13.10.2017: Rajoy: in Katalonien eskalieren "Radikalismus, Ungehorsam und Tumulte" ++ Madrid geht den Weg der "nuklearen Option": Ultimatum an Barcelona und Einleitung des Prozesses zur Absetzung der katalanischen Regierung ++ Unidos Podemos fordert Dialog ohne Vorbedingungen ++ Ermittlungen wegen 'Rebellion' ++ Verteidigungsministerin bereitet spanisches Militär auf Intervention vor
Madrid geht den Weg der "nuklearen Option", charakterisiert die spanische Ausgabe der Financial Times die Antwort des Ministerpräsidenten der Regierung des Königreichs Spaniens, Mariano Rajoy, an den katalanischen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont.
Puigdemont hatte am Dienstag (10.10.) in seiner Rede vor dem katalanischen Regionalparlament das Recht Kataloniens auf Unabhängigkeit betont. "Wir sind keine Verbrecher, wir sind keine Putschisten", sagte er. Er beklagte, dass die Zentralregierung in Madrid jeglichen Dialog über die Zukunft Kataloniens "radikal und absolut" abgelehnt habe. Er erinnerte daran, dass Rajoy als Oppositionsführer vor einem Jahrzehnt die Aufhebung des Autonomiestatuts für Katalonien mit Erfolg vorangetrieben habe, obwohl dieses von den Parlamenten in Madrid und Barcelona sowie von den Katalanen in einem Referendum angenommen worden war. [Anmerkung]
In seiner Rede bekräftige Puigdemont, dass sich die Bevölkerung Kataloniens mit dem Referendum vom 1. Oktober das Recht auf einen unabhängigen Staat erworben habe. Er "nehme den Auftrag an, dass Katalonien sich in einen unabhängigen Staat in Form einer Republik verwandelt", sagte Puigdemont, und setzte sofort hinzu, dass die Umsetzung ausgesetzt sei, um einen Dialog mit der Zentralregierung einzuleiten. Nach den Worten Puigdemonts müsste ein Weg gefunden werden, um die Trennung Kataloniens von Spanien einvernehmlich zu regeln.
In dem von Puigdemont und Abgeordneten der Unabhängigkeitsparteien in einem symbolischen Akt unterzeichneten, aber umgehend ausgesetzten Dokument heißt es, dass sich Katalonien als Republik und als "unabhängiger, souveräner Staat der demokratischen und sozialen Rechte" konstituiert.
Puigdemont für Dialog
Das Dokument wurde nicht im Tagungssaal des Parlaments unterzeichnet und auch nicht im offiziellen Protokoll der Regionalregierung (Generalitat) veröffentlicht. Für Pablo Iglesias (Podemos) und Alberto Garzon (Vereinigte Linke, Izquierda Unida IU) ist dies der Beweis, dass Puigdemont nicht einseitig die Unabhängigkeit erklärt hat. "Puigdemont hat im Parlament die einseitige Unabhängigkeit nicht erklärt. Damit öffnet sich eine Periode des Dialogs und der Hoffnung. Hoffen wir, dass die Regierung die Hand ergreift", twitterte Alberto Garzon nach der Rede von Puigdemont.
Auch Ada Colau, Bürgermeisterin von Barcelona, die in den zurückliegenden Wochen die beide Seiten immer wieder zum Dialog aufgefordert und Puigdemont gebeten hatte, nicht einseitig die Unabhängigkeit auszurufen, war erleichtert. Puigdemont habe sich "klar für den Dialog und die Vermittlung" ausgesprochen, jetzt müsse sich Rajoy bewegen, so Colau. Jetzt sei "nicht der Moment, in dem zwei Züge aufeinanderstoßen, nicht der Eskalation, die niemandem nützt, sondern die Zeit des Dialogs und der Suche nach neuen Wegen", hob Colau hervor.
Selbst die Sozialistische Partei Kataloniens (PSC), die Regionalorganisation der PSOE, sieht in der Erklärung Puigdemonts eine "Gelegenheit für den Dialog" - im Unterschied zur PSOE-Führung in Madrid. Für diese betreibt Puigdemont "Missbrauch mit dem guten Glauben" derjenigen, die auf Verhandlungen setzen. Die PSOE unterstützt Rajoy, den Artikel 155 anzuwenden und die Regionalregierung aufzulösen.
