26.05.2025: Der Blick auf das NS-Regime wird heute fokussiert auf die ›rassische‹ Verfolgung. Dabei wird der antifaschistische Widerstand, den Frauen und Männer oftmals unter Einsatz ihres Lebens leisteten, zunehmend übersehen. In der bundesdeutschen Geschichtsschreibung gedachte man lange Zeit vor allem der Wehrmachtsoffiziere des 20. Juli oder des studentischen Widerstands um die ›Weiße Rose‹. Doch waren es zuallererst Angehörige der Arbeiterbewegung, die sich dem Regime entgegenstellten. Deren Geschichte behandelt das Buch.
Eine Rezension von Vera Affeln:
Als meine 15jährigen SchülerInnen sich 1980 mit dem Widerstand gegen das NS-Regime beschäftigten, meinten sie, es müsse sich bei WiderstandskämpferInnen um eine Mischung aus Gozilla, Batmann und Dinosaurier handeln[1]. Dann lernten sie Hannah Elling[2] kennen. Sie berichtete von ganz normalen jungen und älteren Menschen, die illegal Kurierdienste leisteten, tote Briefkästen betreuten, Flugschriften verfassten, dem Verstecken Gefährdeter und Wanderungen, um Informationen auszutauschen. Davon hatten sie noch nie gehört.
Heute könnten sie sich auf 125 Seiten und in 5 chronologisch angeordneten Kapiteln bei Ulrich Schneider vertiefend und lehrreich informieren. In seinem Buch "Arbeiterwiderstand im Dritten Reich" (2024), das in jedes Bücherregal gehöre[3], holt der Autor den "tatsächlich geleisteten Massenwiderstand aus den Reihen der Arbeiterbewegung" (7) aus ihrem bewussten Vergessenlassen in die herrschenden Diskurse und Erinnerungskultur herein. Ulrich Schneider weist dem Arbeiterwiderstand den verdienten Platz zu als "Alternative(n) für eine sozialistische Entwicklung und einer Vision eines Deutschlands, das nicht Krieg, Imperialismus, Großmachtpolitik und autoritärem Herrschaftsbild" (9) verhaftet ist.
Der Autor schildert den Arbeiterwiderstand in der Weimarer Republik im ersten Kapitel (I), die sofort einsetzende Verfolgungsphase 1933-1935 ebenso die vielfältigen, teils uneinheitlichen Widerstandsformen (II), den immer perfektionierteren Terror des NS - Regimes gegen diese, v.a. aber die entschlossenen Gegenmaßnahmen im Untergrund 1936-1939 (III), den Widerstand im Krieg als in - und ausländischen Kampf für eine Niederlage des deutschen Faschismus’ als Voraussetzung für einen demokratischen Neuanfang (IV) und endet mit Ausblicken auf die bundesdeutsche Nachkriegszeit (V).
Die Arbeiterschaft, so Schneider, unterschätzte keineswegs die faschistische Gefahr, was auch der Gegenseite bewusst war. Die Republikfeinde, militante Freikorps und SA - Horden fürchteten und bekämpften KPD, SPD, GewerkschafterInnen – als die VerteidigerInnen demokratischer Errungenschaften nach 1918 - mit allen Mitteln. Davon zeuge der riesige Terror- und Verfolgungsapparat (so Brecht, 11).
Eine Warnung war ihnen die faschistische Entwicklung in Italien (1922). Hier "gewalttätige Verteidiger der Interessen der Unternehmer, der Großgrundbesitzer, der vormals herrschenden Adelsschicht" (12), dort Mussolinis militante ‚Schwarzhemden‘ als brutale Erfüllungsgehilfen der Interessen der Unternehmer Norditaliens und Latifundienbesitzer im Süden (ebd.).
Als fatal stellte sich die Spaltung der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung heraus, die selbst angesichts der Machtübertragung an Hitler nicht zu einem von der KPD geforderten Generalstreik fand (18, 26). Immer wieder kommt Ulrich Schneider auf diesen desaströsen Umstand wie die Bemühungen um seine Überwindung zurück.
