19.08.2022: Am 25. September wird in Italien wieder einmal gewählt. Während halb Italien um den 15. August am Meer oder in den Bergen Urlaub macht, sind die Aktivist*innen der Unione Popolare auf den Straßen und Plätzen unterwegs um Unterschriften für ihre Kandidatur zu sammeln. Obwohl sie mit der Fraktion ManifestA im Parlament vertreten ist, muss sie als einzige Partei innerhalb von zwei Wochen knapp 60.000 beglaubigte Unterschriften vorlegen.
Am 20. Juli, nach einer Rede von Ministerpräsident Mario Draghi im Senat, beschlossen die Regierungsparteien 5-Sterne-Bewegung, Berlusconis Forza Italia und die Lega von Matteo Salvini, sich nicht an der von der Draghi beantragten Vertrauensabstimmung zu beteiligen und verhinderten damit, dass die Exekutive eine absolute Mehrheit erhält. Mario Draghi verkündete seinen Rücktritt gegenüber Staatspräsident Mattarella, der dies zur Kenntnis nahm und die vorzeitige Auflösung der Kammern und Neuwahlen anordnete.
Die Wahl am 25. September ist die erste nach Inkrafttreten der Verfassungsreform von 2020, mit der sowohl Kammer als auch Senat empfindlich verkleinert wurden. Die Verkleinerung der beiden Kammern und das Wahlgesetz "Rosatellum" reduzieren rein rechnerisch das Parlament von 630 auf 400 und den Senat von 315 auf 200 Sitze. Eine Partei muss mindestens 3 Prozent der Stimmen auf sich vereinen oder in einer Koalition von Parteien vertreten sein, die zusammen 10 Prozent erreichen.
Dementsprechend hektisch und abstoßend verliefen die Koalitionsbildungen, bei denen es nicht um politische Koalitionen geht - es gibt nämlich meist keine Koalitionsprogramme -, sondern nur um Absprachen über Wahlkreise und die Sicherung von möglichst vielen Sitzen.
Der Vorsitzende der Demokratischen Partei (Partito Democratico PD), Enrico Letta, arbeitet seit Wochen an einer möglichst breiten Koalition, geschart um das Programm der gestürzten Draghi-Regierung. Ein Bündnis zwischen Mitte und Mitte-Links, das von Enrico Letta und dem Chef der neoliberalen Splitterpartei Azione, Carlo Calenda, als "bürgerlicher Kompromiss" vorgestellt wurde und PD, die Grünen, die Italienische Linke (Sinistra Italiana SI), Azione und der Abspaltung von Luigi Di Maio von der 5-Sterne-Bewegung (M5S) zusammenbringen sollte, brach bereits nach wenigen Tagen wieder auseinander. Obwohl es kein gemeinsames Programm der Koalition gibt - es gibt nur Vereinbarungen über Kandidaturen in den Wahlkreisen -, kündigte Calenda das Bündnis auf. Der Grund für seinen Sinneswandel sei die Hinzufügung der "nicht stimmigen Teile" gewesen, d.h. die Vereinbarungen, die Letta sowohl mit Sinistra Italiana und den Grünen als auch mit Luigi Di Maio und Bruno Tabacci vom Centro Democratico getroffen habe. Calenda verbündet sich für die bevorstehende Wahl nun mit der Partei des Ex-Chefs der PD und Ex-Ministerpräsidenten Matteo Renzi.
Luigi De Magistris, Spitzenkandidat der Unione Popolare, äußerte in Bezug auf die Bildung der Wahlkartelle, dass "wir Zeugen eines tragikomischen Bildes von politischen Akrobaten werden. Wir sehen, wie vermeintliche Parteiführer von einer Seite zur anderen springen, nicht um Programme im Interesse des italienischen Volkes zu erstellen, sondern um die für sie günstigsten Sitze zu finden".
