14.12.2016: "Auch wenn der Aufstieg des autoritär-rechtspopulistischen Neoliberalismus vielen Angst macht: Die politische Situation bleibt offen für ihre fortschrittliche Auflösung, für die weitere Entfaltung einer solidarischen Moderne", so macht das Institut für Solidarische Moderne (ISM) Mut für die Bundestagswahl 2017. Mit einem Lagerwahlkampf sollen DIE LINKE, die Grünen und die SPD dazu getrieben werden, sich deutlich links zu positionieren, und die gesellschaftliche linke Mehrheit durch politische Projekte zu formieren. Bei Rot-Rot-Grün dürfe es nicht um ein bloß wahltaktisches Projekt der drei Parteien gehen, sondern um ein strategisches Projekt des linken Pols der Gesellschaft, meint das ISM.
Das Brexit-Votum und die amerikanischen Präsidentschaftswahlen haben die Krise der klassischen neoliberalen Politik dramatisch beschleunigt. Der Neoliberalismus wird "auf die Kombination setzen, die zuerst in Ländern wie Ungarn und Polen, dann in Großbritannien und jetzt in den USA funktioniert hat: die Kombination einer über ihr Scheitern hinweg fortgeführten neoliberalen Politik mit der Freisetzung des sozial-nationalen Ressentiments in der Mitte wie im unteren Feld der Gesellschaft. Damit diese brandgefährliche Mixtur funktioniert, wird sie sich in jeweils landestypischen Variationen repräsentieren. Eine neoliberale Mitte oder eine neoliberale 'Linke' wird dann keine relevante politische Kraft mehr sein", so das Institut für Solidarische Moderne (ISM).
Trump oder Clinton? Fillon oder Le Pen? Hofer oder Van der Bellen? Brexit oder neoliberale EU? Die Bevölkerung darf sich aussuchen, ob sie in einem neoliberalen Weiter-so leben möchte, bestehend aus Arbeitslosigkeit, Dumping-Löhnen und EU-Türkei-Flüchtlingsdeals – oder ob sie den ultrarechten Pfad tief hinein in Rassismus, Nationalismus und Sozialchauvinismus will.
Wo bleibt der linke Ausweg aus dem Dilemma?
Unter dem Titel "Das Unmögliche versuchen" entwirft das Institut Solidarische Moderne (ISM) eine Perspektive für eine Linkswende. (voller Text unten)
Mehr als SPD, Grüne und LINKE: Den 'dritten Pol' formieren
"Auch wenn der Aufstieg des autoritär-rechtspopulistischen Neoliberalismus vielen Angst macht: Die politische Situation bleibt offen für ihre fortschrittliche Auflösung", macht das ISM Mut – und weist daraufhin, dass insbesondere in Deutschland, anders als in Frankreich oder Großbritannien, eine linke Regierungsoption auf dem Tisch liegt. Rot-Rot-Grün sei aber nur dann eine Alternative, wenn es mehr werde als die Summe seiner einzelnen Teile, mehr als ein Farbenspiel oder die zusammengezählte Stimmenmehrheit bei der Bundestagswahl: "Eine rot-rot-grüne Bundesregierung, die unterm Strich keinen Unterschied macht, wird dasselbe Schicksal erleiden wie eine zweite schwarz-rote oder eine schwarz-grüne Option: Sie wird die deutsche Variante eines offen autoritären Neoliberalismus nur um vier kurze und folgenlose Jahre aufgeschoben haben", warnt das ISM.
Rot-Rot-Grün habe deshalb nur dann eine Chance verdient, wenn es ganz anders gedacht wird: als ein Projekt der gesellschaftlichen Linken und der solidarischen Milieus; als eine politische Idee, die allen drei Parteien von außen aufgedrängt wird und sie dazu nötigt, sich zu ändern und über sich hinauszuwachsen.
"Die Probe dafür wird ein Lagerwahlkampf sein, der rechts und links unüberbrückbar voneinander trennt", schreibt das ISM und schränkt ein: "So, wie die Dinge liegen, werden wir ihn zu unserer eigenen Sache machen müssen: mit diesen Parteien, doch über das hinaus, was sie von sich aus anzubieten haben.
