17.07.2025: "Es gibt keine Worte, um diese kriminelle Schande zu beschreiben. Das Blut der Ermordeten klebt an Ihren Händen." So reagierte der kommunistische Abgeordnete des israelischen Parlaments, Ofer Cassif, auf die Entscheidung des Rates der EU-Außenminister, das Assoziierungsabkommen der EU mit Israel nicht auszusetzen.
Der Rat der EU-Außenminister, der am 15. Juli zum letzten Mal vor der Sommerpause tagte, hat alle möglichen Maßnahmen gegenüber Tel Aviv auf Eis gelegt. In Bezug auf die Lage im Gazastreifen erklärte die Außenbeauftragte der Europäischen Union, Kaja Kallas, dass "die EU die Umsetzung dieses Abkommens weiterhin aufmerksam verfolgen wird" und versicherte, dass sie "alle zwei Wochen über den aktuellen Stand berichten wird". Mehr aber auch nicht.
"Der @EUC-Rat hat es gestern versäumt, eine Entscheidung über Israels Verletzung der Menschenrechtsklausel des Assoziationsabkommens zu treffen. Aber das ist an sich schon eine Entscheidung: Europa beschließt, Israels fortgesetzte Kriegsverbrechen nicht zu bestrafen und lässt zu, dass der Völkermord in Gaza unvermindert weitergeht."
Josep Borrell Fontelles, ehemaliger Außenbeauftragter und Vize-Präsident der EU-Kommission, 16.7.2025, https://x.com/JosepBorrellF/status/1945423963934310508
Ganz anders waren die Erwartungen am Vortag. Bei seiner Tagung am 23. Juni hatten die Außenminister die Überprüfung der Einhaltung von Artikel 2 (Menschenrechtsverpflichtungen) des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel beschlossen.
Bericht des EU-Auswärtigen Dienstes: Israel verstößt gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen aus dem Assoziierungsabkommen
Den Außenministern lag eine "vertraulicher" achtseitiger Bericht des EU-Auswärtigen Dienstes vor, in dem die Vorwürfe der UNO bestätigt werden, dass Israel sich "willkürlicher Angriffe, Aushungerung, Folter und Apartheid" gegenüber Palästinensern schuldig gemacht hat.
In dem Bericht heißt es weiter: "Israel hat gegen eine vorläufige Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes (IGH) verstoßen", die darauf abziele, "Handlungen im Sinne der Völkermordkonvention zu verhindern". "Die Blockade und Belagerung des Gazastreifens durch Israel kommt einer kollektiven Bestrafung gleich ... und könnte auch den Einsatz von Hunger als Kriegsmittel darstellen."
"Palästinensische Journalisten und Medienmitarbeiter wurden in großer Zahl getötet, möglicherweise weil sie direkt ins Visier genommen wurden. Dies ist wahrscheinlich ein bewusster Versuch Israels gewesen, den Informationsfluss aus und nach Gaza zu beschränken und Berichte über die Auswirkungen seiner Angriffe zu verhindern."
Auf Seite acht kommt der Bericht zu der Schlussfolgerung, dass "es Anzeichen dafür gibt, dass Israel gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen aus dem Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel verstößt." [1]
Das "vertrauliche" achtseitige Dokument des EU-Auswärtigen Dienstes wurde von EUobserver veröffentlicht.
https://euobserver.com/eu-and-the-world/ar0246a0da
Dieses 25 Jahre alte "Assoziierungsabkommen" bringt Israel Handelsvorteile in Höhe von einer Milliarde Euro pro Jahr.
"Wirtschaftliches Druckmittel ist das mächtigste Instrument, das die EU besitzt, um Israels illegale Besetzung und den anhaltenden Völkermord zu beenden. Neue Untersuchungen bestätigen, dass die EU der größte Handelspartner Israels ist", schrieb die UN-Sonderbeauftragte Francesca Albanese an die Tagung der EU-Außenminister.
"Die Aufrechterhaltung des Handels mit einer Wirtschaft, die untrennbar mit Besatzung, Apartheid und Völkermord verbunden ist, bedeutet Mittäterschaft. Es bedeutet, den Zusammenbruch der internationalen Rechtsordnung zu billigen. Es bedeutet, dass die EU die mehr als 17.000 Kinder auf dem Gewissen hat, die in den letzten 21 Monaten von Israel getötet wurden, die Hunderte von Palästinensern, die bei dem Versuch, eine Tüte Mehl für ihre hungernden Familien zu bekommen, abgeschlachtet wurden, und vieles mehr. Zwischen 2023 und 2024 stiegen die Warenexporte der EU nach Israel um 1,2 Milliarden Euro. Das muss ein Ende haben."
