07.12.2024 ergänzt | 06.12.2024: Dschihadistenmilizen erobern größere Gebiete Syriens ++ zentrale Rolle der Türkei im Einklang mit den Plänen des Westens zur Umstrukturierung des Mittleren Ostens und den Plänen Israels, den Waffennachschub aus Iran für die Hisbollah zu unterbrechen und ein Groß-Israel zu schaffen.
Die Dschihadistenmiliz Hayat Tahrir al Sham (HTS) und mit ihr kooperierende Kämpfer, die der von Ankara finanzierten Miliz Syrian National Army (SNA) angehören, haben am Mittwoch, 27. November, überraschend eine große Offensive gestartet und innerhalb kurzer Zeit größere Gebiete erobert. Die Offensive wurden von den 2018 besetzten, von der Türkei kontrollierten Gebieten Idlib und Afrin aus gestartet.
Die Dschihadisten sind mit modernsten Waffen ausgerüstet und wenden "Taktiken an, die während des Krieges in der Ukraine entwickelt wurden, einschließlich des Einsatzes von Drohnen", schreibt die ukrainische Zeitung Kyiv Post am 1. Dezember unter Berufung auf Quellen im ukrainischen Geheimdienst.
Die syrische Regierungsarmee Syrisch-Arabische Armee (SAA) wurde völlig unvorbereitet von den Angriff überrollt. Medienberichten zufolge zogen sich die Truppen des Assad-Regimes ebenso wie iranische und russische Kräfte ohne Widerstand zurück. "Die Syrische Arabische Armee (SAA) ruhte sich auf ihren Lorbeeren aus, weil sie den von Russland ausgehandelten Waffenstillstand als selbstverständlich ansah. Danach setzte die berüchtigte Korruption des Landes ein und schwächte seine Fähigkeiten. … nicht einmal einfache Drohnen für die Aufklärung, Überwachung und Aufklärung eingesetzt wurden, um die Entwicklung zu erkennen, die diesem Vormarsch vorausging. Ein großer Teil der Gründe, warum die SAA nichts unternommen hat, liegt wahrscheinlich darin, dass sie davon ausging, dass ihre russischen und iranischen Verbündeten diese Verantwortung für sie übernehmen würden", schreibt der politische Analyst Andrew Korybko.
Die Dschihadisten kontrollieren inzwischen Aleppo, Syriens zweitgrößte Stadt nach Damaskus, in der etwa zwei Millionen Menschen leben. Darüber hinaus haben sie Saraqib eingenommen, eine Kleinstadt, die an der M5 liegt, der wichtigsten Straße von Damaskus nach Aleppo; die M5 ist damit nun ebenso von der HTS blockiert wie die Abzweigung zur M4 in die Küstenstadt Latakia, nahe der die von Russland genutzte Luftwaffenbasis Khmeimim liegt. Entlang der M5 sind die Dschihadisten in Richtung Süden vorgerückt, wo sich die Großstadt Hama befindet; sie ist mit nahezu einer Million Einwohnern Syriens drittgrößte Stadt.
Nach tagelangen Kämpfen ist auch die Stadt Hama in die Hände von HTS gefallen. Kurz nach dem Abzug der Truppen des Assad-Regimes kündigte HTS an, nun den „Marsch auf Homs“ zu beginnen, die letzte Stadt vor der syrischen Hauptstadt Damaskus.
Inzwischen sind mehr als 100.000 Menschen aus dem von der SNA besetzten Shehba, nördlich von Aleppo, in die weiter östlich gelegenen, von den kurdisch geführten Syrische Demokratischen Kräften (SDF/QSD) kontrollierten, Gebiete der Selbstverwaltung geflohen. In Shehba, das jetzt von türkisch geführten Dschihadisten besetzt und kontrolliert wird, sind etwa 15.000 Menschen eingeschlossen.
Auch westlich des Euphrats kam es in der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember zu Gefechten zwischen den Syrische Demokratischen Kräften SDF und den türkischen Hilfstruppen der Syrian National Army (SNA). Mehrere Quellen sprechen von Vorstößen und Gebietsgewinnen der SDF. Das Gebiet liegt südlich der Region Minbic/Manbij. In den letzten Tagen haben sowohl türkische Medien als auch die SNA ihre Absicht angekündigt, auf Minbic vorzurücken. Die ersten Vorstöße konnten in den letzten Tagen erfolgreich abgewehrt werden. Neben Minbic könnte auch die symbolträchtige Stadt Kobane im Visier der Türkei sein.
