Bundesregierung macht sich zum Büttel Erdogans
17.11.2017 | aktualisiert 14:30 Uhr: "Die Staatsmacht kam noch vor dem Morgengrauen: Um 6 Uhr in der Früh begann der fünfköpfige Polizeitrupp die Razzia in der Wohnung von Kerem Schamberger. Der Vorwurf: Dieser habe auf Facebook Symbole der kurdischen Organisationen PYD, YPJ und YPG gepostet. Die Hausdurchsuchung fand allerdings nicht in Ankara oder dem – ohnehin längst befreiten – Rakka statt, sondern in München", schreibt die Zeitung der Gewerkschaft ver.di. (vollständiger Artikel weiter unten)
Am Montagmorgen (13.11.17) haben Beamte der Münchner Polizei die Wohnung des Kommunikationswissenschaftlers und linken Aktivisten Kerem Schamberger durchsucht; Handy, Laptop und USB-Sticks wurden beschlagnahmt. Schamberger habe, so die Begründung der Staatsanwaltschaft für die Hausdurchsuchung und das Ermittlungsverfahren, auf seiner Facebook-Seite vier Mal Flaggen und Symbole der kurdischen Organisationen PYD, YPJ und YPG gepostet.
Kerem Schamberger sagt dazu: "Als die Polizei mit vorgehaltenem Durchsuchungsbefehl vor meiner Tür stand, habe ich nur gesagt: »Warum denn das? Ich gebe doch zu, die besagten Posts verfasst zu haben. Warum also diese Durchsuchung?« Darauf wussten sie keine Antwort. Die Durchsuchung erfolgte trotzdem. Natürlich geht es nicht nur um die Posts. Es geht um die Durchleuchtung politischer, linker Arbeit in Bayern.“
Inzwischen gibt es eine breite Berichterstattung in den Medien - regionale Münchner Zeitungen, Süddeutsche Zeitung, Bayerischer Rundfunk, Berliner Morgenpost, Neues Deutschland, taz, … berichten über den Skandal. In den Infotafeln der Münchner U-Bahn wurde die Meldung eingeblendet.
Einschüchterung mit System
Die Huffington Post vermutet, dass es um "Einschüchterung mit System" geht: "Das Vorgehen der Behörden gegen Sympathisanten der YPG mag so zunächst willkürlich erscheinen. Doch die Einsätze der Polizei folgen offenbar einem System. So gehen die Behörden bislang nicht flächendeckend gegen die Solidaritätsbekundungen vor. Eher scheint es darum zu gehen, besonders aktive Fürsprecher der Milizen stummzuschalten. … Vielleicht tatsächlich, um das unangenehme Kurden-Thema zu ersticken.
Schamberger zumindest will sich nicht unterkriegen lassen – wohl auch, weil das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main längst Zweifel an der Rechtmäßigkeit der YPG-Zensur angemeldet hat.
Am Montagabend postete er erneut ein Bild der gelb-grün-roten Fahne." (Huffington Post, 14.11.2017)
"Vier Facebook-Postings sind es, die ein Münchner Kriminaloberkommissar bei der Sichtung des Facebook-Profils des 31-jährigen Halbtürken Kerem Schamberger entdeckt hat und die nun am Montag Ermittler mit Untersuchungsbeschluss in seine Wohnung führten. Die Staatsanwaltschaft erklärte auf Anfrage unserer Redaktion, die Ermittlungen würden von Amts wegen geführt. Es habe keine Anzeige gegeben. Auszug aus dem Artikel der Berliner Morgenpost, in dem dann die umstrittenen Fotos gezeigt werden. |
Kerem Schamberger meint dazu: "Hausdurchsuchungen wie bei mir dienen dazu, Angst zu verbreiten. Niemand mehr soll sich trauen über die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten zu sprechen und ihre Kürzel YPG und YPJ in den Mund zu nehmen. Der Terrorvorwurf als Bannstrahl. Betrachtet man die mediale Diskussion zur Thematik, kann man nur festhalten: die bayerischen Verfolgungsbehörden haben genau das Gegenteil erreicht. Alle reden über die Politik der Kollaboration mit dem Erdogan-Regime und die Blüten, die sie treibt.
Einschüchtern lassen wir uns so nicht - Gemeinsam sind wir stark!"
So nutzte das Institut Solidarische Moderne (ISM) die Gelegenheit, Kerem Schamberger offiziell als neues Mitglied in seinem Kuratorium zu begrüßen.
