Internationales

01.09.2023: Aserbaidschan blockiert Versorgung von Berg-Karabach ++ Ex-Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Luis Moreno Ocampo, beschuldigt die aserbaidschanische Regierung des Völkermords ++ Brüssel und Berlin sind gewillt, das aserbaidschanische Erdgas mit armenischen Blut und Territorium zu bezahlen ++ Gas macht demokratisch: Diktatorisch regiertes Aserbaidschan "ein Partner von wachsender Bedeutung"

Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Luis Moreno Ocampo, beschuldigt die aserbaidschanische Regierung des Völkermords an den 120.000 Armenier:innen, die in Berg-Karabach, auch bekannt als Arzach oder Artsakh, leben.

"Hungersnot ist die unsichtbare Waffe des Völkermordes. Ohne sofortige dramatische Veränderungen wird diese Gruppe von Armeniern in wenigen Wochen vernichtet werden", schrieb Ocampo in einem 28-seitigen Bericht über die Blockade des Latschin-Korridors durch Aserbeidschan, der am 7. August veröffentlicht wurde.[1]

Der Latschin-Korridor, ein fünf Kilometer langer Streifen Land, ist die einzige Verbindung von Berg-Karabach mit Armenien. Mit der seit acht Monaten anhaltenden und Mitte Juni 2023 drastisch verschärften Blockade des Latschin-Korridors wird die armenische Bevölkerung in Berg-Karabach von jeglicher Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten abgeschnitten - mit der Absicht, sie in letzter Konsequenz auszulöschen.

Armenien Latschin Korridor

 

Völkermord an den Armenier:innen: "und die Welt hat nichts dagegen unternommen"

Ocampo erinnert an den Völkermord an den Armenier:innen im Jahr 1915/1916. Er schreibt: "Wie schon in früheren Fällen wird der Völkermord, insbesondere wenn er durch Aushungern begangen wird, vernachlässigt. Im Jahr 1915 wurden schätzungsweise 1 Million Armenier ermordet oder starben an Krankheiten und Hunger, und die Welt hat nichts dagegen unternommen."

Damals wurden bei einer systematisch durchgeführten Aktion der sogenannten Jungtürken des Osmanischen Reiches 1 bis 1,5 Millionen Armenier:innen aus dem Osmanischen Reich deportiert, ausgehungert und ermordet. Deutsche Missionare und Diplomaten wollen die Vernichtung der Ar­me­nie­r:in­nen stoppen und fordern Reichskanzler Bethmann Hollweg auf, der jungtürkischen Regierung mit Sanktionen zu drohen. Unter dem Beifall der Militärs lehnt Hollweg eine deutsche Intervention kategorisch ab. Je länger der Krieg dauere, so sein Argument, desto mehr werde man die Türken brauchen, "auch wenn darüber Armenier zugrunde gehen". Erst 2016 erkennt der Deutsche Bundestag den Völkermord an den Ar­me­nie­r:in­nen im Osmanischen Reich als solchen nebst der deutschen Mitverantwortung an. Nur zwei Monate später versucht Berlin die aufgebrachte Türkei mit dem Hinweis zu beruhigen, die entsprechende Resolution sei nicht "rechtsverbindlich".

Krieg um Berg-Karabach

Die Krise um Berg-Karabach hat weit zurückliegende Ursprünge, flammte aber zwischen dem 27. September und dem 9. November 2020 wieder auf, als in diesem Gebiet ein blutiger Krieg geführt wurde, der mehr als 7.000 Soldaten das Leben kostete und fast 50.000 neue Flüchtlinge zur Folge hatte. Aserbaidschan, das von Erdogans Türkei u.a. mit den kriegsentscheidenden Bayraktar-Drohnen, türkischen Militärberatern sowie syrischen Söldnern unterstützt wurde, griff ohne Vorwarnung die Republik Artsakh an, d. h. den Teil von Berg-Karabach, der seit 1994 von Armeniern kontrolliert, aber von keinem Land, auch nicht von Eriwan, offiziell anerkannt wird.