Francesca Albanese, 15.7.2025, https://x.com/FranceskAlbs/status/1945096519490687018
Sie fügte hinzu: "Das moralische und rechtliche Versagen dieser EU (gegenüber dem palästinensischen Volk und den Millionen ihrer eigenen Bürger, vor allem den Jüngsten) ist bereits offenkundig. Aber heute stehen die EU-Führer vor der Wahl: diesen entsetzlichen Makel zu vertiefen oder endlich die Werte zu wahren, die die Union für sich in Anspruch nimmt."[2]
Spanien und die Mehrheit für Aussetzung
Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez hatte bereits beim Treffen der EU-Regierungschefs am 26. Juni die EU-Partner aufgefordert, das Assoziierungsabkommen mit Israel umgehend auszusetzen. Im Gazastreifen entwickele sich eine "katastrophale Völkermordsituation", begründete Sánchez seinen Vorstoß. Doch die Regierungschefs verschoben die Entscheidung aus das Treffen der Außenminister am 15. Juli.
Vor der Tagung der Außenminister erklärte Spaniens Außenminister José Manuel Albares erneut, sein Land werde im Einklang mit den EU- und internationalen Normen auf eine Aussetzung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel, ein Waffenembargo gegen Israel und ein Verbot von Produkten aus den jüdischen Siedlungen drängen.
In der EU stehen auf der einen Seite die Mehrheit der Länder, die aufgrund der nachgewiesenen Menschenrechtsverletzungen durch Tel Aviv das Assoziierungsabkommen aussetzen wollen. Auf der anderen Seite stehen Deutschland, Italien und Ungarn, die bedingungslos den israelischen Vernichtungskrieg in Gaza unterstützen – eine Minderheit, aber aufgrund der Mechanismen der EU können sie alles blockieren.
Deutschland blockiert. Zehn Optionen gescheitert. Israel kann mit dem Völkermord ungehindert von der EU weitermachen
Am Dienstag war die oberste EU-Diplomatin Kaja Kallas dann mit einer Reihe von Optionen zum Außenminister-Gipfel erschienen. "Das Ziel ist nicht, Israel zu bestrafen; Ziel ist es, die Situation in Gaza wirklich zu verbessern", erklärt Kallas zu ihren Vorschlägen.
Doch die zehn Vorschläge, die Kallas den Ministern vorgelegt hatte, um die engen Beziehungen zwischen Brüssel und Tel Aviv in irgendeiner Form zu ändern, scheiterten an der Unmöglichkeit, für jede der vorgestellten Optionen die erforderliche Mehrheit zu finden.
In den letzten Tagen war die Möglichkeit einer Aussetzung eines oder mehrerer Teile des umfassenden Partnerschaftsabkommens im Raum gestanden, beispielsweise durch die Aussetzung der Visumfreiheit oder die Blockade bestimmter Handelsaspekte wie des Importes von Produkten aus den jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland oder der universitären Zusammenarbeit im Rahmen des Programms "Horizon", dessen Forschung und Entwicklung im Bereich der Dual-Use-Technologien auch Auswirkungen auf die Rüstungsindustrie hat.
Besorgt über das bloße Aufkommen einer solchen Perspektive, war der israelische Außenminister Gideon Sa'ar am Montag in Brüssel erschienen. Nach dem Gipfel dankte er "den europäischen Freunden” erleichtert. Sein Dank richtete sich insbesondere an Deutschland, Ungarn und Italien, an denen jegliche Sanktionsmaßnahme gegen Israel scheiterte.
Auch der zunehmende Druck der Zivilgesellschaft, angefangen bei humanitären Organisationen und einer Gruppe von 27 ehemaligen EU-Diplomaten im Nahen Osten, die einen Brief an die europäischen Spitzenpolitiker geschickt hatten, in dem sie zum Handeln aufforderten, brachte keine konkreten Ergebnisse.
Die 27 EU-Außenminister einigten sich lediglich darauf, die Einhaltung einer kürzlich getroffenen Vereinbarung über die Verbesserung des Zugangs humanitärer Hilfsgüter zum Gazastreifen durch Israel "genau zu beobachten". Kallas sagte, die EU werde die zehn Optionen "auf dem Tisch" halten und "bereit sein zu handeln, wenn Israel seine Zusagen nicht einhält".
Claudio Francavilla, stellvertretender Direktor von Human Rights Watch bei der EU, wirft dem Rat "Versagen” vor. "Bislang war die Überprüfung ein Bluff mit offenen Karten: Israel weiß sehr wohl, dass seine blindesten Verbündeten, darunter Deutschland und Italien, weiterhin jede Maßnahme blockieren werden, die darauf abzielt, seine Verbrechen zu stoppen”. Laut Francavilla reichte einigen europäischen Regierungen das Versprechen "ein paar Lkw mehr", um "die Vorwürfe schwerster Verbrechen zu vergessen", darunter "Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Apartheid und Folter in Gaza und im Westjordanland".