Treiben wir SPD, Grüne und LINKE deshalb in genau das Entweder-Oder, das sie je auf ihre Weise scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Geben wir ihnen damit eine letzte Chance. Tun wir das in aktiver Weise und aus einer eigenständigen 'vierten Position' heraus. Machen wir ihnen klar, dass wir sie nicht mehr als 'kleineres Übel' gewähren lassen werden. Zeigen wir ihnen, dass ihnen diese Möglichkeit längst von rechts genommen worden ist, nach dem Brexit, nach dem Sieg Trumps, nach dem absehbaren Absturz der österreichischen wie der französischen Sozialist_innen. Sagen wir ihnen unmissverständlich, dass wir ihnen diese Möglichkeit jetzt auch von links her nehmen."
Das ISM plädiert dafür, im Verhältnis zu den rot-rot-grünen Parteien eine 'Vierte Position' einzunehmen. "Fügen wir dem klassisch neoliberalen Pol des 'Weitermachens' und dem autoritär-neoliberalen Pol des sozial-nationalen Ressentiments eine 'Dritte Option' des bunten 'crossover' hinzu: die dritte Option eines tatsächlich linken Richtungswechsels. Dabei geht es um mehr und anderes als nur um eine andere Regierung, die als Regierung, das wissen wir doch alle, immer ungenügend sein wird", so das ISM und betont, dass es um sehr viel mehr geht, "als nur um einen Aushandlungsprozess zwischen drei Parteien oder ihren parlamentarischen Repräsentationen. Gesellschaftliche Alternativen für einen solidarischen und nachhaltigen Einstieg in den Ausstieg aus mehr als drei Jahrzehnten Neoliberalismus entstehen nicht in Hinterzimmern, nicht in engen Zirkeln und auch nicht am Reißbrett. Sie müssen in der Breite der verschiedenen Milieus diskutiert werden, aus denen sie erwachsen".
Vor diesem Hintergrund schlägt das ISM vor, dass als ein erster Schritt "die begrüßenswerten Gespräche zwischen den Bundestagsfraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE um zivilgesellschaftliche, gewerkschaftliche und außerparlamentarische Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen erweitert werden. Ein breites progressives Reformbündnis ist schon deshalb wichtig, weil nicht erst eine tatsächliche Linksregierung, sondern schon eine zu sich selbst ermutigte rot-rot-grüne Koalition auf massive neoliberale und konservative Widerstände stoßen wird. Die gescheiterten Eliten werden nicht kampflos aufgeben, so wenig übrigens wie die Kräfte eines autoritär fortgeführten Neoliberalismus."
Strategische Ziele anstelle 'roter Haltelinien'
Um den Streit um 'rote Haltelinien' zu umgehen, schlägt das ISM vor, sich auf strategische Ziele zu einigen: "Eine sozialökologische Transformation braucht eine nachhaltige, ressourcenschonende, solidarische und demokratische Wirtschaft, braucht aus Naturbeherrschungs- und Wachstumwahn herauswachsende Arbeits- und Lebensweisen und einen vor Ort und im Ganzen transnationalen, europäischen Horizont. In Deutschland setzt das ein Ende des neoliberalen Exportmodells, in Europa ein Ende der Austeritätspolitik und der zuletzt auch selbstzerstörerischen Wettbewerbsorientierung voraus." In dem Papier werden dann dafür fünf politische Zielsetzungen benannt:
- Ein Investitionsprogramm in eine sozialökologische Infrastruktur, das die Energiewende vollzieht und durch öffentliche Verschuldung und gestärkte Steuereinnahmen die öffentliche Daseinsvorsorge sichert.
- Soziale Sicherung: Das ISM fordert eine Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen auf transnationaler Ebene, eine Arbeitszeitverkürzung und einen höheren Mindestlohn. All das soll die materielle, kulturelle und politische Teilhabe ermöglichen und Sorgearbeit aufwerten sowie umverteilen.
- An die Stelle des Streits um die NATO-Mitgliedschaft will das ISM eine Diskussion über eine Wende in der Außenpolitik hin zur Friedenspolitik diskutieren, eine Demokratisierung von EU und den Vereinten Nationen sowie eine Neustrukturierung der internationalen Sicherheitssysteme und Geheimdienste.
- Zur Stärkung der Gerechtigkeit in Europa schlägt das ISM vor, die politischen Kompetenzen der Kommunen zu erweitern und einen verfassungsgebenden Prozess für eine andere EU und eine transnationale BürgerInnenschaft zu beginnen. Damit einher geht eine Debatte um ein Recht auf Migration.