Pablo Iglesias (Podemos) appellierte an Rajoy, die Chance zu ergreifen. Rajoy dürfe nicht auf die "extremistischen Stimmen" in seiner Volkspartei (PP) und seinen Regierungspartner Ciudadanos hören und dürfe jetzt nicht zum Artikel 155 der Verfassung greifen - dies wäre ein "historischer Fehler".
Rajoy stellt Ultimatum
Doch Rajoy nahm die ausgestreckte Hand nicht an. Die spanische Regierung hat der Regionalregierung in Barcelona ein Ultimatum gestellt: Bis Montag müsse sie formal klarstellen, ob sie die Unabhängigkeit der Region erklärt hat oder nicht. Weiter heißt es: Sollte der katalanische Regierungschef Carles Puigdemont bestätigen, dass er die Unabhängigkeit erklärt habe, werde er drei weitere Tage Zeit bekommen, um diese Haltung zu berichtigen. Mache er dies nicht, werde Artikel 155 der spanischen Verfassung zur Anwendung kommen. Dieser ermöglicht der Zentralregierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy, eine Regionalregierung zu entmachten und die Kontrolle über alle Einrichtungen der Regionalregierung zu übernehmen.
Kriegserklärung an Barcelona
In seiner Rede vor dem spanischen Parlament am Mittwoch (11.10.) begründete Rajoy das Ultimatum an Barcelona damit, dass in Katalonien "Radikalismus, Ungehorsam und Tumulte" eskalieren. "Die Regierenden haben einen pflichtvergessenen Angriff auf die Verfassung und das friedliche Zusammenleben zwischen den Bürgern begangen", sagte Rajoy. Das Referendum vom 1. Oktober wertete er als "Farce" ab, das sich "gegen die Demokratie" gerichtet habe und "glatt gescheitert" sei. Er gratulierte den Staatsanwälten und Gerichten, für "ihre Arbeit zu Verteidigung des Allgemeingutes". Guardia Civil und die Policia Nacional, die mit unbeschreiblicher Brutalität gegen die Wähler vorgegangen waren, hätten mit "Hingabe und Professionalität ihre Arbeit ausgeübt". Er entschuldigte sich nicht bei den 900 von der Polizei Verletzten, denn so Rajoy, die Verantwortung für die Verletzten liege bei der katalanischen Regionalregierung
Entschieden wies Rajoy zurück, dass es ein Recht auf Selbstbestimmung gäbe. Es sei "eine betrügerisch Art, sich auf ein Selbstbestimmungsrecht zu berufen, das es in keiner demokratischen Verfassung" gebe.
Ebenso wies Rajoy die Angebote internationaler Vermittler - u.a. von Kofi Annan und Barack Obama - zurück. Es könne keine "Vermittlung zwischen demokratischem Gesetz und Ungehorsam oder Gesetzwidrigkeit" geben. Auch unter dem Gesichtspunkt, dass der Artikel 2 der Verfassung die nationale Souveränität Spaniens festschreibt, sei ein Dialog mit Barcelona nicht zu akzeptieren. Dialog könne es nur innerhalb des legalen Rahmens, d.h. im Rat der Präsidenten oder im Abgeordnetenhaus geben.
Vorstellbar sei eine "Modernisierung der Autonomen Gemeinschaften" mittels einer Verfassungsreform, sagte der Regierungschef. Mit dem Generalsekretär der PSOE, Pedro Sánchez, habe er die Gründung einer Kommission vereinbart, die in den nächsten sechs Monaten darüber beraten solle.
Iglesias: Rajoy zerschlägt Spanien
Für die konföderale Fraktion 'Unidos Podemos-En Comú Podem-En Marea' verlangte Pablo Iglesias noch einmal, die Anwendung des Artikels 155 zu stoppen. Katalonien sei nicht ein juristisches, sondern ein politisches Problem, das nur auf dem Weg des Dialogs zu lösen sei, und nicht mit "Gesetzen und Polizei". Iglesias griff die PSOE an, in eine Allianz mit der PP und den Ciudadanos eingetreten zu sein. Rajoy gratulierte er, die Unterstützung der PSOE für die Intervention in Katalonien gewonnen zu haben. "Die einzige parlamentarische Opposition im staatlichen Rahmen sind wir", sagte Iglesias.