Bereits Mitte der 20iger Jahre hatte Hans Coppi vom kommunistischen Rotfrontkämpferbund Strategien zur wirksamen Bekämpfung der "braunen Bewegung" (15) formuliert: neben der Gewinnung von Gesinnungsfreunden in Betrieben und Stempelstellen, sollten SA - Stützpunkte liquidiert, Überfällen der Nazis mittels paramilitärischer Übungen aktiv begegnet und der Selbstschutz gesichert werden (17). Mit der "Antifaschisten Aktion" kam es 1932 mit KommunistInnen, widerstandsbereiten Sozialdemokraten und Parteilosen zu einem Kongress und einem Manifest zur gemeinsamen Aktion. "Die Antifaschistische Aktion will nicht dulden, dass über Deutschland die faschistische Diktatur errichtet wird (...Sie) organisiert in breitester Einheitsfront den geschlossenen roten Massenselbstschutz der Arbeiter, Erwerbslosen und Werktätigen in ganz Deutschland" (19). Zum Zusammengehen von SPD und KPD gegen die drohende faschistische Gefahr riefen auch u.a. Käthe Kollwitz, Erich Kästner, Heinrich Mann, Ernst Toller, Arnold Zweig und Albert Einstein mit Franz Oppenheimer auf (21).
Die KPD galt den Nationalsozialisten stets als Hauptfeind. Folgerichtig wurden ihre Abgeordneten bereits Anfang 1933 verhaftet. Sich dieser Tatsache bewusst, wurden sofort Untergrundstrukturen aufgebaut: konspirative Quartiere, Vervielfältigungsapparate bei bürgerlichen Sympathisanten oder das "Fünfer – Gruppen - Prinzip" (ebd.).
Es traf aber letztlich alle. Bemühungen der SPD und des ADGB[4] um Verhandlungen wurden mit ihrem Verbot im Juni 1933, der Beschlagnahmung ihrer Besitztümer wie der Besetzung der Gewerkschaftshäuser zunichte gemacht. SozialistInnen und KommunistInnen fanden sich in den Kerkern der SA, Polizei und Gestapo wieder.
Die Exil-SPD rief nun 1934 in ihrem Prager Manifest (Tarnschrift "Die Kunst des Selbstrasierens") zum gemeinsamen Kampf auf.
Auch Jugendliche widersetzten sich der Diktatur. "Überfälle auf die HJ - Heime, Flugblätter, Anti-Nazi - Graffities oder selbstorganisierte Freizeiten jenseits der Hitler-Jugend- nicht alle Jugendlichen wollten nach 1933 im Gleichschritt der neuen Machthaber mitmarschieren"[5]. Als Bindeglied, zugleich Abwehr vor faschistischen Einflüssen erwiesen sich Gesangs- und Sportvereine der Arbeiterbewegung (22).
Die Zerschlagung der Arbeiterbewegung war Aufgabe und Ziel der Nationalsozialisten. Mit dem "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" (1934) beseitigten sie quasi alle Mitbestimmungsrechte der Belegschaften und "bauten die Stellung des Unternehmers buchstäblich zu einer militärischen Kommandoposition aus"[6]. Als sich die Lage der arbeitenden Bevölkerung verschlechterte, die Löhne sanken, die Arbeitszeit anstieg und sich das Arbeitstempo beschleunigte[7], setzte die antifaschistische Opposition hier an. Sie wählte ihre eigenen Vertrauensleute (37), ließ Nazikandidaten durchfallen, boykottierte Wahlen (44f) oder verabredete Streikaktionen (73). Über 5000 Hausdurchsuchungen in Berlin (35), 1000 Beschäftigte in den Wuppertaler Textil- und Metallbetrieben mit illegalen Aufklärungsflugschriften (45) oder der Lohnstreik 1936 in den Opelwerken Rüsselsheim (73) zeugen von ihrem Mut, der sie selbst nach schwerer Haft wieder aktiv werden ließ.
Der sog. Lutetia-Kreis (Paris 1935, gründend auf der Moskauer "Brüssler Konferenz" der KPD) organisierte den ersten größeren Volksfrontkongress (63). Der Aufruf "Seid einig! Einig gegen Hitler! (63) wurde unterstützt von Prominenten wie Willy Brandt, Rudolf Breitscheid, Willi Münzenberg, Klaus Mann, Ludwig Marcuse sowie bürgerlichen und katholischen Exilgruppen (52). Ideologische wie programmatische Konflikte führten 1937 zur Auflösung dieser Einheitsfront.
Als herausragend bezeichnet Schneider auch den Kampf der Internationalen Brigaden zur Rettung der Spanischen Republik (67). Mehr als 40.000 Freiwillige aus über 20 Ländern hätten sich unter Einsatz ihres Lebens gegen "die Waffenlieferungen für Franco, die Blockade gegen die Republik und die Einsätze der deutschen 'Legion Condor' " (ebd.) engagiert.