- Im solidarischen Lager soll es außerdem eine Debatte um das Recht auf selbstbestimmte Lebensweise geben: ein Streit darum, wie wir uns das gute Leben vorstellen, soll dem Sexismus, Nationalismus und Rassismus entgegen gesetzt werden.
Um diese fünf politischen Zielsetzungen und Diskussionsstränge könnte sich ein 'Dritter Pol' formieren, eine linke politische Perspektive, die das sozial und solidarisch orientierte Lager in Deutschland zusammenbringt und organisiert – als Alternative zum Rechtspopulismus, aber auch zum Neoliberalismus unter Merkel und unter der alten SPD.
Wenn SPD, Grüne und LINKE sich als unfähig erweisen, den politischen Wechsel einzuleiten, dann sollten "wir uns heute schon auf die Brüche vorbereiten, die wir widrigenfalls ab 2018 vollziehen werden", mahnt das ISM und ruft auf:
"Arbeiten wir von jetzt an der Chance einer neuen linken Mehrheit, die zuerst eine gesellschaftliche sein wird. Durchbrechen wir damit das lähmende Gefühl der politischen Alternativlosigkeit, das auch aus der einseitigen Fixierung auf Oppositions-, Protest- oder Bewegungspolitik resultiert. Eine Politik der Hoffnung wird es in absehbarer Zeit nur geben können, wenn sie offensiv mit-regieren will und sich deshalb selbst zu einem gleichermaßen realistischen und utopischen Transformationsprojekt nötigt: einem Projekt, das mehr umfasst als Parteien- und Bewegungspolitik; einem Projekt, dass das eines gesellschaftlichen Lagers sein wird – und das anders regieren wird als nur über eine Koalitionsregierung. Für diese Möglichkeit spricht, dass wir weder die einzigen noch auch nur die ersten sind, die ihr nachgehen. Je auf ihre Weise haben die Kampagnen von Bernie Sanders und Jeremy Corbyn und die Bewegungen hinter Podemos und Syriza schon dasselbe getan. …
Das liegt auch an uns – uns allen innerhalb und außerhalb der Organisationen."
Das Unmögliche versuchen
Thesen zu r2g und einer neuen linken Mehrheit
„Doch hier ist zu sagen: nicht das Mögliche ist gestorben, sondern die Lust am Möglichen,
nicht die Veränderung ist geschwunden, sondern das Streben nach ihr,
nicht das Leben ist aus, sondern der Wunsch es zu ändern,
nicht die Geschichte ist tot, sondern der Wunsch, sie zu machen.“
Henri Lefebvre/Catherine Régulier
Das Brexit-Votum und die amerikanischen Präsidentschaftswahlen haben die Krise der klassischen neoliberalen Politik dramatisch beschleunigt. Das Fiasko der Clinton-Kampagne zeigt, dass der Neoliberalismus nur noch nach rechts driften kann und deshalb auch nach rechts driften wird - ihm bleibt nur noch die Flucht nach vorn. Er wird dabei auf die Kombination setzen, die zuerst in Ländern wie Ungarn und Polen, dann in Großbritannien und jetzt in den USA funktioniert hat: die Kombination einer über ihr Scheitern hinweg fortgeführten neoliberalen Politik mit der Freisetzung des sozial-nationalen Ressentiments in der Mitte wie im unteren Feld der Gesellschaft. Damit diese brandgefährliche Mixtur funktioniert, wird sie sich in jeweils landestypischen Variationen repräsentieren.
Eine neoliberale Mitte oder eine neoliberale „Linke“ wird dann keine relevante politische Kraft mehr sein. Die französischen und österreichischen Sozialist_innen sind im Grunde bereits abgewählt und folgen dem Weg der Pasok. Den spanischen Sozialist_innen bleibt nur der Trost, erst am Anfang der Amtszeit zu stehen, die sie sich im Pakt mit Rajoy erschlichen haben. Sollte sich die deutsche Sozialdemokratie noch einmal an Merkel binden und im Huckepack vielleicht sogar eine weitere Amtszeit gewinnen, wird sie 2021 deutlich unter 20% liegen. Sollten die Grünen die SPD als Mehrheitsbeschafferin der CDU/CSU ablösen, werden sie im gleichen Wahlgang um den Wiedereinzug in den Bundestag bangen müssen. Game over.
Eine linke Antwort auf die Globalisierung
Nichts geht mehr? Ganz im Gegenteil. Die allgegenwärtige Polarisierung und Politisierung stellen uns allen vielmehr eine grundlegende Frage: Wie weiter mit und in einer Welt der Globalisierung?
