24.06.2018, 23:00 Uhr: 93 Prozent der Stimmen ausgezählt ++ Demokratischen Partei der Völker (HDP) gelingt mit bisher fast 12 Prozent der Stimmen der Sprung über die Zehnprozenthürde ++ Erdoğan erklärt sich zum Wahlsieger ++ Wahlbetrug im ganzen Land ++ HDP und CHP bezweifeln Wahlergebnis
Während die Auszählung der Stimmen am Sonntagabend noch andauert, hat sich Erdoğan bereits zum Sieger der Präsidentenwahl erklärt. "Demnach hat unser Volk meiner Person den Auftrag der Präsidentschaft und der Regierung gegeben", sagte Erdoğan am Abend in Istanbul.
Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, lag Erdoğan während der Ansprache nach Auszählung von mehr als 90 Prozent der Stimmen bei 52,88 Prozent der Stimmen. Damit hätte er die Präsidentschaftswahl bereits in der ersten Runde gewonnen. Die von der AKP geführte"Volksallianz" könnte nach den vorliegenden Teilergebnissen mit deutlich mehr als 340 der 600 Sitze im Parlament rechnen.
Allerdings wusste Anadolu bereits drei Tage vor der Wahl das Wahlergebnis. Im regierungsfreundlichen Privatsender TVNET wurden schon am Donnerstag die Endresultate der Nachrichtenagentur Anadolu präsentiert, denen zufolge Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan 52,73 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten habe / erhalten wird und sich dadurch deutlich vor der Opposition die Wiederwahl bereits im ersten Wahlgang gesichert hätte. Später erklärte Anadolu, dass es sich um einen technischen Test gehandelt habe.
Sowohl die HDP als auch die CHP erheben schwere Manipulationsvorwürfe. Die HDP-Zentrale meldete, die Zahlen von Anadolu seien ein Versuch, die Öffentlichkeit zu demoralisieren. CHP-Sprecher Bülent Tezcan sagte vor Journalisten in Ankara, dass nach den seiner Partei vorliegenden Teilergebnissen Erdoğan zu keiner Zeit 48 Prozent der Stimmen überschritten habe.
Sezai Temelli, Ko-Vorsitzender der HDP, erklärte über Twitter, dass die Angaben von Anadolu nicht glaubwürdig seien und die Möglichkeit einer zweiten Runde der Präsidentschaftswahl bestehe.
Wahlbetrug
Aus vielen Städten wurden von Wahlbetrug berichtet. Die Zeitung The Region berichtet, dass in mindestens 13 Städten Wahlbetrug durch Anhänger*innen von Erdoğans regierender Partei AKP bewiesen ist, Militärhubschrauber haben Wahlurnen transportiert, Militär und Polizei schüchterten Wähler*innen ein, .. .
In Pirsûs (Suruç) wurden ausgefüllte Stimmzettel im Müll gefunden. Auf den Stimmzetteln waren die HDP, Selahattin Demirtaş und der CHP-Kandidat Muharrem Ince gewählt worden. (Foto)
Medien berichten von vielen Vorfällen, bei denen Militär in kurdisch besiedelten Städten im Südosten der Türkei in den Wahlprozess eingriffen und Druck auf die Wähler*innen ausübten.
Insbesondere aus der nordkurdischen Provinz Riha reißen die Berichte über Wahlbetrug nicht ab. Dort waren Wahlbeobachter*innen der OSZE aus "Sicherheitsgründen" nicht aktiv. Die Polizei verhaftete mindestens zehn ausländische Wahlbeobachter*innen unter dem Vorwand, dass sei nicht akkreditiert seien. In fast 30 Dörfern wurden die registrierten Wahlhelfer der HDP von den Wahlurnen vertrieben.
In Wan beschlagnahmte die Polizei ungeöffnete Urnen und brachte sie in die AKP-Stadtverwaltung. Die Urnen sollen ohne Aufsicht ins Gericht gebracht werden.
