23.10.2017: In einem 21-seitigen Papier beschreibt Rajoy die Maßnahmen: Regierung absetzen, Verwaltung, Finanzen, Polizei und Medien übernehmen, Parlament entmachten +++ Regierung wird "alle Mittel" nutzen ++ Massenproteste in Barcelona gegen "Staatsstreich gegen die Demokratie" und für die "Freiheit politischer Gefangener" ++ Juan Monedero: "Die extreme Rechte ist entfesselt"
450.000 Menschen haben nach Polizeiangaben am Samstag an der Demonstration in Barcelona teilgenommen. Aufgerufen hatten die zwei wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung Assemblea Nacional Catalana (ANC) und Òmnium Cultural, die großen Gewerkschaften CCOO und UGT sowie kleinere Gewerkschaften und weitere 70 Vereinigungen von Kleinunternehmern, Berufsverbänden, Sportvereinen, Intellektuellen und aus dem Kulturbereich.
An der Spitze der Demonstration wurde ein großes Transparent getragen: "Freiheit für Jordi Sànchez! Freiheit für Jordi Cuixart! In Verteidigung der Grundrechte und der Freiheiten!". Hinter dem Transparent gingen der Präsident der katalanischen Regierung Carles Puigdemont, die Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colau, die Mitglieder der katalanischen Regionalregierung, die Parlamentspräsidentin Carme Forcadell sowie Parlamentsabgeordnete und Bürgermeister katalanischer Gemeinden.
Politische Gefangene im Europa des 21. Jahrhunderts
Auf zahllosen Schildern wurde Freiheit für die Jordi Sànchez und Jordi Cuixart gefordert. Die Vorsitzenden der Katalanische Nationalversammlung (ANC) und von Omnium Cultural waren am Dienstag von einer Richterin in Madrid in Untersuchungshaft genommen worden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen "aufrührerisches Verhalten" vor. Der katalanische Regierungssprecher, Jordi Turull, bezeichnete sie als "politische Gefangene". Der Europaabgeordnete Miguel Urbán (Podemos) meint, dass es "unglaublich" sei, dass es im Europa des 21. Jahrhunderts in Spanien wieder politische Gefangene gibt, die im Gefängnis sind, "weil sie ihre politischen Ideen friedlich verteidigen". Für Pablo Iglesias, Generalsekretär von Podemos, ist es nicht nur eine Ungerechtigkeit, dass Cuixart und Sànchez im Gefängnis sind, sondern auch, dass nicht die korrupten Politiker der regierenden Volkspartei PP und korrupte Banker hinter Gittern sind. "Dies ist das Projekt der monarchistisch-korrupten Eliten für das Land", äußerte Iglesias.
Für Empörung in Katalonien und die große Teilnahme an der Kundgebung sorgte auch die Vernehmung des Chefs der katalanischen Polizei Josep Lluís Trapero. Er wurde zwar wieder auf freien Fuß gesetzt, musste aber seinen Pass abgeben, darf Spanien nicht verlassen und muss sich alle zwei Wochen bei Gericht melden. Die Staatsanwaltschaft wirft Trapero ebenfalls "aufrührerisches Verhalten" vor. Darauf stehen bis zu 15 Jahre Gefängnis.
Die Demonstranten riefen auf zahllosen Schildern Europa zur Solidarität auf, klagten die antidemokratischen Maßnahmen des spanischen Staates an und erklärten ihre Solidarität mit den Beschäftigten des katalanischen Fernsehens, die sich gegen die Zwangsunterstellung unter die Kontrolle von Madrid wehren. "Wir leben in einem Moment der Repression und des Fehlens der Politik, insbesondere von Seiten der Zentralregierung", sagte ein jugendlicher Demo-Teilnehmer. "Wir sind es leid, die eine und die andere Wange hinzuhalten ohne dass ein Dialog folgt." Die Demonstranten skandierten "Die Straßen werden immer unser sein", "Raus mit den Besatzungskräften", "Volkseinheit für die Republik. Kein Schritt zurück. Ohne Angst!".
Marcel Mauri, der für Òmnium auf der Kundgebung sprach, erinnerte in seiner Rede daran, dass seine Organisation im Widerstand gegen die Franco-Diktatur entstanden ist und nie vor Repression kapituliert habe. Die spanische Regierung werde die Institutionen nicht suspendieren können, denn "die Institutionen sind wir". Mit Repression und Gewalt werde Madrid nichts erreichen, sagte Mauri, "weil wir ein Volk des Friedens sind". Im Namen des ANC prangerte Agustí Alcoberro die wachsende Repression des spanischen Staates an. "Wir haben die Gewalt der Polizei gesehen, wir sehen die Inhaftierung von Cuixart y Sánchez", sagte er. "Sie wollen das Land enthaupten, aber sie werden damit nicht durchkommen", rief er den Hunderttausenden zu, die mit dem republikanischen Ruf "No pasaran!" antworteten und so ihren Widerstand gegen die drohende Anwendung des Artikels 155 durch die Regierung in Madrid ankündigten.