Die neofaschistische Partei Fratelli d'Italia von Giorgia Meloni, die sich mit der extrem rechten und rassistischen Lega von Matteo Salvini und dem, was von Silvio Berlusconis Forza Italia übrig geblieben ist, zusammengeschlossen hat, liegt in den Meinungsumfragen an der Spitze. Im Unterschied zu den Koalitionen der Mitte, die keine gemeinsamen Programme präsentieren, hat die extreme Rechte ein gemeinsames Programm aufgestellt.
Die wirkliche Neuheit bei dieser Wahl ist die Kandidatur der Unione Popolare.
Die Unione Popolare unter der Leitung des ehemaligen Richters und Bürgermeisters von Neapel, Luigi De Magistris, vereinte linke Kräfte wie Potere al Popolo, Rifondazione Comunista, Dema (italienischer Ableger von DiEM25 und Partei von De Magistris), die parlamentarische Fraktion ManifestA und Vertreter*innen der italienischen Zivilgesellschaft und Intellektuelle mit einem politischen Programm, das geprägt ist von der Verteidigung des Klimas, der sozialen Gerechtigkeit, der sozialen und bürgerlichen Rechte, der kollektiven/öffentlichen Güter, des nicht nur materiellen Wohlstands der Menschen, der Brüderlichkeit und Solidarität zwischen den Völkern und einem Europa der Kulturen und Unterschiede.
Der Versuch, einen starken linken, pazifistischen, sozialen und ökologischen dritten Pol gemeinsam mit der Italienischen Linken (Sinistra Italiana), den Grünen, der 5-Sterne-Bewegung M5S und der Abspaltung von Luigi Di Maio zu schaffen, scheiterte an deren Ablehnung.
Maurizio Accerbo von Rifondazione Comunista: "Ich wende mich auch an Nicola Fratoianni (Vorsitzender der Linkspartei Sinistra Italiana) und Angelo Bonelli (Vorsitzender der grünen Partei Europa Verde). Ich sage ihnen und Conte (Vorsitzender der Fünf-Sterne-Bewegung), wenn eine Kraft wie sie NUPES in Frankreich mit Melenchon ist, nicht auch in Italien entsteht, werden sie die Verantwortung übernehmen müssen. Sinistra Italiana entscheidet sich zum x-ten Mal bewusst dafür, den Aufbau eines pazifistischen, umweltfreundlichen und linken Pols in Italien zu verhindern. Die Vereinbarung mit der PD bedeutet, dass in zwei oder drei Wahlkreisen vielleicht die Vertreter der SI und der Grünen gewählt werden, aber in allen anderen Wahlkreisen, in denen ihre Liste gewählt wird, werden kriegslüsterne und industriefreundliche Kandidaten gewählt. Ich sage ihnen: Die Mehrheit der Italiener ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und gegen eine Erhöhung der Militärausgaben. Warum tun wir nicht, was sie in Frankreich getan haben? Ein dritter Pol."
Offener Brief an "Wir sind Menschen, die am 25. September mit dem Bewusstsein einer weiteren Niederlage zur Wahl gehen werden. Sie kennen uns gut: Wir sind die müden, wütenden, desillusionierten Menschen der Linken, erschöpft von der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Situation in diesem Land. |
"Es gibt eine starke Motivation, weil wir der einzige Alternativvorschlag zu den Rechten sind."
