20.05.2022: Türkei blockiert NATO-Beitritt von Finnland und Schweden ++ Erdoğan verlangt von Schweden und Finnland Auslieferung von PKK-Aktivist*innen und Einstellung der Unterstützung für die syrisch-kurdische YPG, außerdem mehr Waffen für Krieg gegen Kurd*innen und seine neo-osmanische Expansion ++ USA und NATO: türkische Sicherheitsbedenken müssen angegangen werden.
Die Türkei hat in der NATO den Beginn der Beitrittsgespräche mit Finnland und Schweden zunächst blockiert. Der türkische Präsident Recep Erdoğan hat öffentlich erklärt, dass er seine Zustimmung zu dem NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands von einem Entgegenkommen seitens des Bündnisses in Sicherheitsfragen abhängig mache. Die NATO-Erweiterung gehe für die Türkei einher mit dem Respekt, den man den türkischen Empfindsamkeiten entgegenbringe, sagte er bei einer Rede vor seiner Regierungspartei AKP in Ankara.
Und über den Sprecher der Präsidentschaft, Ibrahim Kalin, ließ Erdoğan am Mittwoch die Botschaft an Schweden, Finnland, Deutschland, das Vereinigte Königreich und die USA übermittelt: "Wenn die Erwartungen der Türkei nicht erfüllt werden, sind Fortschritte im (Beitritts-)Prozess unmöglich".
Erdoğan wirft Finnland und Schweden vor, die von der Türkei bekämpfte kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrisch-kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG / YPJ zu unterstützen. Er bezeichnete die beiden Länder als "Gasthäuser für Terrororganisationen". Schweden etwa verweigere die Auslieferung von 30 "Terroristen" der kurdischen Arbeiterpartei PKK.
"Terrorhilfe" ist für Erdoğan auch, dass Schweden mit etwa 10 Millionen Euro eine Verbesserung der Wasserversorgung in Rojava und ein Programm für Frauen unterstützt hat, die sexualisierter Gewalt durch die IS-Terrormiliz ausgesetzt waren.
"Selbst in ihren [schwedischen und finnischen] Parlamenten gibt es Befürworter des Terrorismus", sagte Erdoğan. Wenn die Türkei dem Beitritt Finnlands und Schwedens zustimmen würde, würde die NATO zu einer "Konzentration von Terroristen" werden. Außerdem kritisierte er das Waffenembargo, das die beiden Länder nach der militärischen Besetzung eines Teils von Rojava durch die Türkei im Jahr 2019 verhängt haben.
Erdoğan betonte: "Wir werden denjenigen, die Sanktionen gegen die Türkei verhängt haben, keine positive Antwort geben auf einen Antrag auf Beitritt zur NATO, zu der Organisation, die sich der Sicherheit verschrieben hat. Dann wird die NATO aufhören, eine Sicherheitsorganisation zu sein und zu einem Ort werden, an dem sich Terroristen sammeln."
Gleichzeitig schlägt die Türkei die Türe nicht endgültig zu. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu bekräftigte zwar die Vorbehalte seines Landes, sagte aber auch, dass die Türkei immer für eine "Politik der offenen Tür" stehe: "Ich bin mir sicher, dass wir für diese Sache eine Lösung finden werden." Die Türkei setzt darauf, dass sie ist für die NATO enorm wichtig ist: Sie verfügt über die zweitgrößte Armee der NATO und spielt schon wegen ihrer geografischen Lage eine Schlüsselrolle.
"Die Türkei ist ein geschätzter Bündnispartner und alle Sicherheitsbedenken müssen angegangen werden."
Jens Stoltenberg, NATO-Generalsekretär
Sowohl der nationale Sicherheitsberater der Biden-Regierung, Jake Sullivan, wie auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg haben bereits signalisiert, "dass die Bedenken der Türkei ausgeräumt werden können" (Sullivan), bzw. dass "wir einen gemeinsamen Nenner finden werden" (Stoltenberg). Stoltenberg ist sich sicher, "dass wir auf die Einwände, die von der Türkei geäußert wurden, so eingehen können, dass sie den Beitrittsprozess nicht verzögern werden".
PKK und F35 im Tausch gegen Schweden und Finnland
Erdoğan, der Europa mit Flüchtlingen erpresst und für seine Türsteherdienste Milliarden kassiert, erhöht den Preis für sein Veto gegen die neue NATO-Erweiterung.
Von Helsinki und Stockholm verlangt die türkische Regierung Garantien und Auslieferungen: keine mehr oder weniger direkte Unterstützung für die kurdischen Verteidigungseinheiten YPG im Nordosten Syriens, die von Ankara als terroristische Organisation wie die PKK angesehen werden, und ihre öffentliche "Exkommunikation"; die Auslieferung von Mitgliedern der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, die sich in Schweden und Finnland aufhalten; und ein Ende des Waffenembargos, das die beiden Länder nach den Angriffen Ankaras auf die syrischen Kurd*innen beschlossen haben.
"Soll Schweden die Kurden opfern, um Erdoğan zu gefallen?"
