Meinungen

03.10.2023: Die Spannungen zwischen Kosovo und Serbien haben sich in den zurückliegenden Wochen massiv verschärft. ++ Einen "Strategiewechsel" der EU gegenüber Serbien fordert Kirsten Schönefeld, Leiterin des Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung für Serbien und Montenegro ++ Für den serbisch-US-amerikanischen Ökonom Branko Milanovic handelt es sich um einen gefährlichen lokalen Konflikt, der zu einem globalen Zusammenstoß führen kann.

 

Seit einigen Tagen lässt Serbien seine Armee an der Grenze zum Kosovso in Stellung gehen. Die Spannungen zwischen Kosovo und Serbien haben sich in den zurückliegenden Wochen massiv verschärft. Am 24. September hat ein 30-köpfiger, schwer bewaffneter serbischer Kommandotrupp in der Ortschaft Banjska bei Mitrovica in Nordkosovo kosovarische Polizisten angegriffen. Dabei wurde ein kosovarischer Polizist getötet. drei wurden teilweise schwer verletzt, vier der serbischen Angreifer wurden erschossen. Es war bereits der zweite gewaltvolle Zwischenfall im Norden Kosovos innerhalb der letzten sechs Monate. Kosovos Ministerpräsident Albin Kurti behauptete auf Twitter, die serbische Paramilitärs hätten vor ihrem Überfall in Banjska auf serbischem Territorium trainiert.

Die Gewalteskalation im Kosovo zeige, dass der Ansatz der EU gegenüber Serbien gescheitert ist."Es braucht eine Kurskorrektur", schreibt die Leiterin des Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung für Serbien und Montenegro, Kirsten Schönefeld.

Und weiter:
"Die Schlussfolgerung muss daher sein, dass es nicht nur mehr politische Aufmerksamkeit braucht, sondern schlichtweg einen Strategiewechsel. .. Die von Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende und die von Ursula von der Leyen ausgerufene geopolitische Kommission können so interpretiert werden, dass die EU und Deutschland gemeinsam es auch vermögen sollten, in einem antagonistischen internationalen Umfeld Interessen durchzusetzen. ... Der Versuch der EU, die serbische Führung nur über Anreize zu kooperativerem Verhalten zu bewegen, ist vorerst gescheitert. ... Deutschland ist aufgrund der hohen Reputation in der Region und der engen wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Verflechtung prädestiniert, in diesem Prozess entschiedener Führung zu übernehmen."[1]

Bereits nach Zusammenstößen im Juli 2022 erklärte die NATO, dass man die Situation genauestens beobachte. Sollte die Stabilität im Nord-Kosovo gefährdet werden, sei man bereit einzugreifen. (siehe kommunisten.de: "Die Welt, ein Pulverfass. Und überall wird gezündelt.")

Für den serbisch-US-amerikanischen Ökonom Branko Milanovic handelt es sich bei dem Konflikt zwischen Serbien und Kosovo um einen gefährlichen lokalen Konflikt, der zu einem globalen Zusammenstoß führen kann.

Warum ist die Situation zwischen Serbien und dem Kosovo so ernst?

Branko Milanovic

Warum ist die derzeitige Situation, und ich meine nicht in der nächsten Woche, sondern vielmehr in den nächsten Jahren, so ernst? Es handelt sich hier nicht nur um einen sehr lokalen Streit, sondern um einen Streit um ein Gebiet, das halb so groß ist wie Luxemburg, mit einer Bevölkerung (etwa 70.000), die kleiner ist als die, die in ein paar Häusern entlang des Hudson wohnen, und selbst aus der Sicht Serbiens völlig unbedeutend, da es sich um etwa 1 % aller Serben handelt. Warum sollte die Weltordnung hiervon abhängen? Weil es, wie so oft in der Geschichte, kleine Konflikte sind, die um große Einsätze geführt werden. Weil kleine Nationen gerne große Mächte in ihre Konflikte hineinziehen, um ihre eigenen (kleinen) Ziele zu erreichen, während große Länder solche Konflikte als Test für ihre Macht ansehen.