Luigi de Magistris
"Ich bin sehr motiviert", sagt Luigi de Magistris, "auch wenn das politische Projekt, an dem wir gearbeitet haben, natürlich auf die regulären Wahlen im Frühjahr nächsten Jahres ausgerichtet war. Mit dem Sturz der Regierung Draghi gab es diese Sommerbeschleunigung mit Unterschriftensammlung bei 40 Grad Celsius, während das Personal in den Einwohnermeldeämtern, von dem wir Bescheinigungen verlangen müssen, im Urlaub ist. Es ist ein Hindernislauf. Aber es geht auch um etwas viel Größeres. Es gibt eine starke Motivation, weil wir der einzige Alternativvorschlag zu den Rechten sind." [1]
Unterschriften für die Kandidatur
Die Unione Popolare muss als einzige Partei, die mit einer Fraktion im Parlament vertreten ist, (siehe kommunisten.de: "Alternative Linke wieder im Parlament vertreten"), Unterschriften für die Zulassung zur Wahl am 25. September sammeln; eine enorme Herausforderung angesichts des engen Zeitrahmens von zwei Wochen und der Schwierigkeit, von den Gemeinden schnelle Bestätigungen zur Authentifizierung zu erhalten. Die Regierung lehnte die Unterschriftensammlung auch in digitaler Form, wie es bei Referenden in Italien üblich ist, ab. So müssen auf den Straßen und Plätzen in jedem Wahlkreis - 49 für die Abgeordnetenkammer, 26 für den Senat - 750 Unterschriften gesammelt werden. Mitten im Sommer, mit leeren Städten und Büros.
Für Simona Suriano, Vorsitzende der Fraktion von ManifestA, "scheint es, dass man sich darauf geeinigt hat, eine Regelung zu treffen, die die Teilnahme der 'üblichen Bekannten' des parlamentarischen Establishments, die die Draghi-Regierung unterstützt haben, ermöglicht und gleichzeitig all jene neuen sozialen und politischen Kräfte, die in der Gesellschaft auftauchen und Veränderungen fordern, zensiert und ausschließt".
"Wir vertrauen auf unseren Kampfgeist und unsere langjährige Erfahrung: Wir werden Erfolg haben", sagte der Nationale Sekretär der Rifondazione Comunista, Maurizio Acerbo, zum Auftakt der Unterschriftensammlung.
Am gestrigen Donnerstag (18.8.) konnte Maurizio Acerbo Entwarnung geben: "Die Unterschriftensammlung ist fast vollständig. Trotz des engen Zeitplans und des Slaloms zwischen den in der Woche der Augustferien geschlossenen Wahlbüros hat die Unione Popolare das Nötige zusammengetragen, um an den Wahlen am 25. September teilnehmen zu können. Nur drei Wahlkreise sind im Rückstand und müssen in zwei Tagen die für die Aufstellung ihrer Kandidaten erforderlichen 750 Unterschriften erreichen. Alles ist bereit für den Wahlkampf um die 3%-Hürde."
Die Hoffnung auf einen Erfolg der Liste hängt zum großen Teil mit dem Süden zusammen: Die Präzedenzfälle seien ermutigend, heißt es. De Magistris, der in Neapel kandidiert, war bis vor kurzem zwei Amtsperioden Bürgermeister in der süditalienischen Stadt, und als er vor einem Jahr für das Amt des Gouverneurs von Kalabrien kandidierte, erhielt er beträchtliche 16%.
In einem Interview verweist Luigi de Magistris auf seine Erfahrung als Bürgermeister von Neapel und sagt, er bringe "die Erfahrung derjenigen mit, die Wasser zu einem öffentlichen Gut gemacht haben, die keine Dienstleistung von institutioneller Bedeutung privatisiert haben, die eine Politik der gemeinsamen Güter umgesetzt haben, die die partizipative Demokratie gefördert haben, die die Camorra und korrupte Politiker aus dem öffentlichen Leben geworfen haben". [1]
"In Neapel haben wir zehn Jahre durchgehalten, gegen alle Parteien, die jetzt Draghi unterstützten. Und wir haben das Referendum zur öffentlichen Wasserversorgung respektiert. Wir wollen die Demokratie zurückerobern, indem wir zeigen, dass Macht ein Dienst ist, der Rechte, Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit, soziale und ökologische Gerechtigkeit garantiert".
Luigi de Magistris
Gleichzeitig hat die Unione Popolare ihr Programm veröffentlicht. In den ersten Zeilen des Programms der Unione Popolare wird das "Recht auf Glück" als Priorität genannt.
