19.12.2017: Chinas erfolgreicher Entwicklungsprozess, ganz anders als in den neoliberalen Modellen vorgesehen, verlangt Erklärungen ebenso wie den Systemvergleich. Die westliche Geschichtserwartung, dass sich entwickelnde Länder mit wachsendem Wohlstand auch eine Demokratie nach westeuropäischem oder nordamerikanischen Muster einführen und ihre Märkte weitgehend liberalisieren, ist schon länger blamiert und spätestens seit Trump, Brexit und dem Vormarsch rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien im Westen nicht mehr unumstritten.
Insofern ist der in der zweiten Oktoberhälfte in Beijing abgehaltene 19. Parteitag der KP Chinas, der die Stabilität der gegenwärtigen Parteiführung dokumentiert und den Parteikurs in den wesentlichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen bestätigt hat, eine doppelte Herausforderung für den westlich geprägten Betrachter.
Das bevölkerungsreichste Land der Erde, vor 50 Jahren arm und unterentwickelt, ist heute die Wirtschaftsmacht #2 oder #1 (berechnet nach Kaufkraftparitäten). China hat die Weltwirtschaftskrise 2008-09 ohne große Einbrüche oder Massenarbeitslosigkeit bewältigt. Das schwierige Umsteuern von einer exportgetriebenen Ökonomie, die auf dem Verbrauch von billigen Arbeitskräften und der Umwelt basierte und den Weltmarkt mit Billigprodukten überschwemmte, zu einer nachhaltigen, vom Binnenkonsum getriebenen Wirtschaft mit höherwertigen Produkten ist nicht abgeschlossen, aber im vollen Gang. Mit dem Fokus auf qualitatives statt auf extensives Wachstum haben sich die zweistelligen Wachstumsraten deutlich abgeschwächt und liegen jetzt zwischen 6-7 Prozent.
Nach der jährlich veröffentlichten Hurun-Liste hat China inzwischen mehr Milliardäre als die USA. Die im internationalen Vergleich krassen Einkommensunterschiede – gemessen an Kriterien wie dem Gini-Koeffizienten – in dem einst egalitären Land sind mit den Händen zu greifen. Dass es trotz der sozialen Widersprüche zwar zu vielen betrieblichen Streiks und lokalen Protesten, aber zu keinen größeren Unruhen kommt, hat einen einfachen Grund: Für die meisten Chinesen hat sich das Leben wesentlich verbessert. TV, Waschmaschine und Kühlschrank gibt es inzwischen in jedem Haushalt. Eine Basis-Sozialversicherung ist auch auf dem Lande eingeführt, nachdem sie nach der Kulturrevolution mit der Auflösung der Volkskommunen erstmal abgeschafft wurde. China ist schon seit Jahren der größte PKW-Markt der Welt. Das Auto zählt ebenso wie das Wohneigentum zu den Attributen einer stark wachsenden, kaufkräftigen Mittelschicht, die laut McKinsey inzwischen mehrere hundert Millionen Chinesen umfasst und die Begehrlichkeiten der globalen Luxus-Konzerne beflügelt.
Runderneuerung der KP Chinas
In Chinas Wirtschaftswunderjahren konnte es scheinen, dass mit den Reformen und der enormen Wirtschaftsdynamik, mit einer wachsenden Mittelklasse und mit der immer engeren internationalen Verflechtung die KP Chinas immer weniger Bedeutung hatte. Dazu kam die grassierende Korruption, die das Ansehen der KP Chinas massiv schädigte. In der Verwaltung und in den Staatskonzernen spielte die Partei zwar noch eine Rolle, aber nicht in der dominierenden Privatwirtschaft. Seit der Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Beijinger Tiananmen-Platz 1989 galt zudem der ungeschriebene Gesellschaftsvertrag: Die Partei sorgt für wachsenden Wohlstand und kann dafür ungestört regieren. Dieser Vertrag hat bislang offenbar funktioniert. Auch unter chinesischen Intellektuellen z.B. mit langer Auslandserfahrung haben die westlichen Demokratien beschränkte Attraktivität. Hinzu kommt Chinas gewachsenes außenpolitisches Prestige.