Um zu verstehen, warum die Krise so ernst ist, müssen wir uns die vier Akteure ansehen. Diese sind (in der Reihenfolge, in der hier diskutiert wird) der Kosovo, Russland, die NATO und Serbien.

Albin Kurti, der Premierminister des Kosovo, ist zweifelsohne der fähigste Politiker auf dem Balkan. Dabei helfen ihm seine antikoloniale Ideologie (er ist mit guten Gründen der Meinung, dass das Kosovo nie Teil Serbiens hätte sein dürfen; es wurde 1913 Teil Serbiens), und seine sehr guten politischen Fähigkeiten. Kurtis kurzfristiges Ziel ist es, das "serbische Problem" im Kosovo durch die Vertreibung der serbischen Minderheit zu lösen. Er sieht die Serben dort als Menschen, die niemals eine albanische Souveränität akzeptieren würden (womit er Recht hat), und er stellt fest, dass die Vertreibung der serbischen Minderheit aus Kroatien Kroatien politisch viel stabiler gemacht hat (womit er ebenfalls Recht hat). Um sein Ziel zu erreichen, muss er die serbische Minderheit ständig terrorisieren, ihr ein Gefühl der Unsicherheit vermitteln und sie letztlich dazu bewegen, das Land zu verlassen. Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine hat er (wiederum zu Recht) erkannt, dass er, wenn es ihm gelingt, einen Krieg zu provozieren, ein neuer Zelensky wird und die volle Unterstützung der NATO hat. (Sein langfristiges Ziel ist meines Erachtens die Vereinigung des Kosovo und Albaniens, aber das können wir im Moment noch außer Acht lassen).

Der zweite Akteur ist Russland. Vor dem Krieg in der Ukraine hatte Russland ein Interesse daran, die Spannungen im Kosovo aufrechtzuerhalten, aber nicht, einen Krieg zu fördern. Seitdem haben sich die Dinge geändert: Russland hat ein klares Interesse daran, so viele Konflikte wie möglich in der Welt zu schaffen, nicht nur, um den Westen zu schwächen, sondern auch, um seinen Krieg mit der Ukraine zu "globalisieren", so dass eine endgültige Lösung, wenn sie denn kommt, der Neuverhandlung der globalen Ordnung entspräche, die nach dem Ende des Kalten Krieges eingeführt bzw. aufgezwungen wurde. Außerdem wäre der Krieg zwischen der NATO und Serbien für Russland genauso bequem wie für den Westen der Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Sie würden Kriegsmaterial nach Serbien schicken (wenn sie welches entbehren können), aber keine menschlichen Kosten tragen.

Im Moment gibt es also zwei Akteure, die für den Krieg sind.

Aber wir haben einen Akteur, der gegen den Krieg ist. Dieser Akteur ist, vielleicht unerwartet, die NATO. Die NATO kann keinen weiteren Konflikt in Europa brauchen, bei dem es um eine völlig nebensächliche Angelegenheit geht, die für die Vereinigten Staaten nicht von Bedeutung ist, während sie sich auf den die globale Ordnung verändernden De-facto-Krieg mit Russland konzentriert. Die NATO und die EU waren über Kurtis Destabilisierungstaktik, die er seit Februar 2022 anwendet, so verärgert, dass sie sich kürzlich sogar leicht auf die pro-serbischen Positionen begaben, nur um die Dinge ruhig zu halten und den Konflikt nicht eskalieren zu lassen.