Was tun, wenn sie sich im „Jahrhundert der Migration“ nun auch von unten globalisiert – und sich gleichzeitig inmitten unserer Gesellschaften die Vielfalt der Geschlechteridentitäten, der Herkunft, der Lebens- und Liebensweisen weiter multipliziert? Und zugleich: Was tun in einer Situation der tiefen Verunsicherung, der Abschottung und der Ressentiments? Wie verkehren wir die Bedrängnis in eine fortgesetzte Emanzipation unserer Lebenswelten und eine solidarische, demokratische und ökologische Globalisierung des Politischen?
Mit einer Rückkehr zum linken Sozialstaatsnationalismus lassen sich diese Fragen ganz offenkundig nicht beantworten – so wenig allerdings wie mit einer bloßen Politik der Differenz, die den Kern der neoliberalen Prozesse unangetastet lässt. Gesucht wird vielmehr eine linke Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung von oben wie von unten. Eine Antwort, die in kultureller Befreiung und solidarischer Weltoffenheit die Potenziale einer neuen linken Politik der Gleichheit und Freiheit entdeckt.
Deutschland vor der Wahl
Auch wenn der Aufstieg des autoritär-rechtspopulistischen Neoliberalismus vielen Angst macht: Die politische Situation bleibt offen für ihre fortschrittliche Auflösung, für die weitere Entfaltung einer solidarischen Moderne. Soll sich eine solche „Dritte Option“ auftun – jenseits von Clinton oder Trump, Hofer oder van der Bellen, von Brexit oder „Weiter so“ –, dann muss sie jedoch mehr bieten als eine Neuauflage des nationalen Wohlfahrtsstaates oder eines „linken“ Neoliberalismus.
Wir glauben, dass die Spielkarten der Geschichte in Deutschland, dem Machtzentrum der Europäischen Union, etwas anders gemischt sind als in Frankreich oder Großbritannien. Hier gibt es seit Jahren eine andere, zwar mehrfach schon beschädigte, wiederholt abgewählte, doch nach wie vor gangbare Option. Sie hängt zum einen an der ganz besonderen Ausdifferenzierung der parteipolitischen Linken. Sie hängt zum anderen an der gesellschaftlichen Unterstützung, die dieser nirgendwo sonst gegebenen Konstellation zukommt. Seit vielen Jahren erringt sie, wenn auch mit Ausschlägen nach unten, rund die Hälfte der bei Bundes- wie Landtagswahlen abgegebenen Stimmen.
Dass nur ein Teil dieser Stimmen auf eine entschieden linke Regierung zielen, ist jeder und jedem klar: das wird auch morgen noch nicht anders sein. Trotzdem birgt diese Konstellation eine Chance, die 2017 endlich ergriffen werden kann: vielleicht zum letzten Mal.
Von der neuen linken Mehrheit zur rot-rot-grünen Koalition?
Müssen wir also schon wieder über Rot-Rot-Grün sprechen? Ja, das sollten wir. Weil r2g von einem bloß wahltaktischen Projekt der drei Parteien zu einem strategischen Projekt des linken Pols der Gesellschaft werden könnte. Weil r2g das Potenzial hat, mehr zu sein als die Summe seiner Teile.
Weil in unserer Gesellschaft starke und sogar wachsende gesellschaftliche Bedürfnisse nach mehr demokratischer Teilhabe und individueller Selbstbestimmung wirken, nach guter Arbeit oder einer nachhaltig sinnstiftenden, solidarischen Lebensweise. Diese Bedürfnisse – wir verstehen dieses Wort in seinem stärksten Sinn – kamen und kommen in Bewegungen für fairen Handel, in der Geflüchtetensolidarität, in Initiativen für den Rückkauf ehemals kommunaler Netze, in Mieter_innenprotesten oder im Streik der Erzieher_innen bereits zu ihrem politischen Ausdruck. Zugleich gibt es, was ebenso wichtig ist, Entwürfe einer Politik, die tatsächlich einen Unterschied machen würde. Wir selbst sprechen seit langem schon vom Projekt einer sozialökologischen Transformation, von der Chance einer solidarischen Moderne. Ein von tausenden von Gewerkschaftler_innen unterzeichneter Aufruf „Europa geht anders“ spricht von einer „Kehrtwende hin zu einem demokratischen, sozialen und ökologischen Europa der Vielen“. Das Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM 25) arbeitet grenzüberschreitend an der „Progressiven Agenda“ eines verfassungsgebenden Prozesses für eine fortlaufend zu demokratisierende EU.