Die Stabilität kann nur den verwundern, der diese Entwicklung in den letzten 30 Jahren nicht zur Kenntnis genommen hat. Gesellschaftlich steht die Dominanz der KP Chinas – mit ca. 88 Mio. Mitgliedern ist jeder 16. Chinese KP-Mitglied – derzeit nicht in Frage. Die Partei repräsentiert Chinas soziale Schichten vom Großunternehmer bis zum armen Bauern und die gesellschaftlich relevanten politischen Strömungen vom Neoliberalismus bis zum Kommunismus. Die Funktion der Partei besteht offensichtlich darin, konfligierende Positionen und Interessen zeitweilig immer wieder zu versöhnen. Das gilt auch für die manifesten Widersprüche zwischen der Zentrale, die z.B. gegen den Bau weiterer Stahlwerke und Kohlekraftwerke vorgeht, und den Provinz- und Lokalregierungen, deren Hauptaugenmerk die wirtschaftliche Entwicklung und die Arbeitsplätze in der Region sind. Ein ständiger Ausgleich ist auch zwischen den unterschiedlichen Rollen des Staates als Eigentümer der Staatskonzerne, als Regulator und als Marktteilnehmer nötig.
Diese Konsensfindung wird offenbar immer wieder neu auf allen Ebenen der KP Chinas versucht. Die westliche Beschreibung der jetzigen Führung der KP Chinas als Diktatur wird diesen komplexen Aushandlungsprozessen zur Steuerung von China, das in seiner Größe mehr ein ganzer Kontinent ist, nicht gerecht. Auch die komplexen Auswahlprozesse des Führungspersonals der KP Chinas sind nach allen Untersuchungen streng meritokratisch geprägt – sozusagen nach klassischer chinesischer Beamtentradition – und nicht das Werk von Gangs und Seilschaften.
Spätestens mit der Wahl von Xi Jinping zum Generalsekretär der KP Chinas vor 5 Jahren setzte ein Prozess der Runderneuerung der KP Chinas ein. Parteizellen wurden reaktiviert, eine Anti-Korruptionskampagne wurde gestartet, die bis heute anhält und auch vor den obersten Führungsebenen nicht Halt macht. Auf dem Spiel stand und steht die Legitimation der Herrschaft der KP Chinas. „Regierung, Militär, Gesellschaft und Schulen – Nord, Süd, Ost und West -, die Partei hat überall die Führung.“ Der 19. Parteitag der KP Chinas begründet diesen Führungsanspruch in erster Linie national: mit dem weiteren Aufstieg Chinas zur führenden Wirtschafts- und Industriemacht und zu einer politischen Führungsmacht in der Welt.
Parteiziel: „das ewige Wohlergehen der chinesischen Nation“, „die Erneuerung der chinesischen Nation“
„Für eine Partei, die für das ewige Wohlergehen der chinesischen Nation kämpft, leitet das hundertjährige Jubiläum nur die Blütezeit des Lebens ein. Die KP Chinas ist die größte politische Partei der Welt, und sie muss sich diesem Status entsprechend verhalten.“ (Xi Jinping, Generalsekretär des ZK der KP Chinas, in seiner Rede auf dem Parteitag).
In den Jahren bis 2035 soll sich in China eine moderne Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln. Bis 2050 – also hundert Jahre nach Gründung der Volksrepublik – will China „eine globale Führungsmacht mit nationaler Stärke und internationalem Einfluss sein.“ Zu dem Zeitpunkt will China auch das weltweit führende Industrieland sein. Allenfalls die US-Konzerne aus dem Silicon Valley können mit Chinas aktuellen Anstrengungen in der Robotik, bei der Künstlichen Intelligenz, in der E-Mobilität und beim autonomen Fahren mithalten. Schon vor 5 Jahren wurde das Ziel formuliert, dass sich bis 2020 Chinas Wirtschaftsleistung gegenüber 2010 verdoppeln soll.
Gleichzeitig war ein Schwerpunkt des Parteikongresses, dass Peking die sozialen Ungleichheiten verringern will. Dazu gehören vor allem die krassen Unterschiede zwischen Stadt und Land und das nach wie vor mangelhafte soziale Netz. Die KP Chinas will die „unausgewogene und inadäquate Entwicklung“ angehen und für die Erfüllung der „ständig wachsenden Bedürfnisse der Menschen für ein besseres Leben“ sorgen.
Ein weiteres Thema war die Umweltpolitik: 15mal verwandte Xi Jinping in seiner Parteitagsrede den Begriff „grün“, auf dem Parteitag vor fünf Jahren nur ein einziges Mal. Es gehe darum, „die Umwelt zu behandeln wie unser eigenes Leben“.
Parteikontrolle auch über Privatunternehmen?