"Wir haben viel Polizei und Militär und Paramilitärs vor und in den Wahllokalen gesehen. Wähler*innen wurden durch Soldaten beim Zugang zu Wahllokalen kontrolliert. Es kam auch vor, dass Soldaten direkt neben den Wahlurnen standen, was natürlich der Einschüchterung dienen soll. Teilweise wurden Wähler*innen durch das Militär kontrolliert. Zudem wurden in vielen Dörfern keine eigenen Wahllokale zugelassen, was bedeutet, dass Menschen bis zu 35 Kilometer zurücklegen mussten, um wählen zu können. Trotzdem hält das die mutigen Menschen hier nicht ab: die Wahlbeteiligung ist hoch." Tobias Pflüger (MdB, DIE LINKE) im Interview mit ANF. Er war mit Sabine Leidig, Heike Hänsel und Jan Schlauske als Wahlbeobachter in der nordkurdischen Provinz Wan unterwegs, |
In vielen kurdischen Dörfern, in denen bei zurückliegenden Wahlen mehrheitlich HDP gewählt wurde, wurden die Wahllokale geschlossen und in weit entfernte Städte verlegt. Auf dem Foto sind Bewohner*innen aus dem Dorf Ceylanli. Ihr Wahlbüro wurde im Vorfeld geschlossen und nach Hakkari verlegt. Also sind sie 25 Kilometer zu Fuß gelaufen, um ihre Stimmen abzugeben.
"Als Wahlhelfer im türkischen Suruc nahe der syrischen Grenze heute am frühen Morgen das Wahllokal betraten, staunten sie nicht schlecht: In der Wahlurne befanden sich, noch bevor der erste Wähler eintraf, rund hundert Stimmzettel - angekreuzt war die AKP beziehungsweise Recep Tayyip Erdogan. (...) Im Laufe des Vormittags tauchten dann an zahlreichen Orten vorgefertigte Stimmzettel für die AKP sowie zahllose ungestempelte Wahlumschläge auf. Der Journalist Amed Dicle twitterte ein Foto, das einen Bus voller solcher Stimmzettel in Istanbul zeigen soll. In Ankara stoppte die Polizei Medienberichten zufolge ein Auto und fand im Kofferraum vier weitere Säcke voller Stimmzettel." Telepolis - Heise.de: Türkei-Wahl: Manipulation und Einschüchterung |
HDP erreicht fast 12 Prozent der Stimmen
Trotz systematischen Regelverstößen und Unregelmäßigkeiten während der Abstimmung ist der Demokratischen Partei der Völker (HDP) mit bisher fast 12 Prozent der Stimmen der Sprung über die Zehnprozenthürde gelungen.
Wie die HDP-Zentrale in Ankara berichtet, liegt die Partei in den nordkurdischen Provinzen Amed (Diyarbakir, Dersim, Reşqelas (Iğdır), Agirî (Ağrı), Wan (Van), Şirnex (Şırnak), Colemêrg (Hakkari), Mêrdîn (Mardin), Êlih (Batman) und Sêrt (Siirt) vorn.
Die HDP wird somit mit 74 Sitzen im Parlament weiterhin vertreten sein.
In der Provinz Amed (Diyarbakir), einer der Hochburgen der HDP, wird bereits ausgiebig gefeiert und getanzt.
Hohe Wahlbeteiligung
Die Wahlbeteiligung lag mit 87,3 Prozent etwas über der Beteiligung bei den Parlamentswahlen vom November 2015, als 85,2 Prozent der Wahlberechtigten abstimmten. Insgesamt waren 59,35 Millionen Wähler zur Stimmabgabe aufgerufen, davon rund drei Millionen Auslandswähler.
Wahlen unter dem Ausnahmezustand
Die Parlaments-und Präsidentschaftswahlen fanden unter dem Ausnahmezustand statt, der nach dem sogenannten Putschversuch vom 15. Juli 2016 verhängt worden war.
mehr zum Thema - "Die ungerechtesten Wahlen ihrer Geschichte" - Wahlmanifest der HDP - Wahlhilfe der Berliner Staatsanwaltschaft für Erdoğan |
Unter dem Ausnahmezustand waren Grundrechte bisher ohnehin schon weitestgehend eingeschränkt. Erdoğan konnte per Dekret regieren, die nicht vor dem Verfassungsgericht anfechtbar sind. Mit seiner"Wiederwahl" ist der Wandel der Türkei in ein Ein-Mann-Regime besiegelt. Dabei wird Erdoğan von den erweiterten Befugnissen unter dem Präsidialsystem profitieren, das bei dem umstrittenen Verfassungsreferendum im April 2017 mit knapper Mehrheit gebilligt worden war und nach der Wahl voll in Kraft tritt. Somit wird Erdoğan das Land in eine noch dunklere Zeit führen.
Quelle: ANF News, The Region