Die Bundestagsabgeordente Sabine Leidig (DIE LINKE) schreibt: "Ich bin wütend und empört über die Hausdurchsuchung bei Kerem Schamberger! Grund dafür waren nämlich Fotos, die er gepostet hatte. Darauf waren Fahnen schwenkende Kurdinnen und Kurden zu sehen, die gegen den IS kämpfen. Die Bundesregierung empört sich zwar medial über einige Aussetzer Erdogans, doch mit dem Deal zur Abwehr der Geflüchteten ging sie eine florierende Partnerschaft mit dem Autokraten ein. Nun wird auch im Inland zunehmend ganz nach dem Geschmack Erdogans gegen Kurdistan-Solidarität und Kritik der türkischen autoritären Regierung vorgegangen. ... Dass die Hausdurchsuchung genau dann kommt, wenn Facebook wegen seiner Zensur von Türkei-Kritik in der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, hat übrigens auch ein Gschmäckle."
Läuft Staatsanwaltschaft München Amok?
Die Staatsanwaltschaft München weitet die Verfolgung weiter aus. So wurde Anklage gegen einen 17-jährigen syrischen Kurden erhoben. Staatsanwaltschaft München I schreibt u.a.: "Der Angeschuldigte stellte (...) ein Titelbild ein, welches das Porträt Abdullah Öcalans zeigt. Die Person Abdullah Öcalan gilt als politischer Anführer der Organisation PKK (...) und tritt als solcher auf." Desweiteren habe er Fahnen mit dem Symbol der YPG gepostet. Die Staatsanwaltschaft kommt zu der Schlussfolgerung: "Bei Tatbegehung besaß der Angeschuldigte die gemäß §3 JGG erforderliche Reife, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln." Sein Handy wurde von der Polizei beschlagnahmt.
Also, die Staatsanwaltschaft München verfolgt einen jungen Syrer, weil er Symbole derjenigen Organisation postet, die in einer Allianz mit den USA in Syrien gegen den terroristischen IS kämpft und inzwischen Hunderttausende Menschen aus den Fängen des IS befreit hat. Wer ist hier der Terroristen-Sympathisant?
Auf Betreiben der Münchner Staatsanwaltschaft laufen inzwischenbundesweit Verfahren gegen 190 weitere Facebook-Nutzer, die Posts von Kerem Schamberger geteilt haben, auf denen Symboliken der YPG/YPJ zu sehen waren.
Heute hat die Staatsanwaltschaft München ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen Kerem Schamberger eingeleitet wegen "verbotener Mitteilung über Gerichtsverhandlungen am 10.11.2017, 12:27 Uhr". Dieses Ermittlungsverfahren bezieht sich auch auf einen Post auf Facebook. Schamberger hatte über den oben geschilderten Fall der Verfolgung eines 17-jährigen Kurden durch die Münchner Staatsanwaltschaft wegen Postens von YPG-Symbolen informiert.
Wenn Polizei und Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung rechtsextremistischer Straftaten, Überfällen auf Flüchtlingsheimen, möglicherweise Ermordung eines Flüchtlings in Polizeigewahrsam, Entfernung von Nazi-Polizisten aus dem Dienst oder Steuerbetrug (Paradise Papers) nur genau so schnell wären.
Die Zeitung 'M Menschen Machen Medien' der Gewerkschaft ver.di schreibt:
Deutsche Doppelmoral zu Erdogans Diensten
Die Staatsmacht kam noch vor dem Morgengrauen: Um 6 Uhr in der Früh begann der fünfköpfige Polizeitrupp die Razzia in der Wohnung von Kerem Schamberger. Der Vorwurf: Dieser habe auf Facebook Symbole der kurdischen Organisationen PYD, YPJ und YPG gepostet. Die Hausdurchsuchung fand allerdings nicht in Ankara oder dem – ohnehin längst befreiten – Rakka statt, sondern in München.
15. November 2017 von Christian Selz
Der Einsatz legt die Doppelmoral der Bundesregierung schonungslos offen. Diese spricht sich in schöner Regelmäßigkeit gegen die Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei aus. Erst vor zwei Wochen hatte Regierungssprecher Steffen Seibert nach der Verhaftung von 13 Journalisten der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet in der Türkei betont, die Bundesregierung habe „wiederholt – und das will ich hier auch noch einmal tun – ihrer Sorge Ausdruck gegeben über das Vorgehen gegen Presse in der Türkei und gegen Journalisten in der Türkei“. Die Freiheit der Presse sei schließlich „zentral für jeden Rechtsstaat“. Der Vorwurf der türkischen Behörden gegen die Zeitungsmitarbeiter damals: sie hätten eine terroristische Organisation, namentlich die kurdische Arbeiterpartei PKK, unterstützt. Die Begründung des Durchsuchungsbeschlusses der Staatsanwaltschaft München I am Montag: Schamberger habe „in Deutschland verbotene Symbole von Unterorganisationen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)“ abgebildet.
