15.04.2021: Bundesverfassungsgericht erklärt Berliner Mietendeckel für verfassungswidrig ++ Bundesverfassungsgericht verteidigt die Unantastbarkeit des Eigentums nicht zum ersten Mal ++ Immobilienwirtschaft, CDU/CSU und FDP jubeln ++ DIE LINKE: "große Enttäuschung für 1,5 Millionen Miethaushalte in Berlin. Dafür können sie sich bei Union und FDP bedanken." ++ Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen: "Nur die Enteignung und Vergesellschaftung von Wohnraum bieten die Perspektive für ein Berlin mit bezahlbaren Mieten – jetzt erst recht."
Nachdem der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im März 2020 in einem Beschluss einen Antrag auf vorläufige Außerkraftsetzung der Bußgeldvorschriften des Berliner Mietendeckels abgelehnt hatte und zumindest keine offensichtlichen Zweifel daran erkennen ließ, dass das Gesetz zur Mietenbegrenzung verfassungsgemäß sei, war lange nichts mehr aus Karlsruhe zu hören. Jetzt ging es ganz schnell - ohne Vorankündigung und seltsamerweise ohne mündliche Verhandlung, was bei einer Entscheidung von solcher Tragweite das alles andere als üblich ist. Zudem war das Thema an den als konservativer geltenden Zweiten Senat unter dem zuständige Verfassungsrichter Peter M. Huber überweisen worden. Peter M. Huber war vor seiner Berufung an das Bundesverfassungsgericht CDU-Innenminister von Thüringen.
Heute (15.4.) hat das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel in Berlin für verfassungswidrig erklärt. Das Gesetz sei nichtig, heißt es in der Entscheidung der Richter. Der vor mehr als einem Jahr in Kraft getretene Mietendeckel verstoße gegen das Grundgesetz. Da der Bund bereits 2015 die Mietpreisbremse beschlossen hatte, liege die Gesetzgebungsbefugnis ausschließlich bei ihm, heißt es aus Karlsruhe. Für eigene Gesetze der Länder sei deshalb kein Raum. Nun drohen Nachzahlungen für viele Mieterinnen und Mieter.
Geklagt hatten mehr als 280 Bundestagsabgeordnete von CDU/CSU und Union, die seit Jahren effektiven Schutz von Mieterinnen und Mietern verhindern.
Gestern hatte Vizesenatschef Klaus Lederer (DIE LINKE) noch gemeint, dass mit dem Mietendeckel zwar "auch rechtliches Neuland betreten" wurde, war sich aber sicher, dass die Regelungen des Mietendeckels "verfassungskonform" seien.
Der rot-rot-grüne Berliner Senat stützte sich bei seiner Beurteilung auf eine Reihe von Gutachten von Verfassungsrechtler*innen. So legt z.B. Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht an der Universität Regensburg, u.a. dar, dass ein "Nebeneinander öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Mietbegrenzung regulatorischer Normalzustand" ist und deshalb das Gesetz des Berliner Senats zum Mietendeckel mit dem Grundgesetz vereinbar ist. [1]
Auch ein Gutachten der Rechtswissenschaftler Andreas Fischer-Lescano, Andreas Gutmann und Christoph Schmid stellte schon 2019 fest: Der Mietendeckel ist zulässig. "Sowohl ein Mietpreismoratorium, als auch eine Mietpreisobergrenze beziehungsweise eine Mietpreisabsenkung, sind weder vom Bundesrecht ausgeschlossen noch diesem gegenläufig. Der Landesgesetzgeber hat dementsprechend die Kompetenz, entsprechende Vorschriften einzuführen." [2]
Schutz des Eigentums
Die Richter in Karlsruhe wischten diese Argumente ohne Anhörung vom Tisch. Sie verkündeten ein politisches Gerichtsurteil. Die Argumentation mit Bundes- oder Landeszuständigkeit ist vorgeschoben, um sich nicht direkt als Verfechter der Interessen der Immobilienkonzerne bloß zu stellen. Die Richter verlassen sich darauf, dass auf Bundesebene kein Gesetz zum Mietstopp durchkommen wird. Und wenn doch, dann wird das Bundesverfassungsgericht die Unantastbarkeit des Eigentums verteidigen. Nicht zum ersten Mal.
