30.11.2022: Militärisches Patt im Krieg um die Ukraine ++ hochrangige Militärs: Zeit für Verhandlungen ++ Papst bietet Vatikan für Verhandlungen an ++ aus dem Kreml kommt ein wortkarges Ja, kein Kommentar aus der Ukraine ++ Papst gegen die Invasion, "ohne Namen zu nennen". Und dann: "Ich bin ein Kommunist, wie Jesus einer war".
Im Krieg um die Ukraine zeichnet sich ein langer Abnutzungskrieg ab, weil weder Russland noch die Ukraine und die NATO nachgeben wollen. Russland zerstört gezielt Stromnetze und andere Sektoren der Infrastruktur, um die Ukraine zum Aufgeben zu zwingen.
Immerhin war der NATO bei ihrem Krieg gegen Jugoslawien mit dieser Strategie ein Erfolg beschieden.
Auf der anderen Seite kommen immer mehr Waffen und andere militärische Unterstützung aus den NATO-Ländern in die Ukraine. Die Außenminister:innen der NATO-Länder beschlossen bei ihrem gestrigen Treffen in Bukarest (29.11.) der Ukraine bei der Wiederherstellung der Energie-Infrastruktur zu helfen und verstärkt Luftabwehrsysteme zu liefern. Der als Gast zu der NATO-Beratungen eingeladene ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba hatte gefordert: "Patriots und Transformatoren sind das, was die Ukraine am meisten braucht." Polen schlug vor, die deutschen Patriot-Systeme in der Ukraine zu stationieren.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg versprach der Ukraine, dass sie sich auf die Rüstungshilfe und die finanzielle Unterstützung der NATO zur Abwehr der russischen Invasion "weiter fest verlassen" könne.
Von Waffenstillstand oder gar Friedensverhandlungen ist nicht die Rede. Das Sterben auf beiden Seiten geht ungebrochen weiter.
"Sinnvoller wäre, den Konflikt einzufrieren"
Ex-General Erich Vad
Militärs: Patt auf dem Schlachtfeld. Zeit für Verhandlungen
"Sinnvoller wäre, den Konflikt einzufrieren – mit einer völkerrechtlich anerkannten Demarkationslinie, schnellstmöglichen Waffenstillstands-Regelungen und anderen Mechanismen der Konfliktbewältigung", sagte kürzlich Erich Vad, Ex-General und militär-politischer Berater von Kanzlerin Angela Merkel.
Erich Vad: "Wir erleben eine militärische Patt-Situation. Ein länger dauernder Abnutzungskrieg zeichnet sich ab, auf einer fast 1000 Kilometer langen Frontlinie. Die Ukrainer können punktuelle Gewinne erzielen, weil sie die Aufklärungs- und Zieldaten von den westlichen Ländern zur Verfügung haben. Aber eben nur punktuell, nicht nachhaltig. Meine Lagebeurteilung teilt General Mark Milley, der US-Generalstabschef. Auch er befindet, dass dieser Krieg militärisch nicht entschieden werden kann. Deshalb müssen wir sehen, wie wir anderweitig rauskommen. Mit Verhandlungen." [1]
"Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges ist militärisch gesehen in naher Zukunft nicht sehr hoch"
General Mark Milley, Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs der US-Streitkräfte
Erich Vad bezieht sich auf General Mark Milley, den ranghöchsten Soldat des US-Militärs. Dieser hatte zuletzt während einer Pressekonferenz im Pentagon die offizielle Linie der Biden-Regierung in Frage gestellt und gesagt, dass er die Möglichkeit eines militärischen Sieges der Ukraine bezweifle: "Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges - definiert als der Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim - ist militärisch gesehen in naher Zukunft nicht sehr hoch", äußerte er am 16. November. Wahrscheinlicher sei nach seiner Ansicht eine politische Lösung. Russland liege "im Moment auf dem Rücken", sagte der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs. Er äußerte, dass die Ukraine die russischen Streitkräfte bis zum "Stillstand" bekämpft habe, und dass angesichts der sich abzeichnenden Pattsituation am Boden und des Wintereinbruchs die Zeit für Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau reif sein könnte. Die "Ukrainer sollten versuchen, ihre Gewinne am Verhandlungstisch zu festigen", so Mark Milley.