Das Recht auf Glück
"Dies ist ein anderes Programm als das der anderen Parteien, die bei den Wahlen am 25. September antreten. Es ist das einzige pazifistische und Antikriegsprogramm, das sich für universelle Brüderlichkeit, soziale, wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit, gegen Korruption und Mafia einsetzt. Es ist ein Programm, das die Umsetzung der italienischen Verfassung und nicht nur ihre Verteidigung in den Vordergrund stellt. Es ist ein Programm, das sich nicht an die Reichen, Mächtigen und Privilegierten wendet, sondern an das wahre Land. Es ist ein Programm, das sich mit den grundlegenden Bedürfnissen derjenigen befasst, die jeden Tag arbeiten (oft zu viele Stunden für zu wenig Geld), derjenigen, die gerne arbeiten würden, aber keine Arbeit mehr haben, derjenigen, die sich über steigende Stromrechnungen Sorgen machen. Es ist ein Programm, das für diejenigen geschrieben wurde, die zu lange auf eine Behandlung warten und in den endlosen Warteschlangen unseres heruntergewirtschafteten Gesundheitssystems gefangen sind. Für diejenigen, die sich nach diesem heißen Sommer ernsthaft Sorgen um die Gesundheit des Planeten und die Zukunft ihrer Kinder machen. Für diejenigen, die gegen den Krieg sind und ein ernsthaftes Engagement für eine diplomatische Lösung wollen. Für diejenigen, die meinen, dass die enormen sozialen Ungleichheiten in der heutigen Welt ebenso ungerecht wie ineffizient für die Wirtschaft sind. Für diejenigen, die aufgrund von Unternehmensschließungen oder -verlagerungen keinen Arbeitsplatz mehr haben. Dieses Programm ist für die gesellschaftliche Mehrheit in unserem Land, um gemeinsam das Italien aufzubauen, das wir dringend brauchen, und um wieder mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken. Er wurde von der Zivilgesellschaft unter Mitwirkung zahlreicher Experten verfasst und umfasst 120 Vorschläge in 12 Kapiteln:
1. Arbeit belohnen und respektieren
2. Kampf für wirtschaftliche Sicherheit und gegen Armut
3. Frieden und Demokratie in Europa und in der Welt anstreben
4. Verbesserung des Gesundheitswesens und der öffentlichen Verwaltung
5. Der Bildung ihre Würde zurückgeben und in Forschung und Kultur investieren
6. Beendigung der differenzierten Autonomie und Sicherung der gemeinsamen Güter und lokalen Dienstleistungen
7. Umgestaltung des Energie- und Verkehrssystems, um eine echte ökologische Umstellung zu erreichen
8. Schutz der Umwelt und Unterstützung der Landwirtschaft
9. Wiederaufbau unserer Industrie durch Förderung eines neuen Entwicklungsmodells
10. Weniger Steuern für diejenigen, die wenig haben, und mehr für diejenigen, die viel haben
11. Bekämpfung der Mafia und Gewährleistung einer gerechten Justiz
12. Wachsende Rechte und Freiheiten
Dies sind ehrgeizige Vorschläge, die jedoch notwendig sind, um die seit langem bestehenden Probleme unseres Landes und die neuen Notlagen der letzten Jahre zu bewältigen. Es ist ein visionäres und zugleich konkretes Programm, das dem Recht auf Glück Vorrang einräumt".
Dies sind die ersten Zeilen des Programms der Unione Popolare (Sie finden es in italienischer Sprache hier: http://unionepopolare.blog/programma/
"Ist nicht das Recht auf Glück der Programmpunkt jeder Partei, die links sein will? Eine glückliche Würde, die jedem Menschen Erfüllung garantiert - durch das, was er tut und was er tun kann", kommentiert der italienische Autor Giulio Cavalli das Programm der Unione Popolare.
Unione Popolare:
Anmerkungen:
[1] Left, 5.8.2022: De Magistris: «L’Unione popolare è l’unica vera alternativa alle destre»
https://left.it/2022/08/05/de-magistris-lunione-popolare-e-lunica-vera-alternativa-alle-destre/