Als die Unternehmerverbände 1976 gegen das damals beschlossen Mitbestimmungsgesetz vor das Bundesverfassungsgericht zogen, erklärte dieses, dass das Mitbestimmungsgesetz nur deshalb verfassungskonform sei, weil es auf Grund der Stimmenmehrheit der Kapitalseite keinen Eingriff in das Eigentum darstellt.
"Ich hab ja nichts gegen die Klassenjustiz. Mir gefällt nur die Klasse nicht, die sie macht. Und dass sie noch so tut, als sei das Gerechtigkeit - das ist hart und bekämpfenswert."
Kurt Tucholsky
Deutlich wird, dass eine wesentliche Funktion des bürgerlichen Staates - und damit seines obersten Gerichts - die Garantie der Eigentumsverhältnisse ist. Das Urteil bestätigt Karl Marx, der darlegte, dass Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen Verhältnissen entspringen und die Rechtsprechung immer nur (mit zeitlicher Verzögerung) das Kräfteverhältnis der Klassen abbildet. Nach Marx ist die Justiz ein Teil des gesellschaftlichen "Überbaus", der sich aus der ökonomischen Basis erhebt. Das Recht kann demnach "nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft". Die Rechtsordung ist eine besondere Art der Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und Auseinandersetzungen in Normen und Verfahren, das Bundesverfassungsgericht eine juristische Bastion gegen die Veränderung dieser Kräfteverhältnisse.
"Selbst wenn die Linke an der Macht wäre und über die Regierungsbesetzung hinaus Zweige und Staatsapparate kontrollierte, stünden damit nicht zwangsläufig auch diejenigen Apparate unter ihrer Kontrolle, die die dominante Rolle im Staat einnehmen und damit zentraler Angelpunkt der realen Macht sind. Die zentralisierte Einheit des Staates hat nicht die Form einer Pyramide, die man sicher kontrolliert, wenn man nur ihre Spitze besetzt. Mehr noch: Die institutionelle Organisation des Staates ermöglicht es der Bourgeoisie, die dominante Rolle eines Apparates einem anderen zuzuordnen, falls es der die Regierung stellenden Linken gelänge, denjenigen Apparat zu kontrollieren, der bis dahin die dominante Rolle spielte." Nicos Poulantzas, Staatstheorie, hier bestellen |
Die Konsequenz liegt auf der Hand: Mehr denn je kommt es jetzt auf gesellschaftlichen Druck an. Und auf eine breite Unterstützung der mietenpolitischen Bewegungen. "Nur die Enteignung und Vergesellschaftung von Wohnraum bieten die Perspektive für ein Berlin mit bezahlbaren Mieten – jetzt erst recht," ordnet Jenny Stupka, Sprecherin der Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen", das Urteil ein.
Mietendeckel gegen Mietenwahnsinn:
1,5 Millionen Wohnungsmieten eingefroren und teilweise gesenkt
"Berlin hat den Mietendeckel eingeführt, um Mieter*innen von einem immer stärker befeuerten Mietanstieg zu entlasten" begründete Klaus Lederer (DIE LINKE) gestern noch einmal den Mietendeckel.
Der Berliner Mietendeckel war bundesweit einmalig; das von der rot-rot-grünen Koalition verabschiedete Gesetz war zunächst bis 2025 befristet. Am 23. Februar 2020 wurden die bestehenden Mieten für 1,5 Millionen Wohnungen in der Hauptstadt eingefroren - und zwar auf dem Stand vom Juni 2019. Das betrifft neun von zehn Mietwohnungen. Bei Wiedervermietungen gelten Höchstwerte einer Mietentabelle. Der Mietendeckel galt nicht für neue Wohnungen, die seit 2014 fertig wurden.