Lagerwahlkampf!
Weil das so ist, wird auch öffentlich wieder ohne Scheu von der Möglichkeit einer rot-rot-grünen Bundesregierung gesprochen. So trafen sich jüngst knapp 100 Parlamentarier_innen der drei Parteien, um ihr eine neue Plattform zu bieten. Endlich, könnte man meinen. Doch steht das neu aufgelegte Spiel erkennbar unter dem Verdacht, einen „Politikwechsel“ bloß zu fingieren, aus opportunistischem Kalkül oder aus Einfallslosigkeit. Das aber wird, wie die Niederlage Clintons zeigt, nicht mehr reichen. Auf den Punkt gebracht: Eine rot-rot-grüne Bundesregierung, die unterm Strich keinen Unterschied macht, wird dasselbe Schicksal erleiden wie eine zweite schwarz-rote oder eine schwarz-grüne Option: Sie wird die deutsche Variante eines offen autoritären Neoliberalismus nur um vier kurze und folgenlose Jahre aufgeschoben haben. Soll das anders werden, müsste eine solche Regierung schon im Vorfeld der Wahl nicht nur eine Konstellation unter vielen anderen, sondern das sein, worauf sich die drei Parteien strategisch und programmatisch verständigen.
Die Probe dafür wird ein Lagerwahlkampf sein, der rechts und links unüberbrückbar voneinander trennt. So, wie die Dinge liegen, werden wir ihn zu unserer eigenen Sache machen müssen: mit diesen Parteien, doch über das hinaus, was sie von sich aus anzubieten haben.
Treiben wir SPD, Grüne und LINKE deshalb in genau das Entweder-Oder, das sie je auf ihre Weise scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Geben wir ihnen damit eine letzte Chance. Tun wir das in aktiver Weise und aus einer eigenständigen „vierten Position“ heraus. Machen wir ihnen klar, dass wir sie nicht mehr als „kleineres Übel“ gewähren lassen werden. Zeigen wir ihnen, dass ihnen diese Möglichkeit längst von rechts genommen worden ist, nach dem Brexit, nach dem Sieg Trumps, nach dem absehbaren Absturz der österreichischen wie der französischen Sozialist_innen. Sagen wir ihnen unmissverständlich, dass wir ihnen diese Möglichkeit jetzt auch von links her nehmen.
Unterstreichen wir das auch dadurch, dass wir uns heute schon auf die Brüche vorbereiten, die wir widrigenfalls ab 2018 vollziehen werden.
Rücken wir den r2g-Parteien also auf den Pelz. Treiben wir sie durch den Lagerwahlkampf in eine rot-rot-grüne Koalition. Machen wir ihnen Mut, indem wir ihnen ausdrücklich sagen, dass wir wissen, dass der Ausstieg aus dem Neoliberalismus nicht allein die Sache einer Regierung, also auch nicht die Sache nur von Parteien sein kann. Helfen wir ihnen also bei einer Politik des Einstiegs in den Ausstieg, der nur in gesellschaftlicher Bewegung gelingen kann. Machen wir uns dabei selbst klar, dass eine solche Bewegung in diesem Land, also im Machtzentrum der EU, ganz Europa zum Resonanzraum eines solchen Ausstiegs machen wird. Machen wir also auch uns selbst Mut zur Umkehr der Perspektive.
Anders Regieren!
Gehen wir die neu aufgelegten r2g-Debatten so an, dann öffnen wir uns selbst die Chance nicht nur der Behauptung, sondern auch der Durchsetzung einer anderen Politik. Einer Politik, in der es um mehr und um anderes gehen wird als um das, was in Hinterzimmergesprächen von Parteivertreter_innen besprochen werden kann. Arbeiten wir von jetzt an der Chance einer neuen linken Mehrheit, die zuerst eine gesellschaftliche sein wird. Durchbrechen wir damit das lähmende Gefühl der politischen Alternativlosigkeit, das auch aus der einseitigen Fixierung auf Oppositions-, Protest- oder Bewegungspolitik resultiert. Eine Politik der Hoffnung wird es in absehbarer Zeit nur geben können, wenn sie offensiv mit-regieren will und sich deshalb selbst zu einem gleichermaßen realistischen und utopischen Transformationsprojekt nötigt: einem Projekt, das mehr umfasst als Parteien- und Bewegungspolitik; einem Projekt, dass das eines gesellschaftlichen Lagers sein wird – und das anders regieren wird als nur über eine Koalitionsregierung. Für diese Möglichkeit spricht, dass wir weder die einzigen noch auch nur die ersten sind, die ihr nachgehen. Je auf ihre Weise haben die Kampagnen von Bernie Sanders und Jeremy Corbyn und die Bewegungen hinter Podemos und Syriza schon dasselbe getan.