Der vierte Akteur ist Serbien, und es hat mittlerweile einen Anreiz, in den Krieg zu ziehen. Der Grund dafür ist folgender. Die Politik von Präsident Vucic wird seit mehr als einem Jahrzehnt von dem Ziel bestimmt, im Kosovo einen territorialen Verband serbischer Gemeinden zu erreichen. Mehrere kosovarische Regierung vor Kurti haben dem auf Betreiben der EU zugestimmt. Vucic wäre dann in der Lage gewesen, innenpolitisch zwei Siege für sich zu beanspruchen: Er hätte den Serben im Kosovo eine quasi autonome Regierung gegeben und gleichzeitig die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkannt. Ein ziemliches Kunststück. Diese Strategie scheiterte, als Kurti sich weigerte, die Forderungen des Westens zu akzeptieren, das zu tun, was die vorherigen Regierungen des Kosovo vereinbart hatten, und seine Taktik der täglichen Schikanen einführte.

Wenn Vucic einen wichtigen Teil seines Programms nicht durchsetzen kann und sich gleichzeitig mit den von Kurti verursachten Schikanen gegen die serbische Minderheit auseinandersetzen muss, wodurch er seine eigene Ohnmacht offenbart, ist seine gesamte Politik gescheitert. Würde dann ein Krieg helfen?

Dabei müssen wir berücksichtigen, dass ein solcher Krieg, der mit dem Einmarsch serbischer Truppen in den Kosovo zum Schutz der Bevölkerung in vier Gemeinden beginnen würde, die serbischen Streitkräfte sofort gegen die NATO in Stellung bringen würde. Aber für die NATO würde es kein Kinderspiel sein. Die NATO hat den Krieg von 1999 gewonnen, indem sie zivile Ziele bombardierte und drohte, Belgrad mit Teppichbomben zu bombardieren, wobei Martti Ahtisaari (finnischer Diplomat) und Wiktor Tschernomyrdin (russischer Ministerpräsident von von 1992 bis 1998) auf der gleichen Seite des Tisches saßen und Milosevic signalisierten, dass in Belgrad ein "tabula rasa" gemacht würde. Tschernomyrdin würde es jetzt nicht mehr geben.

Der Krieg würde die NATO auch in die sehr unangenehme Lage versetzen, entweder Bodentruppen in den Kosovo zu entsenden, was logistisch nicht einfach ist (und angesichts möglicher Kriege mit Russland oder China eine Verschwendung darstellt), oder Serbien wie 1999 zu bombardieren. Die Welt würde dann täglich mit Bildern der Zerstörung ziviler Ziele in der Ukraine und in Serbien durch zwei rivalisierende Supermächte konfrontiert werden. Abgesehen von Propagandagründen (die der Westen mit seiner mächtigen Propagandamaschinerie mehr oder weniger kontrollieren kann) würde der Krieg erhebliche NATO-Kräfte erfordern, die entweder die serbische Minderheit aus dem Kosovo vertreiben oder gegen sie in einem offensichtlich feindlichen Umfeld kämpfen müssten.

Aber gerade eine solche Kalkulation der Schwierigkeiten einer NATO-Invasion in die serbischen Enklaven im Kosovo könnte Vucic ermutigen, einen Krieg zu führen. Er könnte sich daran erinnern, dass Milosevics Popularität gerade während der NATO-Bombardierung Serbiens ihren Höhepunkt erreichte, dass seine persönliche Macht damals durch keinerlei parlamentarische oder gesellschaftliche Zwänge eingeschränkt war und dass es ihm schließlich gelang, eine recht gute Vereinbarung zu erzielen (die von der NATO nie eingehalten wurde). Und Vucic könnte hoffen, dass die "Winde der Freiheit", von denen er vor der UN-Vollversammlung sprach, die Dinge wie im Ersten Weltkrieg auf wundersame Weise zu seinen Gunsten wenden könnten.

Quelle: Branko Milanovic, 30.9.2023: Why is the Serbia-Kosovo situation globally serious?
https://branko2f7.substack.com/p/why-is-the-serbia-kosovo-situation
eigene Übersetzung

 

Anmerkungen:

[1] IPG-Journal: Mit Vollgas in die Sackgasse
https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/serbien-kosovo-7024


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Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge

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