Absetzung der Regierung, Kontrolle über Polizei und Medien, Entmachtung des Parlaments
Am gleichen Tag hat das Kabinett des spanischen Regierungschefs Mariano Rajoy in einer Sondersitzung beschlossen, den Artikel 155 der Verfassung zu aktivieren. Rajoy antwortet mit dieser "nuklearen Option" (Financial Times) auf die Stellungnahme des katalanischen Ministerpräsidenten Carles Puigdemont.
Rajoy hatte Puigdemont ultimativ aufgefordert, den Verzicht auf die Unabhängigkeit zu erklären. Puigdemont antwortete mit einem Brief an Rajoy, in dem er einen Dialog zwischen den beiden Regierungen zur Lösung des Konflikts vorschlägt. Zwar erklärt er, dass das katalanische Parlament am 10. Oktober die Unabhängigkeit nicht erklärt habe, kündigt aber gleichzeitig an, dass auf die Anwendung des Artikels 155 die Unabhängigkeit ausgerufen werde. Puigdemont prangert die wachsende Repression an und fordert den Abzug der Guardia Civil und der Policia Nacional. Der Brief endet: "Wenn die Staatsregierung weiterhin den Dialog verhindert und die Repression fortsetzt, kann das katalanische Parlament die formelle Unabhängigkeitserklärung beschließen, wenn es dies für angemessen hält."
"Es ist ein sehr trauriger Tag für Europa, für die Welt und für die Demokratie. Ich dachte, dass im 21. Jahrhundert solche Sachen nicht mehr geschehen, auch weil das katalanische Parlament älter ist als der spanische Kongress. Wir wollten, dass die Bevölkerung zu Wort kommt. Vielleicht wollte sie die Unabhängigkeit gar nicht, aber nicht einmal das haben sie erlaubt zu fragen. Die PP, mit der Hilfe von Ciudadanos und der PSOE, hat etwas gemacht, wo ich jetzt hoffe, dass es auf keiner Seite die Gewalt weckt. Das einzige, was wir wollten, war, dass sie uns zuhören sollten." Pep Guardiola, Trainer von Manchester City |
Obwohl Puigdemont die Unabhängigkeit nicht erklärt hat, schlägt Rajoy mit der harten Variante des Artikels 155 zurück. In einem 21-seitigen Dokument begründet die spanische Regierung die Anwendung des Artikels 155 und führt die Maßnahmen zur Aufhebung der katalanischen Autonomie an.
Die Regierung in Madrid will die Regionalregierung absetzen und der Rebellion anklagen, alle Finanzmittel und Steuereinnahmen werden von der Zentralregierung übernommen, Beamte können abgesetzt werden. Rajoy will auch die Straße kontrollieren, indem er die katalanische Polizei (Mossos d'Esquadra) dem spanischen Innenministerium unterstellt und freie Hand erhält für die Absetzung von Polizeioffizieren - und "im Falle der Notwendigkeit" können die Mossos auch komplett durch die paramilitärischen Guardia Civil und Policia Nacional ersetzt werden. Die spanische Regierung übernimmt auch die Kontrolle über Telekommunikation, Fernsehen und Radio, um eine "wahrheitsliebende Information" zu garantieren, die "die Werte und Prinzipien der Verfassung respektiert". Die Beschäftigten der öffentlichen katalanischen Rundfunk- und TV-Sender haben bereits angekündigt, dass sie angesichts dieses "beispiellosen Abgriffs" nicht still sein und, dass sie einen neuen Direktor nicht anerkennen werden.
Das katalanische Parlament wird zwar nicht aufgelöst, aber seine Tätigkeit wird stark eingeschränkt. Im Unterschied zu den staatlichen Einrichtungen und Organen wird das Parlament nicht unter die Kontrolle der spanischen Regierung, sondern die des Senats gestellt - in dem die Volkspartei von Rajoy die absolute Mehrheit hat.
Innerhalb von sechs Monaten sollen Neuwahlen stattfinden.
Den einzelnen Maßnahmen muss noch der Senat, das Oberhaus des spanischen Parlaments, bei seiner Tagung am Freitag, den 27. Oktober, zustimmen. Eine Formsache.
"alle Mittel" nutzen
"Die Regierung wird alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um so schnell wie möglich Gesetze und Verfassungsordnung wiederherzustellen", sagte Regierungssprecher Inigo Mendez de Vigo bei der Vorstellung des Beschlusses des Ministerrates. Die Verteidigungsministerin María Dolores de Cospedal hat zum wiederholten Mal ihre Besorgnis über die Entwicklung in Katalonien geäußert und auf die "Verpflichtung" für die Streitkräfte hingewiesen, die territoriale Integrität Spaniens zu verteidigen. Sie betonte "die Bedeutung der Streitkräfte für die Verteidigung der nationalen Souveränität, sowohl innerhalb wie außerhalb unserer Grenzen, und die Rolle als Garanten unserer konstitutionellen Ordnung".