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Rajoy agiere nicht wie ein Ministerpräsident, kritisierte Iglesias, sondern als "Chef der PP", der die "politische Tradition der zurückliegenden 200 Jahre" fortsetze, die niemals die Plurinationalität Spaniens anerkannt habe. "Hören Sie auf, Spanien zu zerschlagen" rief der Oppositionsführer dem Regierungschef zu. "Ich habe noch keine Kinder, aber mein Wunsch ist, dass sie Katalonien als Teil eines kollektiven Projektes kennenlernen, das Spanien ist", endete er seine Rede.
Der Bundeskoordinator der Izquierda Unida, Alberto Garzón, argumentierte auf derselben Linie. Wenn zwei Millionen Menschen aktiv werden, dann weise dies auf ein politisches Problem hin, das nicht mit Polizei und Staatsanwälten gelöst werden könne, sondern nur im politischen Dialog. Der Übergang von der Diktatur in die Demokratie sei mit vielen Fehlern verbunden gewesen, die bis heute bestehen, sagte Garzón. "Spanien ist plurinational. Deshalb muss die Verfassung angepasst werden."
Zu dem Vorschlag von Rajoy und der PSOE zu einer Verfassungsreform meinte Garzón, dass die Defizite nicht nur in der territorialen Frage bestünden. Notwendig sei eine vollständige Überarbeitung der Verfassung und die Ergänzung um eine soziale Komponente. An Rajoy gewandt sagte er: "Ich bin kein Anhänger der Unabhängigkeit, ich bin kein Nationalist. Ich lasse mich auch durch die Fahnen nicht verwirren und denke, dass die Kürzungen bei der Bildung oder im öffentlichen Gesundheitswesen die gleichen sind, die Sie machen und die Puigdemont macht. Die Menschen müssen Privatisierungen in der Gesundheit, in der Bildung und Ungleichheit ertragen. Dieses Problem muss man angehen." Und weiter: "Die Verfassung muss der Gesellschaft angepasst werden - nicht von oben ohne die Menschen, sondern in einer partizipativen Form. Man muss sicherstellen, dass es ein Projekt des Landes wird, das den Menschen ihre fundamentalen Rechte garantiert."
Der Sprecher der katalanischen En Comú Podem, Xavier Domènech, forderte Rajoy zu einem "Dialog ohne Vorbedingungen" auf. Die PSOE kritisierte er, weil sie sich die PP und die Ciudadanos als "Gefährten für die Reise zu einer Verfassungsreform mit unsicherer Zukunft" gewählt habe. "Eine Reform, vereinbart durch zwei Parteien, die in Katalonien in der Minderheit sind, ist ein Alibi, um nicht auf die Forderungen hören zu müssen und entbehren eines Weges zur Wiederherstellung der Legitimität", kritisierte er.
Der Abgeordnete Sergi Saladié von der katalanischen linksnationalistischen CUP (die CUP unterstützt die Minderheitsregierung von Puigdemont) sagte zu der Übereinkunft zwischen Rajoy und der PSOE über eine Verfassungsreform: "Das ist ein Fest, das ohne uns stattfindet." PP, PSOE und Ciudadanos hätten bisher das Recht auf Selbstbestimmung Kataloniens zurückgewiesen, da sei es unwahrscheinlich, dass diese Reform die Katalanen befriedigen könne, vermutet Saladié. Trotzdem sei es möglich - wenn die Prozesse der Unabhängigkeit und der Verfassungsreform parallel vorankommen -, dass "ein Moment kommt, in dem die Mehrheit Kataloniens sich entscheidet, in dieses Projekt einzutreten, weil es sehr vielversprechend und attraktiv ist", setzte er hinzu. Jeder solle jetzt seinen Weg gehen, schlug er vor. Der Weg der Unabhängigkeit sei ein partizipativer Prozess mit konstituierenden Wahlen, der Erarbeitung einer Verfassung und einem Referendum - Momente, in denen die Katalanen für den Weg der Verfassungsreform votieren können.
Carles Campuzano von der Partei des katalanischen Regierungschefs (PDeCAT) forderte Rajoy auf, den Vorschlag zum Dialog zu akzeptieren und zu akzeptieren, dass "wir Katalanen sind, die das Recht haben, unsere Zukunft zu wählen". Er forderte Rajoy auf, die Guardia Civil und die Policia Nacional aus Katalonien zurück zu ziehen und die Angriffe der extremen Rechten zu verurteilen. Den Vorsitzenden der Ciudadanos, Albert Rivera, nannte er einen Falangisten. Dieser habe "wie ein Falangist geredet, wie diejenigen, die 1939 in Barcelona einmarschierten".