Auch der nationale Sicherheitsberater der US-Regierung, Jake Sullivan, forderte den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenskij auf, zumindest Offenheit für Gespräche mit Russland zu signalisieren.
Als die Kritik an Milleys Äußerungen und an der offenkundigen Befürwortung von Gesprächen durch die Regierung ausbrach, wurde sofort ein Rückzieher gemacht. Milley, so anonyme Beamte gegenüber der New York Times, war dem Rest der Regierung zu weit voraus geeilt. In der Öffentlichkeit beharrt die Biden-Administration darauf, dass jede Entscheidung, sich der Diplomatie zuzuwenden, von der Ukraine getroffen werden müsse, und dass keine Absprachen hinter ihrem Rücken getroffen würden.
Auch wenn die Hardliner in der NATO und im Berliner Außen- und Verteidigungsministerium nur über weitere Waffen und eine Eskalation des Krieges sprechen, so ist werden die Stimmen lauter, die sagen, dass es an der Zeit ist, darüber nachzudenken, wie der Krieg in der Ukraine beendet werden kann. Interessanterweise häufig von Seiten der Militärs, weniger von Zivilist:innen in Außen- und Verteidigungsministerien.
Vatikan bietet Vermittlung an
Vor diesem Hintergrund nimmt der Vatikan seine Vermittlungstätigkeit im Ukraine-Krieg wieder auf. Papst Franziskus erklärte seine Bereitschaft, ein Treffen zwischen den Führern Russlands und der Ukraine im Vatikan auszurichten, um Friedensgespräche aufzunehmen.
In einem längeren Interview, das der Pontifex der US-amerikanischen Jesuitenzeitschrift America gegeben hat und das am Montag (28.11.) veröffentlicht wurde [2], hat er die Frage der Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine wieder auf die Tagesordnung gesetzt, die aus einem nur von Bomben und Waffen geprägten Panorama verschwunden zu sein scheint.
"Die Position des Heiligen Stuhls ist es, Frieden und Verständigung zu suchen. Die vatikanische Diplomatie bewegt sich in diese Richtung und ist natürlich immer bereit, zu vermitteln", erklärte der Papst gegenüber America. Und der Sekretär für die internationalen Beziehungen, Monsignore Gallagher, hat in einem Interview mit Mediaset News den Vatikan als möglichen Ort für einen Friedensgipfel genannt.
"Der Heilige Stuhl und der Papst selbst waren seit Beginn des Krieges, seit dem 24. Februar, immer erreichbar, aber bis jetzt gab es keine konkrete Antwort", sagte der Außenminister des Vatikans. "Dennoch bleibt der Heilige Stuhl immer erreichbar. Und wenn es angebracht und notwendig wäre, diese Umgebungen anzubieten und zur Verfügung zu stellen, wie wir es auch in der Vergangenheit getan haben, glaube ich, dass der Papst es sehr positiv aufnehmen würde, wenn eine Anfrage von beiden Seiten mit allen guten Absichten und mit einem Geist der Suche nach Frieden, Dialog und vor allem dem Willen, diesen schrecklichen Krieg zu beenden, kommt".
"Es ist keine Frage des Sprechens oder Schweigens. Das ist nicht die Realität. In Wirklichkeit geht es um Dialog oder Nicht-Dialog. Der Dialog ist der Weg der besten Diplomatie."
Papst Franziskus
Aus dem Kreml ein wortkarges Ja, kein Kommentar aus der Ukraine
Moskau reagierte sofort und nahm das Vermittlungsangebot des Vatikans an - ob aus Überzeugung oder aus taktischen Überlegungen sei dahin gestellt. "Wir wissen, dass eine Reihe von ausländischen Staatsmännern und Ländern sich bereit erklärt haben, ihre Hilfe anzubieten, und natürlich begrüßen wir einen solchen politischen Willen", erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der russischen Nachrichtenagentur Interfax. Peskow vermutet jedoch, dass die Ukraine nicht zustimmen würde.