Rajoy hat oppositionelle PSOE auf seiner Seite
Rajoy kann diese harte Gangart einschlagen, weil er nicht nur die Unterstützung seines Regierungspartners Ciudadanos (C's) und der Europäischen Union hat, sondern auch die bislang oppositionelle sozialdemokratisch PSOE an seiner Seite weiß.
Ada Colau, Bürgermeisterin von Barcelona, klagt die PSOE an, weil diese "mit der Anwendung des Artikels 155 einen Schlag gegen die Demokratie unterstützt". Eine Partei, die im Kampf gegen den Franquismus stand, unterstützt heute ein Mittel, das auf keine Weise die Situation in Ordnung bringen kann, sagt Colau. Sie ruft die Sozialisten der PSOE zur Korrektur und zur Bildung einer "demokratischen Front für die Verteidigung der Institutionen" auf.
Es kommen Zeiten des Schmerzes für Katalonien und für Spanien.Der Argwohn wächst und wir fangen an uns zu beleidigen. Die Gesellschaft ist zerbrochen. Wir reden weniger und beleidigen uns mehr. Man ist unermüdlich auf der Straße. Der Staat, dessen grundlegende Aufgabe wäre, den Zusammenhalt der BürgerInnen zu garantieren, ist gescheitert. Die extreme Rechte ist entfesselt. Die Wahnsinnigen werden zur Normalität. Alles auf Grund der schlimmsten politischen Klasse, an die man sich in der Demokratie erinnert wird. Nur durch können sie nicht verhindern, dass sie gewählt werden. Im Moment. Weil die PP immer verstand, dass man, wenn die Bevölkerung falsch wählt, die Bevölkerung ausrichten und bestrafen muss. Es wird Wahlen geben, die die Sache nicht groß verändern werden, außer dass sowohl die PSC wie auch die PP praktisch außerhalb des Parlaments sein werden. (..) Der Gründer der PP, Fraga, hat nie Francos Staatsstreich am 18. Juli 19356 verurteilt. Und wenn viele Spanier mit der Fahne nichts anfangen können, dann deshalb, weil die PP sie vom ersten Moment übernahm und immer daran erinnerte, dass es ihre Fahne ist. Die Fahne von jenen, die immer zu spät zur Demokratie kommen; von denen, die heute den Artikel 155 anwenden; von der korruptesten Partei Europas. Von denen, die immer Interesse an Spanien haben, wenn sie die SpanierInnen berauben können. Juan Carlos Monedero (Podemos) am 21.10. in Publico |
Konflikt bei Sozialisten
"Die sozialistische Partei Kataloniens PSC setzt nach wie vor auf Dialog und nicht auf den Einsatz des Artikels 155", erklärte die Sprecherin der PSC im Parlament, Alícia Romero. Und weiter: "Weder der Artikel 155 noch die Erklärung der Unabhängigkeit bringen Lösungen für Katalonien. Wir unterstützen weder das eine noch das andere. Wir wollen den Weg des Dialogs." Wir geben der PSOE keinen Blankocheck, fügte sie hinzu.
Mehrere PSC-Bürgermeister haben ihre Dachorganisation, die PSOE, aufgefordert, die Anwendung des Artikels 155 zurück zu weisen. Am Samstag ist das Mitglied der Bundessekretariats der PSOE, Núria Parlon, von ihrer Funktion zurückgetreten. Sie begründet diesen Schritt mit der Unterstützung des PSOE-Generalsekretärs Pedro Sánchez für Rajoy angesichts "einer Situation der allerhöchsten Spannung in Katalonien".
Katalanisches Parlament tagt am Donnerstag
Die Sprecher des katalanischen Parlaments haben heute erklärt, dass für Donnerstag ein Plenum einberufen wird. Wie es aus Kreisen der Unabhängigkeitsparteien Pdcat, ERC und CUP heißt, wird das katalanische Parlament bei dieser Tagung die Unabhängigkeit erklären.
Zeitgleich ließ in Madrid ließ der General-Staatsanwalt des Staates, José Manuel Maza, verlauten, dass die Anklage wegen Rebellion schon vorbereitet ist und dass diese auf mehr Mitglieder des Parlaments und Präsident Carles Puigdemont erweitert werden könnte.
siehe auch
- Pablo Echenique: "Separatisten und Rajoy provozieren absichtlich einen gesellschaftlichen Bruch"
- Pablo Iglesias: "Manche sprechen von militärischer Intervention"
- Rajoy bleibt auf Konfrontationskurs
- 'Stillstand' in Katalonien
- "Votarem" – "Wir wollen wählen"
- Katalonien vor dem Referendum
-
Spanien: Eskalation im Konflikt um Unabhängigkeitsreferendum