Für Schamberger, beruflich Kommunikationswissenschaftler und Doktorand an der Ludwig-Maximilians-Universität München, macht sich die deutsche Justiz so zum „Handlanger der AKP-Diktatur“ des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan. Auf seinem öffentlichen Facebook-Profil veröffentlicht Schamberger tagtäglich Nachrichten über den Krieg im Norden Syriens, wo die kurdischen Milizen auch mit Unterstützung der USA gegen Islamisten kämpfen, und über das Vorgehen des türkischen Militärs gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des eigenen Landes. „Parteiisch“ sei er dabei, und habe das auch nie verheimlicht. „Wer meinen Facebook-Auftritt kennt, der weiß, auf welcher Seite ich stehe, aber ich liefere dort natürlich auch Informationen“, sagt Schamberger.
Gut 16.000 Menschen folgen derzeit seiner Berichterstattung, doch es werden seit Monaten weniger. 25 Prozent seiner Abonnent_innen habe er seit September verloren. Viele davon hätten sich seitdem bei ihm gemeldet und mitgeteilt, dass Facebook seine Seite bei ihnen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen eigenmächtig entfernt habe. Ein Konzernsprecher stritt dies gegenüber Schamberger ab und behauptete gar, der Abonnentenschwund könne ja mit den angeblich vermehrt positiven Nachrichten aus der Türkei zu tun haben. Schamberger hält es stattdessen für möglich, dass Facebook die Reichweite seiner Seite entweder im mit der Bundesregierung abgesprochenen Kampf gegen angebliche „Fake News“ absichtlich einschränke oder aber, dass der türkischen Regierung nahestehende, wenn nicht gar von ihrem Geheimdienst beauftragte Mitarbeiter, in den outgesourcten Löschzentren des Konzerns dafür verantwortlich seien. Die taz berichtete bereits über den Fall.
Nun sorgten die deutschen Behörden für neue Nachrichten. Deren Vorgehen gegen Menschen, die sich mit dem kurdischen Widerstand solidarisieren, hatte Schamberger bereits seit längerem kritisiert. Am 17. Juni veröffentlichte er gar eine „Bitte an deutsche Strafverfolgungsbehörden“ und forderte die Behörden auf, „endlich Maßnahmen gegen den Inhaber dieses FB-Profils“, also ihn selbst, zu ergreifen. Dazu stellte er ein Foto mit den Symbolen von PYD, YPJ und YPG. Eine gezielte Provokation.
Schamberger wollte damit gegen die Kriminalisierung des kurdischen Widerstands protestieren, bei der sich die deutschen Behörden im Übrigen selbst nicht ganz einig scheinen. Einerseits hatte das Bundesinnenministerium sowohl die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) in Syrien als auch die bewaffneten Volks- bzw. Frauenbefreiungseinheiten YPG und YPG in einem Rundschreiben vom 2. März zu „Ablegern“ der PKK erklärt. Auf eine Anfrage der Linksfraktion antwortete die Bundesregierung andererseits kurz darauf, dass die Organisationen in Deutschland nicht verboten seien. Die Symbole fielen demnach nur dann unter das PKK-Verbot, wenn sie als Ersatz für Zeichen der kurdischen Arbeiterpartei verwendet würden. Im August erklärte zudem das Verwaltungsgericht Frankfurt ein Verbot, PYD-Fahnen bei einer Kundgebung zu tragen, für rechtswidrig. Trotzdem gehen die Behörden immer wieder gegen Facebook-Nutzer_innen vor, die Zeichen der kurdischen Organisationen posten.
Er habe damit gerechnet, dass die Behörden auch bei ihm aktiv werden würden, erklärte Schamberger nun. Eine Hausdurchsuchung habe er aber nicht erwartet, schließlich habe er ja – gerade auch in Bezug auf Hausdurchsuchungen in ähnlichen Fällen – stets „klar gesagt“, dass er „die Bilder gepostet“ habe. Das habe er auch am Montagmorgen den Beamt_innen erneut deutlich gemacht, diese hätten jedoch trotzdem darauf bestanden, seine Wohnung zu durchsuchen. Die Polizist_innen, darunter eine laut Schamberger in München als türkische Nationalistin stadtbekannte Beamtin, beschlagnahmten seinen Laptop, sein Handy und zwei USB-Sticks. Was die Behörde damit noch beweisen will, ist ihr Geheimnis. Für Schamberger ist klar, dass so „linke Strukturen ausgeforscht“ werden sollen. „Hausdurchsuchungen wie heute früh dienen dazu, Angst zu verbreiten“, schreibt er auf Facebook.
Quelle: https://mmm.verdi.de/beruf/deutsche-doppelmoral-zu-erdogans-diensten-46179
Wir danken M Menschen Machen Medien und Christian Selz für die Genehmigung zur Veröffentlichung auf kommunisten.de