Nach dem Ende des "44-Tage-Krieges" sahen die Friedensvereinbarungen vor, dass der Latschin-Korridor offen bleiben und von einem russischen Friedenskontingent besetzt werden sollte. (siehe kommunisten.de, 11.11.2020: "Recep Erdoğan und Wladimir Putin sind die Sieger")

Moskau ist mit Armenien durch den "Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen Armenien und Russland" verbunden, der unter anderem militärische Unterstützung im Falle einer bewaffneten Bedrohung eines der beiden Staaten vorsieht. Im Jahr 2020 war der Schauplatz der Zusammenstöße jedoch Artsakh, das technisch gesehen auf aserbaidschanischem Gebiet liegt, auch wenn es de facto von pro-armenischen Kräften verwaltet wird.

Jetzt ist Russland in den Konflikt in der Ukraine verwickelt, und das friedenserhaltende Kontingent in Artsakh ist seit Monaten auf weniger als ein Bataillon reduziert und erfüllt seine Aufgabe nicht, so dass Soldaten und aserbaidschanische Pseudo-Aktivisten die Straße blockieren, nicht vereinbarte Kontrollpunkte einrichten und verschiedene Arten von Übergriffen begehen. So wurden am Montag (28.8.) von den 170 Zivilist:innen, die das russische Friedenskontingent von Berg-Karabach nach Armenien eskortierte, drei Studenten an einem aserbaidschanischen Kontrollpunkt festgenommen. Es handelt sich um Alen Nelsonovich Sargsyan, Vahe Hovsepyan und Levon Grigoryan, von denen bis heute keine Nachricht vorliegt. Am 14. August wurde auch der erste Hungertote bestätigt. Für die zweitausend unter 12 Monate alten Babys steht keine Babynahrung mehr zur Verfügung. Letzte Woche kappte Aserbaidschan das Glasfaserkabel, das den Armeniern in Artsakh den Anschluss an die Telekommunikationsleitungen ermöglichte. Nun ist das Gebiet völlig isoliert.

"begründete Annahme" für Völkermord durch Aserbaidschans Präsidenten Ilham Alijew

In seinem Text argumentiert Ocampo, dass es eine "begründete Annahme" dafür gebe, die Absichten des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew als "völkermörderisch" zu bezeichnen, und beschuldigt ihn, die Lieferung lebenswichtiger Güter nach Berg-Karabach zu blockieren und die Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs zu missachten, der ihn verpflichtet hatte, den freien Verkehr von Menschen, Fahrzeugen und Gütern entlang des Lachin-Korridors zu gewährleisten. Bereits zweimal hat der Internationale Gerichtshof angeordnet, Aserbaidschan müsse den Korridor umgehend freigeben.

Alijew ignoriert auch Appelle bezüglich der "realen und unmittelbaren Gefahr", die die Blockade für die armenische Bevölkerung in der Region darstellt.

Die aserbaidschanische Regierung spricht ihrerseits von einer "diffamierenden politischen Kampagne" und bestreitet die Blockade. Das Außenministerium in Baku betonte außerdem, dass "die Verwendung von Ausdrücken wie 'Berg-Karabach' in eindeutiger Missachtung der territorialen Integrität und Souveränität Aserbaidschans, die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Aserbaidschans sowie die Doppelmoral gegenüber Aserbaidschan inakzeptabel sind".

Ocampo bezeichnete die öffentlichen Erklärungen von Präsident Alijew, dass die Blockade notwendig sei, um den Schmuggel von wertvollen Mineralien und iPhones durch den Latschin-Korridor zu unterbinden, als "fadenscheinig". "Schmuggelaktivitäten sollten ordnungsgemäß untersucht werden", schreibt der Richter, "aber sie sind keine Entschuldigung für die Missachtung einer verbindlichen Anordnung des Internationalen Gerichtshofs oder eine Rechtfertigung für die Begehung von Völkermord."

Ocampo: Internationaler Strafgerichtshof soll Ilham Alijew anklagen

Abschließend schlägt Ocampo vor, dass Ilham Alijew, der Präsident von Aserbaidschan, vom IStGH angeklagt werden solle, und erklärt, dass dies nur möglich sei, wenn der UN-Sicherheitsrat eine Resolution bezüglich der Blockade des Lachin-Korridors verabschieden und das Gericht damit beauftragen würde.