Warum das so ist? Die „Krise der Repräsentation“, die Abwendung vom bloß inszenierten „Parteiengezänk“, von der immer durchsichtigeren Desinformation durch Lobbyist_innen, "Expert_innen“ und einem durchökonomisierten, auf staats- und machtkonforme Hofberichterstattung reduzierten Medienbetrieb sind zur Banalität unserer Epoche geworden. Schlimmer noch: die weit verbreitete, doch viel zu lange bloß beredete Einsicht in die Ausgelaugtheit und Entleerung der politischen Routinen und der „politikverdrossene“ Affekt gegen „die da oben“ sind längst zum Spielball einer autoritären Rechten geworden, die das sozial-nationale Ressentiment sehr viel besser bedient als jeder „linke“ Versuch, im Trüben mitzufischen. Gleichzeitig aber wird immer deutlicher, dass die Entdemokratisierung nicht einfach durch das Sicheinhausen ins ewig-oppositionelle, berufsprotestlerische und deshalb absehbar folgenlose Rechthaben überwunden werden kann. So unumgänglich, ja so befreiend die aktivistische Selbstermächtigung bleiben wird, so überdeutlich ist zugleich, dass die stetig wachsenden Bedürfnisse nach echter demokratischer Teilhabe auch auf neue und andere Möglichkeiten der politischen Repräsentation angewiesen sind. Öffnen wir sie für selbstbestimmte und weniger hierarchieorientiertere Politikformen und Diskussionen – in den politischen Institutionen, außerhalb ihrer und auch gegen sie. Fangen wir jetzt damit an, im Wahlkampf des ablaufenden und des kommenden Jahres. Hüten wir uns gleichzeitig davor, wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren: Was wir jetzt beginnen, wird 2017 und nach 2017 noch nicht getan sein, im Gegenteil.
Sagen wir es noch einmal: Es geht um sehr viel mehr als nur um einen Aushandlungsprozess zwischen drei Parteien oder ihren parlamentarischen Repräsentationen. Gesellschaftliche Alternativen für einen solidarischen und nachhaltigen Einstieg in den Ausstieg aus mehr als drei Jahrzehnten Neoliberalismus entstehen nicht in Hinterzimmern, nicht in engen Zirkeln und auch nicht am Reißbrett. Sie müssen in der Breite der verschiedenen Milieus diskutiert werden, aus denen sie erwachsen.
Daher sollten – was eine erste und vielleicht entscheidende Forderung ist – die begrüßenswerten Gespräche zwischen den Bundestagsfraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE um zivilgesellschaftliche, gewerkschaftliche und außerparlamentarische Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen erweitert werden. Ein breites progressives Reformbündnis ist schon deshalb wichtig, weil nicht erst eine tatsächliche Linksregierung, sondern schon eine zu sich selbst ermutigte rot-rot-grüne Koalition auf massive neoliberale und konservative Widerstände stoßen wird. Die gescheiterten Eliten werden nicht kampflos aufgeben, so wenig übrigens wie die Kräfte eines autoritär fortgeführten Neoliberalismus. Das sozial-nationale Ressentiment hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch in Deutschland gemordet, vergessen wir das nicht.
Statt Haltelinien: Einstiege ins Offene
Eine sozialökologische Transformation braucht eine nachhaltige, ressourcenschonende, solidarische und demokratische Wirtschaft, braucht aus Naturbeherrschungs- und Wachstumwahn herauswachsende Arbeits- und Lebensweisen und einen vor Ort und im Ganzen transnationalen, europäischen Horizont. In Deutschland setzt das ein Ende des neoliberalen Exportmodells, in Europa ein Ende der Austeritätspolitik und der zuletzt auch selbstzerstörerischen Wettbewerbsorientierung voraus. Dazu braucht es wenigstens fünf systematische Anstrengungen:
- Solidarität – Für ein Investitionsprogramm in eine sozialökologische Infrastruktur.