In der Wirtschaftspolitik hat der Parteitag der KP Chinas den bisherigen Kurs bestätigt: Die vor fast 40 Jahren eingeleitete marktwirtschaftliche Reformpolitik, die auf die Koexistenz eines starken, wettbewerbsfähigen Staatssektors mit längst global agierenden privaten Konzernen setzt, steht nicht zur Disposition. Das schon vor Jahren begonnene schrittweise Umsteuern von einseitiger Exportorientierung zur Stärkung des Binnenmarkts, von überhöhten Investitionsquoten des gesellschaftlichen Mehrprodukts zur Stärkung des privaten Konsums, vom einseitigen Fokus auf exzessives Wachstum mit der Folge gigantischer Überkapazitäten (Stahl, Kohle, Zement, PKW-Produktion, Solar …) zu nachhaltiger Qualitätsproduktion in Zukunftsbranchen wird fortgesetzt.
„Investoren spielen in einem autoritären China immer die zweite Rolle“, beschwert sich ein Kommentator der Financial Times (FT, 21.11.17). Aber Chinas wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft ist auch in den Jahrzehnten der Reformpolitik immer oberste Priorität geblieben.
Die in westlichen Medien verbreitete Sorge, dass es jetzt unter Xi Jinping dem Privatsektor und multinationalen Konzernen an den Kragen geht, ist aber unbegründet. Der von der KP Chinas schon lange propagierte Begriff des „Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken“, jetzt ergänzt mit dem Zusatz: „für ein neues Zeitalter“, ist der sprachakrobatische Versuch, die inhärenten Widersprüche zu überdecken und die Tatsache zu beschönigen, dass die kommunistischen Kader einen Kapitalismus mit teilweise Wildwest-Zügen kontrollieren sollen. Das hierzulande in den Medien gern zitierte zeitweise Abtauchen von einigen ultrareichen chinesischen Eigentümern von Konzernen wie HNA (inzwischen an der Deutschen Bank beteiligt), Anbang oder Fosun ist das Resultat verschärfter Regulierung von chinesischen Auslandsinvestitionen und nicht einer Jagd auf Privatunternehmer: von 2.130 Chinas Superreichen (laut Hurun-Report, Chinas Pendant zur Forbes-Liste der Milliardäre) hatten ganze fünf in diesem Jahr Probleme mit Chinas Justizbehörden. Dagegen traf die sehr populäre Anti-Korruptionskampagne, die von Xi Jinping initiiert wurde, in den letzten Jahren über 1 Mio. Parteimitglieder und immerhin jedes zehnte Mitglied des Zentralkomitees der KP Chinas (Economist, 28.10.17).
Westliche Kommentatoren klagen zudem, dass immer mehr Staatskonzerne in ihren Statuten jetzt die Konsultation mit Parteigremien vor großen Entscheidungen verankert haben. Die forcierte Rolle der Parteizellen in Staatsunternehmen und jetzt auch in Privatunternehmen, z.B. in Chinas Internet-Riesen Alibaba, Baidu und Tencent, die in derselben Liga wie Google, Amazon oder Facebook spielen, ist Anlass zur Sorge. Aber damit will die KP Chinas nicht dem privaten Kapital an die Gurgel. Es geht darum, die gesellschaftlichen Ziele beim Management der Staats- und Privatunternehmen mehr zur Geltung zu bringen und die widersprüchlichen Interessen der Einzelkapitale zeitweilig auszugleichen.
Gerne wird der KP Chinas unter Xi Jinping auch unterstellt, dass die Parteiführung jetzt von Technokraten in die Hände von Bürokraten gefallen sei, die von Wirtschaft, Unternehmertum und Innovation nichts verstünden. Die Biografien der 7 Mitglieder des Politbüros geben aber keinen Anhaltspunkt dafür. Das Thema Innovation steht weiter ganz oben auf der Agenda. Wer z.B. eine Roboterfirma gründet, kann sich vor Förderung nicht retten.
txt: Wolfgang Müller
Wolfgang Müller ist Sozialwissenschaftler und Informatiker. Er war bis 2014 bei der IG Metall Bayern beschäftigt und Aufsichtsratsmitglied u.a. bei Audi, Schaeffler und Siemens. Er ist engagiert für den Aufbau eines Gewerkschafts-Netzwerkes für Firmen mit Investoren aus China.
Wolfgang Müller hat mehrere Jahre in China gelebt und gearbeitet und ist regelmäßig als Gewerkschafter mit den Problemen vor Ort befasst. Er untersucht den notwendigen Transformationsprozess der Gewerkschaften vom "Transmissionsriemen" der staatlichen Politik bei den Beschäftigten hin zu ihrer kämpferischen, konfliktbereiten Interessenvertretung.
Beim Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung isw hat er u.a. die Studie Arbeitskämpfe in China veröffentlicht.
übernommen von https://isw-muenchen.de