"Selbst schuld" - 13 Texte über einen grundlegenden Mechanismus im gegenwärtigen Kapitalismus
19.03.2024: In einem Sammelband fragen Autor:innen in persönlichen Essays danach (und auch sich selbst), wie eine angebliche "persönliche Schuld" die unterschiedlichsten Lebensbereiche erobern und zu einem "schlechtes Gewissen" führen kann.
Dem Buch ist eine Textzeile eines Songs der jüngst verstorbenen britischen Sängerin Marianne Faithfull vorangestellt, in dem es heißt:
"I feel guilt, I feel guilt
Though I know I’ve done no wrong,
I feel guilt"
(Ich fühle mich schuldig, obwohl ich weiß, dass ich nichts falsch gemacht habe)
"Selbst schuld", sagt man umgangssprachlich, wenn jemand sich sein Unglück irgendwie selbst eingebrockt hat. Das "Selbst schuld" hat dabei meist einen hauchfein verächtlichen Unterton: Die andere Person hätte eben etwas besser wissen, hätte es doch einfach besser machen können. Diese Redewendung ist jedoch längst nicht nur eine kleine Gehässigkeit des Alltags, sondern seit einigen Jahren eine auffällig populäre Unterstellung, die in nahezu alle Lebensbereiche vordringt und von Politiker:innen, Ökonom:innen, Influencer:innen vorgetragen wird.
Ob Armut, die Klimakrise, Überforderung und Erschöpfung, patriarchale Gewalt: An allen Schmerzpunkten unserer Gegenwart versteckt sich demnach bei näherer Betrachtung die Annahme, dass Einzelne die Schuld an den Missständen dieser Lebensrealität tragen und soziale Verantwortungsverhältnisse mehr und mehr ausgeblendet werden.
In den in diesem Buch versammelten persönlichen Essays reflektieren Autor:innen in unterschiedlicher Weise, wie sich diese "Selbst-Schuld"-Ideologie entweder konkret auf ihren Lebensbereich, oder verallgemeinernd in den verschiedensten Lebensbereichen auswirkt. Ihre mal eher persönliche, mal eher essayistische oder theoretische Schilderungen veranschaulichen, wie individualisierte Schuldzuweisungen dazu dienen, von größeren Zusammenhängen wegzuführen und damit von eigentlich gesellschaftlichen Missständen und politischen Verantwortlichkeiten abzulenken.
Mit "Aufstiegsgeschichten" beginnt der Band: Sarah-Lee Heinrich kann ihren Anspruch auf Bürgergeld abmelden. Ist aus der Bedarfsgemeinschaft mit ihrer Mutter ausgezogen und wird studieren. Ihr Text ist aus einem Abstand heraus geschrieben. Die Erfahrung von Armut ist noch präsent und wird an Beispielen detailliert ausgeleuchtet. Für sich selbst hat sie es geschafft – und die anderen? "Alle können es schaffen, aber nicht jeder: Das ist die Regel in dem Wirtschaftssystem, in dem wir leben. Einem System, das auf ein Oben und ein Unten angewiesen ist. Wenn wir aufhören würden, so hart für den Reichtum anderer zu arbeiten, würde das System schnell zusammenbrechen." So ihr Resümee am Ende ihrer Geschichte.
In dem folgenden Essay "Generationen" setzt sich Matthias Ubl mit der heute weit verbreiteten Erzählung auseinander, dass die und die "Generation" für das und das verantwortlich, also "Schuld" sei. An der Klimakrise z.B. sei demnach die "Boomer-Generation mit ihrer unnachhaltigen Lebensweise verantwortlich. Dem setzt Uhl entgegen: Generationsgeschichten haben seit dem Aufkommen des Neoliberalismus Konjunktur und lösen die Kritik der Klassengesellschaft ab. Als Ahnherrin dieser Erzählung sieht er Margaret Thatcher mit ihrer Aussage, dass es keine Gesellschaft gebe, "es gibt nur einzelne Männer und Frauen. Und es gibt Familien." Dem hält er entgegen: Entgegen Generationsmythen und identitären Sichtweisen kommt es nicht darauf an, moralisierend "Schuldige" zu suchen. "Eine kühle Klassenanalyse und eine ihr gemäße Politik kennt keine Schuldigen. Die Eigentümer:innen profitieren zwar von den derzeitigen Eigentumsverhältnissen, das macht sie aber nicht schuldig, sondern zu Akteur:innen mit bestimmten Interessen."
