16.10.2024: Wenn die Linke die Ursachen des Krieges vergisst. Zum Ja von Carola Rackete im Europaparlament, dass die Ukraine mit Waffen der NATO-Staaten auch Gebiete in Russland angreifen darf. ++ "Carola Rackete erteilt Patente und Lektionen darüber, was unter links zu verstehen sei", empört sich der EU-Abgeordnete der Fünf-Sterne-Bewegung, Danilo Della Valle ++ "Die ethische Betrachtung ist ein schlechter Ersatz für die politische Analyse", sagt Filippo Barbera, Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turin
Am 19. September stimmte das EU-Parlament mit großer Mehrheit (425 Ja, 131 Nein, 63 Enthaltungen) der Resolution "Anhaltende finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine durch die Mitgliedstaaten der EU" zu, in der die NATO, die EU und die EU-Mitgliedstaaten aufgefordert werden, den Krieg in der Ukraine weiter zu eskalieren.[1]
Die Angehörigen der Linksfraktion "The Left" stimmten uneinheitlich ab: 20 Abgeordnete lehnten die Resolution ab, 9 stimmten ihr zu und 12 enthielten sich. Carola Rackete, die im Juni dieses Jahres als Parteilose auf der Liste der Partei Die Linke ins EU-Parlament gewählt wurde, stimmte zusammen mit den linken Abgeordneten aus den nordischen Ländern mit Ja. Der Ko-Vorsitzende der Partei Die Linke, Martin Schirdewan, enthielt sich. (siehe kommunisten.de, 24.9.2024: Die Mehrheit des Europäischen Parlaments will den Krieg in der Ukraine weiter eskalieren. Mit Stimmen von Linken)
In einem Interview mit der italienischen Zeitung La Stampa [2] begründete Carola Rackete ihr Abstimmungsverhalten und sprach allen das "Linkssein" ab, die nicht ihre Position teilen.
Allerdings hatten die acht italienischen Abgeordneten Antoci, Della Valle, Furore, Morace, Palmisano, Pedullà, Tamburrano und Tridico von Movimento 5 Stelle (Fünf-Sterne-Bewegung M5S) und Salis von Sinistra Italiana (Italienische Linke) geschlossen mit Nein gestimmt.
Der EU-Abgeordnete Danilo Della Valle (M5S) wies den Vorwurf von Carola Rackete empört zurück:
"Carola Rackete erteilt Patente und Lektionen darüber, was unter links zu verstehen sei"
"Wir erinnern Carola Rackete, die sich mit Rettungsaktionen auskennt, daran, dass nur der Frieden Leben rettet, während der Krieg nur Zerstörung und Tod bringt. Wir waren überrascht, und zwar nicht wenig, über den Ton des Interviews, das sie der 'La Stampa' gegeben hat, in dem die Europaabgeordnete der Partei Die Linke Patente und Lektionen darüber erteilt, was unter links zu verstehen sei. Sie erinnert uns daran, dass die Unterdrückten die ersten Opfer der Bomben sind, sie sind es, die den höchsten Preis für jeden Krieg zahlen. Eine Linke, die sich nicht verrät, kann daher nur auf der Seite des Friedens stehen, ohne Wenn und Aber. Alles andere sind die üblichen Argumente, mit denen Politiker wie Meloni und Renzi Waffenlieferungen an die Ukraine rechtfertigen, und das sagt viel über die subalterne Rolle aus, die die so genannte "Linke" heute in Europa spielt. Im Gegenteil, die Linke muss wieder dazu übergehen, den Bürgern, ihren Forderungen und ihrem Leid zuzuhören, mit einem Konzept, das die Werte des Friedens, die dem europäischen Projekt innewohnen, nicht verrät.“
Filippo Barbera, Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turin, setzt sich in der kommunistischen Zeitung il manifesto grundsätzlich mit der Argumentation von Carola Rackete - "Links sein bedeutet, auf der Seite der Unterdrückten zu stehen, ob in Palästina, Kurdistan oder der Ukraine: Deshalb muss die EU weiterhin Waffen an Kiew liefern und Angriffe auf russisches Territorium zulassen" – auseinander:
Auf der Seite der Unterdrückten oder gegen die Unterdrücker
Die ethische Betrachtung ist ein schlechter Ersatz für die politische Analyse
Filippo Barbera, il manifesto, 3. Oktober 2024:
Die Linke steht auf der Seite der Unterdrückten. Putin ist in die Ukraine eingedrungen und unterdrückt die Menschen dort. Deshalb ist es richtig, sowohl für Waffenlieferungen an die Ukraine als auch für deren Einsatz auf russischem Territorium zu stimmen. Mit dieser Logik hat Carola Rackete, die für Die Linke ins Europäische Parlament gewählt wurde, öffentlich ihr Votum für Waffenlieferungen an die Ukraine begründet. Sie vertrete damit die gleiche Position wie die Linke in den skandinavischen Ländern Finnland, Schweden und Dänemark.
Der "logische Schluss" (Syllogismus) ist jedoch irreführend. Die Linke ist nicht nur oder ausschließlich auf der Seite der Unterdrückten, sonst wäre sie nicht vom barmherzigen Samariter oder einer anderen karitativen Organisation zu unterscheiden.
Sie ist oder besser gesagt, sie sollte gegen die Unterdrücker sein. "Stark ist die Faust, die in jedem Land, in jeder Stadt zuschlägt. ... Wie derjenige, der mit dem Herzen kämpft, für die Sache der Armen gegen den Unterdrücker", sang "Banda Bassotti” in Jahr 1992 in "Figli della stessa rabbia”.