Seit November 2020 ist die zweite Stufe in Kraft, die das Absenken von Mieten gesetzlich vorschreibt, wenn sie um mehr als 20 Prozent über der für die Wohnung geltenden Obergrenze liegen. Bei Verstößen drohte ein Bußgeld von bis zu 500.000 Euro.
"Meine Wohnung kostet jetzt 434 Euro weniger" |
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Erst deckeln und jetzt enteignen |
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Größte deutsche Wohnungskonzerne in der Hand von Blackrock & Co |
Reaktionen auf das Urteil
Bei der Immobilienwirtschaft knallen die Sektkorken, den Konzerne wie Deutsche Wohnen oder Vonovia bekamen die Mietpreisbremse zu spüren. Die marktbedingte Steigerung der Vonovia-Mieten liege mit 0,8 Prozent um ein Drittel unter den Vorjahreswerten, sagte Vorstandschef Rolf Buch Anfang November bei der Vorlage der Geschäftszahlen für das dritte Quartal 2020. Jetzt gibt es wieder freie Fahrt für Mietpreissteigerungen.
Deutsche Wohnen erhöht Dividende
Auch bei Deutsche Wohnen hat der Berliner Mietendeckel Spuren hinterlassen. Die Vertragsmieten verharrten mit 837,6 Millionen Euro auf dem Niveau des Vorjahres, wie das Dax-Unternehmen bereits Ende März mitteilte. Die Bestandsmiete im Gesamtportfolio ging aufgrund des Berliner Mietendeckels um 4,1 Prozent auf durchschnittlich 6,70 Euro pro Quadratmeter zurück, der operative Gewinn sank um 1,6 Prozent auf rund 544 Millionen Euro. Trotzdem soll die Dividende auf 1,03 Euro je Aktie erhöht werden. Dafür müssen die Mieter*innen bluten. Die Deutsche Wohnen will im Unterschied zu Vonovia nach dem Aus für den Berliner Mietendeckel auf Nachforderungen an die Mieter*innen nicht verzichten. Die Deutsche Wohnen besitzt in Berlin an die 120.000 Wohnungen. "Auf den Ausgleich der Außenstände zu verzichten, würde jedoch unseren Verpflichtungen gegenüber dem Unternehmen, seinen Mitarbeitern und Eigentümern nicht gerecht werden", teilte das Unternehmen heute in Berlin mit. Das Unternehmen zeigt sich kulant: "Für die Begleichung des Restbetrags bieten wir zahlreiche Möglichkeiten an, die der finanziellen Lage der Mieterinnen und Mieter flexibel Rechnung tragen."
Die FDP, die gegen den Mietendeckel vor das Bundesverfassungsgericht gezogen war, freute die Entscheidung der Richter. "Dass der Mietendeckel nichtig ist, ist eine gute Nachricht", sagte FDP-Fraktionsvize Michael Theurer. Der bau- und wohnungspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Daniel Föst sagte: "Der Berliner Senat hat die Mieterinnen und Mieter wider besseren Wissens für ein ideologisches Experiment missbraucht und das ist gründlich misslungen." Nun müssten die Berliner "die Zeche zahlen in Form von Mietnachzahlungen und Wohnungsnotstand".
Die CDU begrüßt das Urteil ebenfalls, weiß aber, dass der Mietendeckel bei den Berliner Mieter*innen äußerst populär ist. Sie spielt sich jetzt als Schutzpatron der Mieter*innen auf. Der Senat müsse als Sofortmaßnahme einen Härtefall-Fonds für diejenigen Mieter*innen auflegen, die durch das Kippen des Mietendeckels in wirtschaftliche Not geraten. Keine Mieter*in dürfe die Wohnung verlieren, wegen der "ideologischen Wohnungspolitik von Rot-Rot-Grün", fordert ausgerechnet der Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete und rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Marco Luczak - einer der Kläger gegen den Mietendeckel.
"Der Bauunternehmer Christoph Gröner zahlte 800.000 Euro an die CDU Berlin. In keinem Bereich werden die skandalösen Verstrickungen zwischen Politik und privatwirtschaftlichen Interessen deutlicher als in der Wohnungswirtschaft."