"Nach der Völkermordkonvention sind die Vertragsstaaten verpflichtet, Völkermord zu verhindern und zu bestrafen, und 14 der derzeit 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sind ebenfalls Vertragsparteien dieser Konvention, was eine überwältigende Mehrheit darstellt", fügt er hinzu.

In der Erklärung wird auch zur Zusammenarbeit zwischen Russland, das die Friedenssicherung in Berg-Karabach überwacht, und den Vereinigten Staaten und den EU-Mitgliedstaaten aufgerufen. Alle sind Vertragsparteien der Völkermordkonvention und befinden sich laut Ocampo in der " besonderen" Lage", den Völkermord zu verhindern. "Ihre intensive Konfrontation aufgrund des ukrainischen Konflikts sollte die Armenier nicht zu Kollateralopfern machen", schreibt Ocampo.

Gas macht demokratisch

Auch die Bundesregierung stellt sich an die Seite Aserbaidschans. In der Bundespressekonferenz in der vergangenen Woche wies Regierungssprecher Steffen Hebestreit den Vorwurf des Völkermordes als "Kampfbegriff" und "Propaganda" zurück.

Im März, als Aserbaidschan schon die Versorgung der Bevölkerung von Berg-Karabach seit 13 Wochen blockierte, empfing dessen ungeachtet Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Aserbaidschans autokratischen Staatspräsidenten Ilham Alijew in Berlin. Aserbaidschan sei für Deutschland und die EU ein Partner von wachsender Bedeutung. Das Land habe das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur Diversifizierung der deutschen und europäischen Energieversorgung zu leisten. Da könne es sich Deutschland nicht leisten "etepetete zu sein". Gas geht eben vor "feministischer" und wertegeleiteter" Außenpolitik. (siehe kommunisten.de, 16.3.2023: "Gas macht demokratisch: Diktatorisch regiertes Aserbaidschan 'ein Partner von wachsender Bedeutung'")

Mitte Juli 2022 flog EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Baku, um eine Absichtserklärung mit Aserbaidschan zu unterzeichnen. "Die EU hat sich entschieden", verkündete von der Leyen, sich von Russland ab- und "verlässlicheren, vertrauenswürdigeren Partnern zuzuwenden." Sie freue sich, "Aserbaidschan zu ihnen zählen zu können", sagte sie, als sie mit Ilham Alijew in Baku den Vertrag unterzeichnete. Aserbaidschan soll die Erdgaslieferungen in die EU bis 2027 von acht auf 20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr erhöhen.

Im September 2022, am selben Tag als Aserbaidschan erneut Armenien angriff, bekräftigte der aserbaidschanische Energieminister, dass sein Land allein in diesem Jahr die Gaslieferungen an die EU um 30 Prozent zu erhöhen wird.(siehe kommunisten.de, 16.9.2023: "Erdgas vom aserbaid­schanischen Aggressor")

EU Aserbaidschan Gas  
Erdgas vom aserbaid­schanischen Aggressor
     
Aserbaidschan Scholz Alijew 2023 03 14 Bln  
Gas macht demokratisch: Diktatorisch regiertes Aserbaidschan 'ein Partner von wachsender Bedeutung'

Die Aserbaidschan-Connection, das europaweite Netzwerk von Politiker*innen und Lobbyist*innen, die sich jahrelang gegen Millionen-Zahlungen für den Öl- und Gasstaat im Südkaukasus eingesetzt haben, und das verzweifelte Ringen der EU um Erdgas und gegen explodierende Gasrechnungen führen offensichtlich dazu, dass Brüssel und Berlin auch nach dem Angriff Aserbaidschans auf armenisches Kerngebiet und dem beabsichtigten Vökermord an den Armenier:innen in Berg-Karabach offenbar gewillt sind, das aserbaidschanische Erdgas mit armenischen Blut und Territorium zu bezahlen.

Anmerkungen

[1] Expert Opinion, Genocide against Armenians in 2023: Luis Moreno Ocampo, New York, August 7, 2023
https://www.cftjustice.org/wp-content/uploads/2023/08/Moreno-Ocampo-Expert-Opinion.pdf


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