"Du ersuchst um Dialog, und sie antworten Dir, indem sie den Artikel 155 auf den Tisch legen" |
Ermittlungen wegen 'Rebellion' - PP-Sprecher droht Puigdemont mit dem Schicksal von Lluís Companys
Inzwischen haben Staatsanwaltschaft und Oberster Gerichtshof Ermittlungen wegen 'Rebellion' gegen die katalanischen Regierungsmitglieder, die Parlamentspräsidentin und den Chef der katalanischen Polizei (Mossos d'Esquadra) eingeleitet. Rafael Hernando, parlamentarischer Sprecher der regierenden Volkspartei (PP), sagte, dass als Reaktion auf eine Unabhängigkeitserklärung bereits ein ganzes "Maßnahmenpaket" auf dem Tisch liege, denn man müsse "komplexer reagieren und man benötigt ausgefeiltere Maßnahmen als nur einen Artikel der Verfassung". Presseberichte, dass Puigdemont wegen 'Rebellion' festgenommen und angeklagt werden soll, ließ er unwidersprochen. Zuvor hatte der hochrangige PP-Funktionär Pablo Casado für Empörung gesorgt. Auf einer offiziellen Pressekonferenz hatte er geäußert, Puigdemont solle aufpassen, dass ihm nicht das gleiche Schicksal drohe wie Lluís Companys. Lluís Companys, damaliger Präsident Kataloniens, hatte am 6. Oktober 1934 die Republik Katalonien innerhalb einer "Bundesrepublik Spanien" ausgerufen. Nach dem Sieg Francos über die Republik konnte er nach Frankreich fliehen, wurde aber 1940 von der Gestapo verhaftet, nach Spanien ausgeliefert und von einem franquistischen Erschießungskommando hingerichtet.
Verteidigungsministerin: Das Militär ist vorbereitet
Am 12.10., dem spanischen Nationalfeiertag, der unter der Losung "Ich bin stolz, Spanier zu sein" begangen wurde, versicherte die spanische Verteidigungsministerin María Dolores de Cospedal in einer Rede an die Streitkräfte, dass Spanien "alle Instrumente hat, um sich zu verteidigen und um das Gesetz, die Einheit Spaniens, die nationale Souveränität und die territoriale Integrität zu schützen". Dies wisse niemand besser als die Militärs, fügte sie hinzu. Auch wenn sie nicht glaube, dass "die Intervention der Streitkräfte in der katalanischen Krise" notwendig werde, so habe das Militär trotzdem den Auftrag, vorbereitet zu sein für die Verteidigung des Landes - innerhalb und außerhalb seiner Grenzen, drohte sie in Richtung Barcelona.
Anmerkung:
Im Jahr 2006 war während der Regierungszeit des Sozialdemokraten Pasqual Maragall als katalanischer Präsident ein neues Autonomiestatut ausgearbeitet worden. Dessen erster Satz lautete: "Katalonien ist eine Nation." Nachdem das ebenfalls mehrheitlich von der sozialdemokratischen PSOE bestimmte Parlament in Madrid unter dem Druck der Zentralisten in den eigenen Reihen etliche Bestimmungen gestrichen hatte, wurde das Statut in einer Volksabstimmung angenommen. Obwohl es sich um einen Kompromiss zwischen Barcelona und Madrid handelte, klagte die rechte Partido Popular unter Führung von Mariano Rajoy vor dem Verfassungsgericht. Dieses hob im Jahr 2010 vierzehn zentrale Artikel auf – unter anderem die Definition Kataloniens als Nation. Das war der Startschuss für die neue Unabhängigkeitsbewegung, die Unabhängigkeit wurde in Katalonien mehrheitsfähig. 80 Prozent der Bürger befürworteten wiederholt das Recht Kataloniens, über das Verhältnis zu Spanien selber zu entscheiden.
siehe auch
- 'Stillstand' in Katalonien
- "Votarem" – "Wir wollen wählen"
- Katalonien vor dem Referendum
-
Spanien: Eskalation im Konflikt um Unabhängigkeitsreferendum