Gegen den Unterdrücker, nicht für die Unterdrückten. Der Unterschied ist substanziell, nicht formal. Denn nur im zweiten Fall, wenn sich das politische Handeln gegen den Unterdrücker richtet, treten die Machtverhältnisse, Machtlogiken, wirtschaftlichen Interessen und Mechanismen zutage, die die internationale Arena prägen. So werden die Ursachen des Krieges, das, was auf dem Spiel steht, und die Strategien der Akteure umrissen.
Der Blick auf die Unterdrückten und das Vergessen der Unterdrücker hat jedoch den gegenteiligen Effekt. Die ethische Betrachtung ist ein schlechter Ersatz für die politische Analyse und die Theorie-Praxis-Beziehung. Politisch in die Regulierung internationaler Konflikte einzugreifen ist nicht dasselbe wie dem Team Sea-Watch 3 - mehr als verdienstvoll - zu helfen. Aber dieselbe Logik von einem Kontext auf einen anderen zu übertragen, bedeutet nämlich, die grundlegenden Unterschiede zu übersehen und sehr unterschiedliche Rollen, Verantwortlichkeiten und Handlungslogiken zu überlagern.
Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass das ukrainische Volk durch die Invasion Putins unterdrückt wird, doch ist es mehr als legitim, daran zu zweifeln, dass Putin der alleinige Unterdrücker ist, der von einem unbändigen Eroberungswillen - wenn nicht gar von geistiger Verwirrung - angetrieben wird und sich durch einseitige Entscheidung nicht an die im Gesetz verankerten Regeln hält. Dies ist gleichbedeutend mit der Verkennung der Tatsache, dass die internationale Arena nicht von der Moral oder gar der Kraft des Völkerrechts geleitet wird. Wäre dies der Fall, würden wir nicht Zeuge des Massakers am palästinensischen Volk und der Bombardierung der libanesischen Zivilbevölkerung sein. Denn wäre dies der Fall, würden wir nicht die schrittweise Delegitimierung der UNO erleben, die Netanjahu vor einigen Tagen als "verächtliche Farce" und "antisemitischen Sumpf" bezeichnete. Die Komplizenschaft des westlichen Blocks und der entschuldigende Ton, mit dem Tausende von Toten in der Zivilbevölkerung gerechtfertigt werden, haben die Möglichkeit eines Gut/Böse-Manichäismus endgültig zunichte gemacht.
Es zeigt sich immer deutlicher, dass Recht, Werte und Moral, ohne Analyse und politisches Handeln gegen die Unterdrücker zu richten, nur eine ideologische Funktion erfüllen: Sie verschleiern Ursachen und Interessen, sie erzwingen die Einteilung der Welt in Gut und Böse, sie weisen Masken zu und schaffen beruhigende Szenarien für diejenigen, die - wie Carola Rackete - die Logik der Hilfe und der Unterstützung mechanisch in den politischen Kontext der supranationalen Institutionen übersetzen.
In dem Interview fügt Rackete hinzu, dass ihr Votum von der Idee motiviert ist, dass es keinen "Frieden ohne Gerechtigkeit" geben kann. Auch hier gilt, dass ein gerechter Frieden das Ziel der Linken sein sollte. Auch hier sind die Implikationen der Aussage recht unterschiedlich, wenn die Perspektive für "die Unterdrückten" oder gegen "den Unterdrücker" ist. Im ersten Fall wird impliziert, dass Waffen notwendig sind, um das Ziel zu erreichen, die besetzten ukrainischen Gebiete den russischen Truppen zu entreißen und sie so dem unterdrückten ukrainischen Volk zurückzugeben. Diese Aussage steht im Einklang mit Von der Leyens Idee, Russland "auf dem Feld zu schlagen".
Wenn es aber in erster Linie um das Problem "gegen den Unterdrücker" geht, dann geht es nicht darum, Putin heute aus den eroberten Gebieten zu vertreiben, sondern um die Frage, was jetzt zu tun ist, nachdem es nicht gelungen ist, mit ihm zu verhandeln, um ihn dann nicht eindringen zu lassen. Man hätte vor der Invasion über die gegenseitigen Sicherheitsbedingungen für den Aufbau einer Machtstruktur verhandeln müssen, die einer Welt ohne eine einzige Hegemonialmacht angemessen ist. Denn die Unterdrückung des ukrainischen Volkes begann mit dieser gescheiterten Entscheidung.
Gegen den Unterdrücker zu sein, würde daher bedeuten, zumindest diesen tragischen Fehler anzuerkennen und zu erkennen, dass die Mechanismen der Unterdrückung auch uns, unsere Institutionen und unsere Interessen betreffen.
Wenn das Völkerrecht und der moralische Kompass des "gerechten Friedens" die Richtschnur für unser Handeln sein müssen, dann müssen wir uns fragen, wer heute daran arbeitet, dass diese Mechanismen nicht funktionieren – und warum; wer die supranationalen Institutionen delegitimiert; wer die Regeln und Organisationen, die mit der Anwendung des Völkerrechts betraut sind, nicht anerkennt.
Anmerkungen
[1] Europäisches Parlament, 19. September 2024: P10_TA(2024)0012. Anhaltende finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine durch die Mitgliedstaaten der EU
https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-10-2024-0012_DE.pdf
[2] La Stampa, 28.9.2024: Guerra Russia-Ucraina, Rackete: "Ma è di sinistra dare armi agli oppressi”
https://www.lastampa.it/esteri/2024/09/28/news/russia_ucraina_rackete_armi_kiev-14670729/
deutsche Übersetzung: https://emanzipation.org/2024/10/links-sein-bedeutet-auf-der-seite-der-unterdrueckten-zu-stehen