Kevin Kühnert, stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD
Die Berliner Bundestagsabgeordnete Canan Bayram (Grüne), meint: "Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Berliner Mietendeckel gibt die politische Ebene vor, auf der die Auseinandersetzung um eine Regulierung der Mietpreise geführt werden muss: der Bund ist alleine zuständig. Deshalb gilt es jetzt umso mehr, im September bei den Wahlen zum Bundestag für ganz andere Mehrheiten zu sorgen. Damit nicht nur in Berlin, sondern auch in Hamburg und Stuttgart, die Mieten nicht weiter steigen, eine Obergrenze der Miethöhe als Deckel eingezogen wird. Nun muss alles getan werden, damit die Mieter*innen in Berlin vor nachteiligen Forderungen oder Konsequenzen geschützt werden."
"Das Urteil ist eine große Enttäuschung für 1,5 Millionen Miethaushalte in Berlin. Dafür können sie sich bei Union und FDP bedanken."
Caren Lay, DIE LINKE
"Das Urteil ist eine große Enttäuschung für 1,5 Millionen Miethaushalte in Berlin. Dafür können sie sich bei Union und FDP bedanken", sagt Caren Lay, stellvertretende Vorsitzende sowie mieten- und wohnungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE.
Caren Lay weiter: "Dennoch ist die Entscheidung kein Grund zu verzagen. Das Verfassungsgericht hat nicht die staatliche Regulierung von Mietpreisen verboten, sondern lediglich entschieden, wer dazu befugt ist. Wenn es den Ländern nicht zugestanden wird, den Mietendeckel umzusetzen, dann muss es der Bund tun. Wir brauchen einen bundesweiten Mietendeckel, der den Mietenanstieg in den Städten stoppt. DIE LINKE hatte bereits 2018 einen bundesweiten Mietendeckel gefordert (BT-Drucksache 19/2516). Dies wäre juristisch einwandfrei über das Bürgerliche Gesetzbuch zu lösen. Und dafür gäbe es auch Unterstützung aus der Gesellschaft. Erst vor kurzem hat das Bündnis 'Mietenstopp!!' eine entsprechende Initiative gestartet. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt wird sich ohne staatliche Regulierung weiter zuspitzen. Millionen ohne Job und Millionen in Kurzarbeit werden bald Probleme haben, ihre Mieten zu bezahlen. Jetzt ist der Bundestag gefragt."
Seit Ende Februar läuft die zweite Sammelphase des Volksbegehrens "Deutsche Wohnen & Co. enteignen!" (siehe kommunisten.de: Erst deckeln und jetzt enteignen) Möglicherweise entwickelt sich durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch mehr Dynamik in der Enteignungs-Kampagne.
"Der Mietendeckel ist gekippt. Unsere Forderung steht auf einem sicheren juristischen Fundament. Die gesamte juristische Kommentarliteratur, einschließlich Gutachten der wissenschaftlichen Dienste von Bundestag und Abgeordnetenhaus sowie der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, bestätigt die juristische Zulässigkeit des Enteignungs-Volksbegehrens" verkündet die Initiative.
Jetzt erst recht! Keines der Ziele einer sozialverträglichen Mietenpolitik wird mit dem heutigen Urteil hinfällig. Deutsche Wohnen & Co. enteignen!
Für die Berliner*innen: Hier unterschreiben
Anmerkungen
[1] Kurzgutachten für die Bundestagsfraktion DIE LINKE.
https://www.linksfraktion.de/themen/nachrichten/detail/bundeslaender-duerfen-mieten-deckeln/
https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_upload/PDF_Dokumente/2020/200218_Kingreen_Mietendeckel_Kompetenz.pdf
[2] Landeskompetenzen für Maßnahmen der Mietpreisregulierung
https://www.rosalux.de/publikation/id/41344/landeskompetenzen-fuer-massnahmen-der-mietpreisregulierung
mehr zum Thema Wohnen und zur Berliner Wohnungspolitik auf kommunisten.de
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