Wir brauchen ein längerfristig angelegtes, teilweise durch öffentliche Verschuldung vor- und durch verstärkte Steuereinnahmen gegenfinanziertes Investitionsprogramm als Motor des Umbaus und der Stärkung der europäischen Wirtschaft nach dem Desaster der Austerität. Streiten wir deshalb für den Umbau der Wirtschaft, für den systematischen Vorrang der öffentlichen Daseinsvorsorge, gegen das sozial und ökologisch zerstörerische Exportmodell des deutschen wie des Euro-Wirtschaftsnationalismus, gegen eine Produktion um der Produktion willen. Verpflichten wir die Produktion auf das Subsidiaritätsprinzip, auf Gemeinwohl und Gemeingüter, auf das Vollbringen der Energiewende. Steigen wir aus der Idiotie eines Konsumismus aus, in dem wir uns und andere nur noch erniedrigen können. Sorgen wir für die längst überfällige Verrechtlichung der globalen Produktions- und Lieferketten. - Gerechtigkeit – Für die Entprekarisierung der Arbeit und die Transnationalisierung des Sozialen.
Setzen wir endlich eine bedingungslose Grundsicherung der materiellen, kulturellen und politischen Teilhabe am Gemeinsamen durch - transnational. Kämpfen wir für eine Arbeitszeitverkürzung auf der Höhe des technologisch Möglichen, für einen tatsächlich existenzsichernden Mindestlohn und eine allgemeine Bürger_innen- und Erwerbstätigenversicherung. Organisieren wir den Ausbau und sorgen wir für die längst unumgängliche Aufwertung der Sorgearbeiten. Verlangen wir kompromisslos die Garantie der Sicherungs- und Gerechtigkeitsleistungen für alle, die hier sind. Stellen wir uns endlich einer ebenso tiefgreifenden wie weit ausgespannten Debatte um ein anderes Verständnis der schöpferischen Tätigkeiten. - Freiheit und Sicherheit – Für eine bedingungslose Menschenrechtsbindung aller Politik.
Verpflichten wir die Europäische Union auf eine umfassende Wende der Außen- und Sicherheits- zur Friedenspolitik. Demokratisieren wir nicht nur die EU, sondern auch die UN. Gründen wir diese Wende im systematischen Ausbau der sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Grundrechte und setzen wir uns für ihre Globalisierung ein. Konkretisieren wir beides in einer diesen Zielen verpflichteten Neustrukturierung der internationalen Sicherheitssysteme, der Streitkräfte, Polizei und Geheimdienste. Sorgen wir für die Durchsetzung der Grundrechte einer jeden auch und gerade im Cyberspace. - Demokratie – Für ein Europa der Freizügigkeit und der globalen Gerechtigkeit.
Verpflichten wir die Demokratie auf die Globalisierung von Recht und Gerechtigkeit auch in ökonomischer und ökologischer Perspektive. Stärken wir dazu zuerst die demokratische Verfassung unserer Kommunen durch die umfassende Erweiterung ihrer politischen Kompetenzen wie ihrer ökonomischen Ressourcen. Unterstützen wir im selben Zug den verfassungsgebenden Prozess für eine andere Europäische Union und ihre transnationale Bürger_innenschaft. Gründen wir diese Bürger_innschaft auf soziale, ökonomische, kulturelle und politische Verhältnisse, in denen die Inanspruchnahme des Menschenrechts auf Freizügigkeit wirklich zur Sache einer freien Entscheidung werden kann. Verhindern wir die Entstellung des Rechts auf Freizügigkeit zu einer dem ökonomischen Kalkül unterworfenen und deshalb selektiven Einwanderungs-und Abschottungspolitik und beginnen wir eine Debatte um ein Migrationsrecht. - Gleichheit – Für eine selbstbestimmte Lebensweise der Verschiedenheit und der globalen Nachhaltigkeit.
Die auf den Mai 68 folgenden Jahrzehnte waren nie nur Jahrzehnte der neoliberalen Entsicherung, sondern immer auch der Freisetzung unserer Denk- und Lebensweisen und unserer sozialen Beziehungen aus den Zwängen ihrer Herkünfte. Setzen wir diese Bewegung fort, treten wir weiter allen Formen des Sexismus, des Nationalismus und des Rassismus entgegen, eröffnen wir den freien Streit um das Gute Leben. Gründen wir diese Bewegung und diesen Streit auch auf seine materiellen Voraussetzungen: auf eine sozialökologische Infrastruktur, die ausnahmslos allen das Grundrecht auf ökologisch produzierte Nahrungsmittel, auf Wohnen, Gesundheit, freien Verkehr, auf freie Teilhabe an Bildung und Kultur und den Schutz vor jeder Form der Diskriminierung garantiert. Leben wir die Gleichberechtigung in der Freiheit in einer Kultur der demokratischen Dissidenz.