Der Krieg in Syrien und die Pläne zur Umgestaltung des Mittleren Ostens
Der Angriff von HTS und den von Ankara unterstützten Kämpfern hat die prekäre Ordnung erschüttert, die sich in Syrien herausgebildet hatte, nachdem die syrischen Regierungstruppen Ende 2016 Aleppo von dschihadistischen Milizen zurückerobert hatten. Zu diesen Milizen zählte damals auch Fatah al Sham, einer der Vorläufer der HTS. Nach der Rückeroberung von Aleppo wurden Verhandlungen über einen Machtabgleich in Syrien eingeleitet, die maßgeblich Russland – als Kooperationspartner der Regierung unter Bashar al Assad – und die Türkei als Kooperationspartnerin der Aufständischen führten. Im Astana-Prozess, benannt nach dem Ort der Verhandlungen, gingen Moskau und Ankara daran, die Lage in Syrien zumindest so weit zu stabilisieren, dass die Kriegshandlungen zum Ende kamen. Im März 2020 gelang es Russland und der Türkei, das bislang letzte Aufflammen des Krieges zu stoppen – ohne Mitwirkung der USA und der Mächte Europas. Dies war möglich, da Moskau und Ankara bei jeweils einer der verfeindeten Parteien starken Einfluss hatten und die Einhaltung eines Kompromisses durchsetzen konnten.
Russland und der Iran kämpfen zwar gemeinsam gegen den Terrorismus in Syrien, aber sie sind auch Rivalen, die miteinander um den größten Einfluss auf Damaskus konkurrieren. Ihr Konkurrenzkampf ist so intensiv, dass Russland immer nur gelegentlich protestiert, wenn Israel die Hisbollah oder iranische Revolutionsgarden (IRGC) dort bombardiert, und Syrien nie die Mittel an die Hand gibt, diese Angriffe abzuwehren oder Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen.
Der Angriff zielt darauf ab, sowohl den Einfluss des Iran in Syrien als auch das syrische Regime selbst zu schwächen. Neben der Schwächung des syrischen Regimes und des Iran zielt die Offensive darauf ab, die autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens zu isolieren und eine Basis für weitere Angriffe auf die Revolution zu schaffen.
"Wenn man alles zusammennimmt, sieht man, dass USA, Großbritannien und Israel einen Plan für Syrien hatten. Entweder würde sich der syrische Staat als Ganzes ihrer Achse anschließen und Kompromisse eingehen oder er würde mit einer gewaltsamen Intervention konfrontiert werden."
Besê Hozat, Exekutivratsvorsitzende von Koma Civakên Kurdistan (Union der Gemeinschaften Kurdistans) KCK.
Diese Offensive steht im Einklang mit den Plänen des Westens zur Umstrukturierung des Mittleren Ostens und den Plänen Israels, den Waffennachschub aus Iran für die Hisbollah zu unterbrechen.
Zagros Hiwa, ein Sprecher von von Koma Civakên Kurdistan (KCK), warnt vor einem möglichen Plan der NATO, Syrien in drei Teile zu teilen. Dies würde bedeuten, dass es einen kurdischen Teil, einen sunnitischen Teil unter der Kontrolle der HTS und einen alevitischen Teil unter der Kontrolle von Assad geben würde.
Israel: Waffennachschub für Hisbollah unterbrechen
Bis vor kurzem hatte Damaskus sich gegenüber den Dschihadistenmilizen aus Idlib auch auf die Kampfkraft von Milizen der Hisbollah und anderer proiranischer Kräfte stützen können. Jetzt aber ist die Hisbollah durch den Angriff Israels auf Libanon stark geschwächt. Israel greift seit langem Ziele der Hisbollah in Syrien an und setzt die Streitkräfte des syrischen Regimes massiv unter Druck. In den letzten Monaten hat es dies noch verstärkt.
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle mit Sitz in London, die das Kriegsgeschehen in Syrien mit einem Netz aus Informanten verfolgt, hat Israel allein in diesem Jahr etwa 160 Mal in Syrien angegriffen.