Sebastian Friedrich plädiert in seinem Beitrag "Klima" dafür, statt "die Konsumenten" an den ökologischen Pranger zu stellen und stattdessen von einer "Systemschuld zu sprechen. "Der eine findet sein Glück im täglichen Konsum, während die andere ein frugales Leben führt. Der Beitrag beider Lebensstile zum Klimawandel und zur Naturzerstörung ist, global betrachtet, nahezu identisch. Bedeutender, als sich in Fragen der persönlichen Lebensführung zu verlieren, wäre es also, womöglich gemeinsam, die Systemschuld zu erkennen und die systembedingten Voraussetzungen der Naturzerstörung ins Visier zu nehmen."
Mein literarischer Lieblingstext in dem Band ist von Seyda Kurt, die sich schuldig fühlt, süchtig nach Instagram zu sein ("Verdammt, heute habe ich noch keine Stories auf Instagram gepostet") und dadurch zu wenig Zeit zu haben, um an den realen Kämpfen im wirklichen Leben teilzunehmen. "Ich denke über eine scharfsinnige Kapitalismuskritik nach, in meinem Kopf zeichne ich Pfeile und Stichpunkte, die sich zu einem bahnbrechenden Argument reihen: Kapitalismus - Individualismus – Zerstreuung / Selbstvermarktung im Internet – Aufstiegsversprechen durch soziale Kontakte – Sucht – Schuld. Und das in einem Kreisdiagramm." Ihre abschließende etwas ernüchternde Feststellung: In der politischen Kultur haben TikTok oder Instagram "als Plattformen der Selbstdarstellung und Vernetzung eine neue Arena für politische Auseinandersetzung und Individualisierung geschaffen. Nutzer:innen präsentieren sich als individuelle, politische Entitäten, oft losgelöst von kollektiven Bewegungen oder etablierten politischen Strukturen. Alles scheint politisch. Doch alle sind isoliert."
Dietmar Dath (Feuilleton-Redakteur der FAZ, aber auch regelmäßiger Autor in der "jungen welt") setzt sich brillant mit der "woken" Bewegung auseinander, und verortet diese als Kollateralschaden des Neoliberalismus, nachdem die "Kompromisse der alten Kapitalistenklasse mit der alten Arbeiterbewegung, die man ‚Sozialstaat‘ nannte, aufgekündigt worden sind. Was man heute ‚Identitätspolitik‘ nennt ist eine Antwort auf diese Bedrohung." Ein scharfzüngiges Plädoyer für einen Weg vom schlechten Gewissen zum Klassenbewusstsein.
"Herrschende spielen Beherrschte gegeneinander aus; das ist so alt wie die Spezies Mensch. Um Herrschenden das Handwerk zu legen, müssen die gegeneinander Ausgespielten lernen, zu kooperieren. Denn wenn sich bei Leuten, die nicht herrschen, die Gewohnheit der vorteilhaften Teilhabe festgefressen hat, von denen andere, ebenfalls nicht herrschende Leute ausgeschlossen sind, muss man den Gewohnheitsverdummten aus ihrer Trägheit heraushelfen."
Ich fürchte, dass dieser Wunsch bei der bevorstehenden Wahl noch keine Früchte tragen wird und in Konsequenz sich zukünftig die Lebensverhältnisse für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlechtern werden und die Gesellschaft sich weiter militarisiert. Wenn ich gehässig wäre (was mir fern liegt), würde ich dem "Wahlvolk" zurufen: "Selbst schuld!"
txt: Günther Stamer
Ann-Kristin Tlusty / Wolfgang M. Schmitt:
Selbst schuld.
Hanser, München 2024,
255 Seiten, 22 €