"Soll Schweden die Kurden opfern, um Erdoğan zu gefallen?" Diese rhetorische Frage stellte die Vorsitzende der schwedischen Linkspartei, Nooshi Dadgostar. "Am vergangenen Freitag konnten wir alle eine weitere Schwäche der NATO feststellen: Schweden befindet sich plötzlich in einer eindeutigen Abhängigkeit von dem türkischen Despoten Recep Tayyip Erdoğan. Ihm wird Einfluss auf grundlegende sicherheitspolitische Entscheidungen eingeräumt, die wir in unserem Land nach eigenem Ermessen treffen sollten. Die Antwort der sozialdemokratischen Regierung war bisher alles andere als überzeugend." (siehe kommunisten.de: "Nooshi Dadgostar: Schwedische Linkspartei weiterhin für Blockfreiheit und gegen die NATO-Mitgliedschaft")
Auch der Abgeordnete des finnischen Linksbündnis, Johannes Yrttiaho, begründete in der Parlamentsdebatte seine Ablehnung des NATO-Beitritt u.a. mit der Erpressung durch die türkische Regierung: "Unmittelbar nach den ersten Schritten in Richtung NATO hat die Türkei unsere Regierung mit der Tatsache konfrontiert, dass Finnland seine Politik gegenüber der Türkei, den kurdischen Organisationen in Syrien und den kurdischen Aktivisten der türkischen Arbeiterpartei in Finnland ändern muss. Nach Ansicht der Türkei muss Finnland auch das Waffenembargo gegen die Türkei aufheben. … Ich zweifle nicht einen Moment daran, dass Finnland für den Eintritt in die NATO den Forderungen der Türkei nachgeben wird. .. Für die Regierung Marin ist die NATO-Mitgliedschaft das wichtigste Thema, dem alle anderen Fragen, wie z.B. die viel propagierte Menschenrechtspolitik, untergeordnet sind."
Schweigen zum Angriffskrieg der Türkei
So wird das Schicksal der Kurd*innen - und nicht nur das ihre - auf dem internationalen Waffenbazar der NATO verhandelt, um Erdoğans Veto gegen den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands zu aufzuheben. Die YPG, die syrisch-kurdischen Brigaden von Kobane und Rojava, die stellvertretend für die Welt heldenhaft den Kampf gegen das IS-Kalifat geführt haben, sollen zu terroristischen Organisationen erklärt werden. Aber waren diese Kurd*innen nicht die Kämpfer*innen, die wir als "unsere Helden" feierten? Offensichtlich sind sie es nicht mehr. Im Gegenteil, Deutschland und die NATO geben Erdoğan solide Militärhilfe.
Dabei befindet sich das NATO-Mitglied Türkei erneut im Krieg mit den Kurd*innen, mit zahlreichen zivilen Opfern. Aber das Atlantische Bündnis tut so, als wüsste es das nicht. Am 17. April startete Ankara einen neuen Angriffskrieg auf Irakisch-Kurdistan und im syrischen Rojava. (siehe kommunisten.de: "Türkei: Völkerrechtswidriger Überfall auf den Nordirak") Die Türkei habe in drei Tagen mehr als 50 kurdische Städte und Dörfer im Nordosten Syriens bombardiert, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) am Sonntag (15.5.) mit. [1]
"Ist das Schweigen über die Aggressionen der Türkei und das mit Füßen treten der kurdischen Menschenrechte der Preis, den die finnische Regierung für Finnlands Antrag auf Nato-Mitgliedschaft zahlen will? Ist das eine Vorschau darauf, wie sich die Nato-Mitgliedschaft auf Finnlands Außenpolitik auswirken wird?", sagt Johannes Yrttiaho vom finnischen Linksbündnis Vasemmistoliitto.
Neue Kampfflugzeuge im Tausch gegen Veto
Auch Zugeständnisse der USA stehen auf Erdoğans Wunschliste. Vor einigen Jahren hatte Ankara russische S-400-Flugabwehrraketen gekauft und wurde daraufhin von den USA sanktioniert. Die USA haben die Lieferung der modernen Kampfflugzeuge F35 blockiert. In einem Telefonat mit US-Präsident Joe Biden hat Erdoğan kürzlich die Aufhebung der "unfairen" Strafmaßnahmen gefordert. Erdoğan will die Wiederaufnahme des Programms zur Lieferung von F35-Flugzeugen. Und nicht nur das: Er will grünes Licht für den Kauf von vierzig US-amerikanischen F16-Kampfjets und die Aufhebung der Sanktionen, die wegen der militärisch-kommerziellen Beziehungen zu Moskau verhängt wurden. Außerdem geht es um die Modernisierung der türkischen Flotte, die im Schwarzen Meer, im östlichen Mittelmeer und in Nordafrika (vor Libyen) patrouilliert, dem umstrittenen Schauplatz der türkischen "Blue Homeland"-Expansion zur Aufteilung von Einflussgebieten und Offshore-Gasfeldern - im Konflikt mit Griechenland, Zypern und Ägypten.
Anmerkungen
[1] SOHR, 15.5.2022: Turkey Bombed 50 Villages And Towns In Syria’s Northeast In Three Days
https://www.syriahr.com/en/251753
zum Thema
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