Straße und gesellschaftspolitisch Flagge zeigen.
Eingerahmt wird der Sammelband – ein Muss für jede/n friedenbewegte/n Gewerkschafter/in – durch einen Beitrag von Ingar Solty und einen abschließenden Artikel von Ulrike Eifler, der Herausgeberin des Sammelbands.
Solty schreibt über die neue deutsche Außenpolitik, die die frühere Entspannungspolitik als "naiv-pazifistisch und realitätsfern" geißelt. Nach dieser Logik seien heute Rheinmetall und die anderen Rüstungskonzerne die "größte Friedensbewegung der Welt". Er nennt Zahlen, wie die Aktien führender Rüstungskonzerne hochgeschnellt sind, und zitiert abschließend die bekannte Fußnote aus dem "Kapital" von Marx: "Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit… 300%, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert… Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren."
Im Schlussbeitrag stellt Ulrike Eifler fest, dass die "Durchmilitarisierung unserer Gesellschaft einer Politik offener Kriegsvorbereitung gewichen" ist. Dafür ist die Mobilmachung der ganzen Gesellschaft nötig. Dem unbegrenzten Aufrüstungsprogramm, dem daraus folgenden "Klassenangriff im Koalitionsvertrag" müssen die Gewerkschaften entgegentreten, auch wieder über Systemalternativen reden. Sie müssen ihr politisches Mandat nicht nur sozial-, sondern allgemeinpolitisch, friedenspolitisch wahrnehmen. Kriegstüchtigmachung und Krieg darf nicht als Ausweg aus der anhaltenden Verwertungskrise des Kapitals hingenommen werden. Sie erinnert an Otto Brenner, langjähriger Vorsitzender der IG Metall, der die Gewerkschaft verpflichtet sah, "zu den politischen Fragen, die das Wohl von Millionen arbeitender Menschen berühren, Stellung zu nehmen." Und welche andere als die Frage von Krieg und Frieden beträfe wohl mehr das Wohl von Millionen??
Allen, die dafür Argumente und auch Ermunterung in der Auseinandersetzung haben wollen, sei dieser Sammelband wärmstens empfohlen, auch zum Nachschlagen einzelner Aspekte für die gewerkschaftliche Friedensdiskussion.
txt: Norbert Heckl

Ulrike Eifler (Hrsg.)
Gewerkschaften in der Zeitenwende
Was tun gegen Umverteilung nach oben, massive Angriffe auf den Sozialstaat, die Militarisierung des Alltags und den Rüstungswahnsinn?
144 Seiten | 2025 | EUR 12.80
ISBN 978-3-96488-251-6
Hier bestellen: https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/gewerkschaften-in-der-zeitenwende/