In einem Interview mit der Zeitung Times of Israel vom 6. Dezember dankt ein Offizier der von der Türkei finanzierten und ausgebildeten Syrian National Army SNA (auch Freie Syrische Armee FSA genannt) Israel für die Angriffe gegen die Hisbollah, betont die guten Beziehungen zu Israel und fordert Israel auf, den Aufstand zu unterstützen und die vom Iran unterstützten Streitkräfte anzugreifen.
Israel arbeitet seit Jahren mit dschihadistischen Gruppen in Syrien zusammen, liefert Waffen, versorgt verletzte Milizionäre in israelischen Krankenhäusern.
In den zionistischen Plänen zur Eroberung von "Lebensraum" für die jüdische Bevölkerung und die Schaffung eines "Groß-Israel" werden auch Teile Syriens vereinnahmt.
Zentrale Rolle der Türkei bei der Destabilisierung Syriens
Der Angriff der Dschihadisten wäre ohne die Unterstützung der Türkei nicht möglich, da alle Lebensmittel, Kleidung, Information, Ausbildung und Waffen der HTS aus diesem Nachbarland stammen, obwohl Ankara sie offiziell als terroristische Vereinigung eingestuft hat. Erdogans sieht eine Gelegenheit, Syrien den Gnadenstoß zu versetzen, um den langjährigen Konflikt zu besseren Bedingungen für die Türkei zu beenden.
Der türkische Staat hat sein Ziel, Nord- und Ostsyrien vollständig zu besetzen und zu annektieren, nicht aufgegeben. Er will einschließlich Aleppo seine Pläne für eine "Groß-Türkei" verwirklichen. Jetzt ist die Konjunktur für ihn günstig geworden. Eines der strategischen Ziele der Türkei in der Offensive der HTS besteht darin, Damaskus dazu zu zwingen, den unter türkischem Einfluss stehende Islamisten im Nordwesten Autonomie zu gewähren, während es sich bereit erklärt, dasselbe im Nordosten zu tun, jedoch erst, nachdem die derzeitige Selbstverwaltung durch pro-türkische Cliquen ersetzt wurde.
"Es ist eine Übergangszeit während der US-Wahlen. Der Krieg Israels gegen die Hisbollah, der Waffenstillstand, Israels Pläne für Syrien, den Iran und die Region sowie der Plan, den die USA, Großbritannien und die internationalen Hegemonialmächte gemeinsam mit Israel umsetzen, all das wird auch vom türkischen Staat bewertet. Wie kann er diese Situation für seine eigenen Interessen nutzen? Wie kann er rechtzeitig die Gelegenheit ergreifen?", meint Besê Hozat die Exekutivratsvorsitzende von Koma Civakên Kurdistan (Union der Gemeinschaften Kurdistans) KCK.
Der Fall von Aleppo hat die Machtbalancen verschoben
Der Journalist Selahattin Erdem sieht in den aktuellen Angriffen von HTS und SNA in Syrien einen Plan der NATO zur Umgestaltung des Mittleren Ostens am Werk.
Am 5. Dezember schrieb er in der Zeitung Yeni Özgür Politika:
"(…) Wenn wir uns die bisherigen Angriffe ansehen, dann zielen diese offensichtlich darauf ab, gegen die iranisch-russische Präsenz in Syrien vorzugehen. Die Zukunft des Assad-Regimes ist vorerst unklar. Die Erklärung der US-Regierung, das Verhalten der Assad-Regierung habe zu dieser Situation geführt, deutet darauf hin, dass die Verhandlungen zwischen den USA und der Assad-Regierung zu keinem Ergebnis geführt hatten, dass das Regime die Forderungen der USA nicht akzeptiert hatte.
Andererseits ist es bemerkenswert, dass der Angriff auf Aleppo unmittelbar nach einem zweimonatigen Waffenstillstand zwischen Israel und Libanon erfolgt. Offensichtlich hat der Krieg der letzten Monate den Libanon offen und bereit für eine Neustrukturierung gemacht, aber dabei geht es nicht nur um den Libanon. Auch Syrien soll für eine Neustrukturierung bereit gemacht werden. Das Mittel hierzu ist Krieg, und in diesem Sinne sollte der mit dem Angriff auf Aleppo begonnene Krieg betrachtet werden. Auch wenn die US-Regierung etwas anderes behauptet, ist klar, dass der Angriff auf Aleppo das Werk der von den USA angeführten Kräfte ist.