"Aber die Ukraine kann in der Situation, die wir jetzt de facto und de jure haben, solche Verhandlungen nicht gebrauchen", sagte der Kreml-Sprecher und bezog sich dabei offensichtlich auf das Dekret, mit dem Präsident Zelensky jegliche Verhandlungen untersagt hat.
Und tatsächlich kommt aus Kiew kein Kommentar zu dem Vorschlag des Vatikans.
Im weiteren Verlauf des Interviews mit der Zeitschrift America bekräftigt der Papst die Position, die er seit Beginn des Krieges vertritt, und wies den Vorwurf zurück, "pro-Putin" zu sein: Er verurteilte die russische Aggression gegen Kiew, ohne jedoch den Krieg zu rechtfertigen, den er wiederholt als "Dritten Weltkrieg" bezeichnet hat.
"Wenn ich von der Ukraine spreche, spreche ich von einem gemarterten Volk. Und wenn es ein gemartertes Volk gibt, dann gibt es auch jemanden, der es martert", sagte der Papst. "Es ist der russische Staat, der angreift, das ist ganz klar", fügte der Papst hinzu, "manchmal versuche ich, nicht zu spezifizieren, um nicht zu beleidigen, und ich verurteile lieber allgemein, auch wenn genau bekannt ist, wen ich verurteile: es ist nicht nötig, dass ich Vor- und Nachnamen nenne", "es ist nicht nötig, dass ich Putin erwähne, es ist bereits bekannt".
Der Papst erinnert daran, dass er unmittelbar nach Beginn des Krieges in die russische Botschaft ging - "eine ungewöhnliche Geste, denn der Papst geht nie in eine Botschaft". "Und dort sagte ich dem Botschafter, er solle Putin sagen, dass ich bereit sei, unter der Bedingung zu reisen, dass er mir ein winziges Zeitfenster für Verhandlungen einräume."
Auch jetzt stellt der Papst die Möglichkeit einer Reise wieder in den Raum, allerdings unter einer Bedingung: "Wenn ich reise, dann nach Moskau und Kiew, nach beiden, nicht nur nach einem". Das heißt, der Friede besteht aus zwei Teilen.
Ist der Papst ein Kommunist?
Zum Abschluss des Interviews wird Franziskus, der den Kapitalismus kritisiert - "Diese Wirtschaft tötet" -, eine Frage gestellt, die er schon häufig gehört hat: "Es gibt welche, die Sie einen Kommunisten oder einen Marxisten nennen."
"Ich versuche, dem Evangelium zu folgen", lautet die Antwort, die ebenfalls bekannt ist. Aber dann fügt Bergoglio ein zusätzliches Element hinzu.
"Das Problem, das dahinter steckt und das Sie zu Recht angesprochen haben, ist die gesellschaftspolitische Verkürzung der Botschaft des Evangeliums. Wenn ich das Evangelium nur soziologisch sehe, ja, dann bin ich Kommunist, und Jesus ist es auch. … Die Kommunisten haben einige unserer christlichen Werte übernommen. [lacht] Aus einigen anderen haben sie eine Katastrophe gemacht."[2]
Autorin: Katja Richter |
Anmerkungen
[1] Weltwoche, 22.11.2022: Putin kann nicht verlieren, Selenskyj nicht gewinnen – der Krieg ist festgefahren. Warum? Und was nun?
https://weltwoche.ch/daily/putin-kann-nicht-verlieren-selenskyj-nicht-gewinnen-der-krieg-ist-festgefahren-warum-und-was-nun/
[2] America - The Jesuit Review, 28.11.2022: Exclusive: Pope Francis discusses Ukraine, U.S. bishops and more
https://www.americamagazine.org/faith/2022/11/28/pope-francis-interview-america-244225
- Papst Franziskus: "Dies ist ein Weltkrieg. Ich sehe Imperialismen im Konflikt."
- Marxisten und Christen im Dialog über Sozialethik und Frieden
- Rom: Hunderttausend für sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen
- Hab keine Angst, Kriegsgegner und Pazifist zu sein!