Aus „Vierter Position“ einen „Dritten Pol“ schaffen: Für einen rot-rot-grünen Lagerwahlkampf!
Wenn wir diese (und andere) Bedingungen einer sozialökologischen Transformation Deutschlands und Europas in die Debatte um eine rot-rot-grüne Regierung hineintragen, formulieren wir keine „roten Haltelinien“ des Protests, sondern spitzen den gerade beginnenden Wahlkampf auf einen Lagerwahlkampf zu. Räumen wir uns im Verhältnis zu den rot-rot-grünen Parteien eine „Vierte Position“ ein: eine Position des Drinnen und Draußen. Fügen wir dem klassisch neoliberalen Pol des „Weitermachens“ und dem autoritär-neoliberalen Pol des sozial-nationalen Ressentiments eine „Dritte Option“ des bunten „crossover“ hinzu: die dritte Option eines tatsächlich linken Richtungswechsels.
Dabei geht es um mehr und anderes als nur um eine andere Regierung, die als Regierung, das wissen wir doch alle, immer ungenügend sein wird. Der Dritte Pol will, dass in Deutschland und Europa künftig anders regiert wird, auf allen Ebenen des politischen Lebens. Dieses andere Regieren reicht nicht nur über das institutionalisierte Staats- und Verwaltungshandeln und nicht nur über die Manöver und Taktiken von Parteien, sondern auch über die letztlich resignierte Selbstbeschränkung auf Protest und Opposition hinaus. Wer sich und andere auf dieses Wagnis verpflichtet, macht sich und andere von jeder Rettung durch ein „höheres Wesen“ frei – auch von den säkularen Varianten, die dieses Wesen in dem einen oder anderen „Subjekt der Geschichte“ gefunden hat. „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun“, heißt es in einem alten Lied.
Für den jetzt beginnenden Wahlkampf heißt das, SPD, Grüne und LINKE auf die Notwendigkeit einer progressiven Regierung zu verpflichten – gleich, ob als Koalitions- oder als tolerierte Minderheitsregierung.
Für die Sozialdemokratie wird das heißen, ihren im Namen des „Förderns und Forderns“ betriebenen Klassenkampf von oben einzustellen und sich aus ihrer bedingungslosen Selbstverpflichtung auf den global operierenden deutschen Exportnationalismus zu lösen. Sie könnte sich dann wieder auf die lange Frist eines „demokratischen Sozialismus“ einlassen, der seinen Namen zu Recht tragen wird.
Für die Grünen heißt das, die sich jedem möglichen Wahlsieger anbiedernde Orientierung auf ein nur noch pragmatisches Mitregieren um jeden Preis aufzugeben. Sie würden sich damit die Chance öffnen, sich den eigenen ökologisch-demokratischen, feministischen und gewaltfreien Aufbruch zurückzugewinnen, die aufgeklärte Treue zum Mai 68.
Für die LINKE heißt das, sich unzweideutig vom sozial-nationalen Ressentiment und zugleich von jeder anderen autoritären Versuchung frei zu machen. Sie gewönne damit ihre älteste Wahrheit zurück, die Einsicht, dass Freiheit, Gleichheit und Solidarität an keiner inneren und äußeren Grenze Halt machen können.
Wir wollen eine Regierung, die einen Unterschied möglich macht und deshalb mit dem Neuen und Anderen wenigstens beginnt, auf das wir alle je auf unsere Weise setzen. Dies wird nur gelingen, wenn sich Parteien und Politiker_innen in den Dienst der Menschen und einer Idee stellen – und nicht umgekehrt die Menschen für ihre eigenen Ziele und Strategien benutzen. Wir wissen, dass die drei Parteien davon weit entfernt sind. Trotzdem: Den Versuch ist es wert. Denn nüchtern betrachtet ist r2g das Beste, was rot, grün und rot derzeit werden können.
Der Vorstand des Institut Solidarische Moderne (ISM), Dezember 2016
Quelle: ISM "Das Unmögliche versuchen" (pdf-Datei)
siehe auch