Es ist offensichtlich, dass das Assad-Regime jetzt über den Haufen geworfen und die Verhältnisse in Syrien neu gestaltet werden sollen. Die Frage ist aber, welche Verhältnisse geschaffen werden sollen. Auch hier können wir im Voraus nichts Sicheres sagen, denn es hängt entscheidend vom Ausgang dieses Krieges ab. Auch wenn die Streitkräfte des Iran, Russlands und des Regimes bisher nicht gekämpft haben und die Angriffe daher reibungslos erfolgreich verliefen, täuscht man sich, wenn man davon ausgeht, dass das so bleibt und der Krieg schnell zu Ende gehen wird. Syrien verfügt über eine Vielfalt ethnischer Strukturen und organisierter Kräfte, daher ist es sehr wahrscheinlich, dass sich der begonnene Bürgerkrieg ausweitet und lang andauern wird.
Wir erinnern uns daran, wie die US-Regierung jahrelang in Afghanistan Krieg führte und das Land schließlich den Taliban überließ. Es ist offensichtlich, dass Syrien HTS, einem Ableger von al-Qaida, überlassen werden soll. HTS und die dahinter stehenden Kräfte werden Syrien wahrscheinlich in eine Föderation oder Konföderation mehrerer Regionen umwandeln. Wenn dies nicht geschieht, dann werden sie es möglicherweise in mehrere Teile aufteilen. Sie werden alles nach der Restrukturierung des Nahen Ostens ausrichten. Dem liegt die Sicherheit und Souveränität Israels und der Schutz der neuen Energierouten zu Grunde. Man wird dafür sorgen, dass die sunnitischen Kräfte in der Verwaltung an Einfluss gewinnen werden. Eigentlich sollte Assad noch eine Weile an der Macht gehalten werden, aber der aktuelle Krieg zeigt, dass sich diese Linie geändert hat. Es sieht so aus, als würde Assad in Zukunft keine Rolle mehr spielen.
Das ist angesichts der bisherigen Erklärungen offensichtlich. Nach dem Libanon soll nun auch die iranische Präsenz in Syrien beendet werden. Es kann auch sein, dass mit Russland eine Einigung über die Ukraine und andere Dinge erzielt wurde, aber die Frage der kurdischen Präsenz in Syrien und der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien konnte bisher nicht gelöst werden und wird in Zukunft in den Mittelpunkt rücken. Die Selbstverwaltung und die Kurd:innen stellen das Hauptziel des SNA-Arms des Angriffs dar. Es ist vollkommen offensichtlich, dass dies auch der Hauptgrund der Beteiligung der SNA an dem Angriff war. Die HTS brauchten insbesondere die SNA als Starthilfe, und diese Zusammenarbeit hat einen entscheidenden Anteil am Erfolg von HTS. Wie die Situation sich weiter entwickeln und wer die Hegemonie in Syrien erlangt, bleibt unklar, denn die Prioritäten von HTS und SNA unterscheiden sich grundsätzlich. Diese Widersprüche werden früher oder später zum Vorschein kommen und möglicherweise zu einer Spaltung führen.
Das Ziel der Türkei und ihrer SNA besteht einzig und allein darin, den kurdischen Einfluss und einen Status in Syrien zu verhindern. Im Gegensatz zur HTS zielen die Angriffe der SNA von Anfang an darauf ab, die kurdische Präsenz und Aktivität in Şehba, Minbic, Tabqa und Raqqa zu vernichten. Sobald die Truppen Aleppo erreicht hatten, wurden die Angriffe der SNA in diese Richtung umgeleitet. Seit dem 29. November gibt es Gefechte zwischen den QSD und der SNA. Die QSD schützen sowohl die kurdische als auch die arabische, armenische, assyrische, tscherkessische und turkmenische Bevölkerung. ..." (deutsche Übersetzung bei ANF News, 6.12.2024: "Analyse: Die Zukunft Syriens", https://anfdeutsch.com/hintergrund/analyse-die-zukunft-syriens-44516)