Für Francesca Albanese ist die Weigerung der EU, das Abkommen auszusetzen "der letzte Beweis dafür, dass die EU den israelischen Völkermord an den Palästinensern bewusst unterstützt".
"An meine europäischen Mitbürger: Die EU, die sich bereits vor Jahren durch den Abschluss des Assoziierungsabkommens mit dem Apartheid-Staat Israel blamiert hatte, weigert sich nun, dieses Abkommen auszusetzen.
Dies ist der letzte Beweis dafür, dass die EU den israelischen Völkermord an den Palästinensern bewusst unterstützt. Dies könnte das Ende der EU-Werte bedeuten.
EU-Mitgliedstaaten: Ich hoffe, Sie werden den EuGH einschalten. Aber denken Sie bitte daran, dass regionale Abkommen Ihre Verpflichtungen nach internationalem Recht nicht aufheben. Brechen Sie die Beziehungen zu Israel ab, beginnend mit dem Waffenhandel. Tun Sie das Richtige. Unsere europäische Geschichte gebietet es."
Francesca Albanese, 16.7.2025, https://x.com/FranceskAlbs/status/1945447021701120398
Amnesty International erklärte: "Dies wird als einer der schändlichsten Momente in der Geschichte der EU in Erinnerung bleiben. Die Weigerung der EU, ihr Abkommen mit Israel auszusetzen, ist ein grausamer und unrechtmäßiger Verrat - am europäischen Projekt und an der europäischen Vision, die auf der Einhaltung des Völkerrechts und der Bekämpfung autoritärer Praktiken beruht, an den eigenen Regeln der Europäischen Union und an den Menschenrechten der Palästinenser."[3]
Der israelische Außenminister Gideon Sa'ar sprach von einem "diplomatischen Sieg" und lobte die Bemühungen, die von Irland, Spanien und anderen Ländern vorangetriebenen Sanktionen zu blockieren.
Nur wenige Tage später warnte das Welternährungsprogramm (WFP), dass ein Drittel der Bevölkerung in Gaza seit mehreren Tagen nichts mehr gegessen hat. Das betrifft über 700.000 Menschen, darunter zehntausende Frauen, Kinder und Babys. Besonders dramatisch: Bereits 90.000 Menschen, darunter viele Kleinkinder, benötigen eine sofortige Behandlung gegen akute Mangelernährung. Doch Israel blockiert nach wie vor die Zufuhr von Medizin, Babynahrung, Nahrungsergänzungsmitteln und allem, was die Menschen brauchen.
Auch einige Minister äußerten ihre Enttäuschung über das Ausbleiben von Maßnahmen gegen Israel. Nach dem Treffen am Dienstag schrieb die slowenische Außenministerin Tanja Fajon auf X, sie bedauere, dass es während des Treffens keinen Konsens" gegeben habe, um die Überprüfung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel weiterzuverfolgen.
Sie fügte hinzu, dass eine "grundsätzliche Einigung" über die Verbesserung der humanitären Hilfe "nicht als Ausrede für Untätigkeit benutzt werden kann".
In einem Exklusivinterview mit Euronews sagt die Außenministerin der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Varsen Aghabekian Shahin, es sei "schockierend und enttäuschend", dass sich die Europäische Union weigert, in Anbetracht der Menschenrechtsverletzungen in Gaza und im Westjordanland gegen Israel vorzugehen.
https://de.euronews.com/my-europe/2025/07/16/palastinensische-aussenministerin-schockiert-uber-untatigkeit-der-eu-in-gaza
Wie kann es weitergehen
Francesca Albanese fordert EU-Mitgliedsländer auf, zur Einhaltung der Menschenrechtsklausel des Assoziirungsabkommens den Europäischen Gerichtshof einzuschalten.
Für Claudio Francavilla besteht eine Lösung nun darin, "die Länder, die die Maßnahmen blockieren, vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen", ähnlich wie es bereits die Vereinigung französischer Juristen Jurdi getan hat, die direkt gegen die Kommission geklagt hat. Der Verweis auf das Recht ist notwendig, da "alle EU-Mitglieder die UN-Konvention über Völkermord ratifiziert haben, die die Verpflichtung vorschreibt, ihn zu stoppen und nicht zu fördern", sagt Francavilla.
Anmerkungen:
[1] Das "vertrauliche" achtseitige Dokument des EU-Auswärtigen Dienstes wurde von EUobserver veröffentlicht.
https://euobserver.com/eu-and-the-world/ar0246a0da
[2] Francesca Albanese, 15.7.2025
https://x.com/FranceskAlbs/status/1945096519490687018
[3] Amnesty International: https://x.com/amnesty/status/1945156296933580896 | https://x.com/amnesty/status/1945156098517836064