In bester Tradition Peter Weiss’ charakterisiert der Autor die Widersprüche des Nichtangriffspaktes 1939 zwischen Deutschland und der UdSSR (60/85). "Seit über einem Jahr waren alle Vorschläge (der UdSSR) zum Eingehen eines Bündnisses gegen den Faschismus von England und Frankreich abgewiesen worden (...J)etzt war der Zeitpunkt des Selbstschutzes gekommen" (Weiss 1981, 650f)[8]. Ähnlich Wolfgang Abendroth 1976. In der KPD führte der Pakt zu Desorientierungen, Peter Gingold als Rèsistancekämpfer beklagte bitter die Isolation als nun "feindliche Ausländer" (Schneider, 80).
Der Überfall auf Polen 1939 erforderte den Einsatz der deutschen Antifaschisten für eine militärische Niederlage des Deutschen Reiches (83) als Voraussetzung für den Sturz der NS-Herrschaft.
In regionalen Widerstandsgruppen wie der Schulze-Boysen- (Rote Kapelle) oder Bästlein-Jacob- Abshagen-Gruppe vereinigten sich unterschiedliche Professionen, von ArbeiterInnen über Mediziner bis zu KünstlerInnen. Der Kreisauer Kreis, um Graf von Moltke und Stauffenberg und in Kontakten zur KPD, bereiteten den Umsturz und die Zeit nach Hitler vor (104). Die Gestapo registrierte Auslandsverbindungen, die Verbreitung von Aufklärungsschriften wie Sabotage in Rüstungsbetrieben und enttarnte hunderte von AktivistInnen durch Spitzel. Viele wurden eingekerkert oder hingerichtet.
Neben militärischen Einsätzen prägte Solidaritätswiderstand und Rettungsschutz für Gefährdete, ZwangsarbeiterInnen und PartisanInnen in besetzten Ländern antifaschistische Aktivitäten. Weiterhin galt es, das Überleben der Häftlinge in den Konzentrationslagern zu retten, Kraft zu vermitteln, um dem SS -Terror entgegenzuwirken (107). Dazu gehörte ebenso eine Ration Brot wie die Streichung von Transportlisten, Überschreibung von Identitäten verstorbener Mithäftlinge oder die Krankschreibung Schwerstkranker.
Eine Unwägbarkeit stellten für AntifaschistInnen weite Kreise der Bevölkerung dar, deren Einstellung zum NS-Staat mit der eigenen Lage driftete. Glaubten v.a. (klein-) bürgerliche Kreise, angesichts des Krieges müssten Differenzen hintangestellt werden (84), erzeugten anfängliche Erfolgsmeldungen eine 'Blitzkriegseuphorie', wie die nach Deutschland verschickten Raubgüter aus den okkupierten Ländern besänftigten. Erst die Niederlage vor Stalingrad 1943 zerstörte den Mythos der Unbesiegbarkeit. Mit Bombardierungen deutscher Städte kam der Krieg ins eigene Land, die Landung der Westalliierten förderte dann die Erkenntnis, der Krieg sei nicht mehr zu gewinnen und Hitler nicht mehr zu halten (103).
Unter der Überschrift "Gegen die Agonie des Untergangs" (108-111) führt Ulrich Schneider die Endphase des Faschismus als einen Vernichtungsfeldzug gegen seine Gegner angesichts des eigenen Untergangs aus. Im Rahmen der Aktion ‚Gitter‘ Ende August 1944 wurden allein mehr als 5000 AktivistInnen, v.a. Funktionäre der Arbeiterorganisationen, verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt und ermordet. Für die Faschisten galt es, einen frühzeitigen Kriegsabbruch und revolutionäre Chancen wie 1918 zu verhindern (110).
Auf Todesmärschen trieben die SS zehntausende völlig entkräftete Häftlinge aus Konzentrationslagern durchs Land. Mit dem Schüren der Ängste vor Rache der Opfer und Alliierten erreichten die Wachmannschaften, dass viele schwiegen, sich gar an den Gräueltaten beteiligten.
Andere retteten Leben, verhinderten gemeinsam mit Widerstandsgruppen weiteres Blutvergießen und Zerstörungen. Sie übergaben Städte wie Hamburg kampflos oder verweigerten die befohlene Selbstzerstörung von Produktionsanlagen.
Schneider betont, dass die NS-Herrschaft die Tradition der Arbeiterbewegung nicht auf Dauer vernichten konnte (112). Das wohl berühmteste Zeugnis legten die ehemaligen Häftlinge des KZ – Buchenwald nach ihrer Selbstbefreiung 1945 mit dem "Schwur von Buchenwald" ab. Mehr als 20000 überlebende Antifaschisten forderten die Vernichtung des Nazismus mit all seinen Wurzeln und damit einen radikalen Neuanfang.
Restauration und Kalter Krieg verdrängten dieses Vermächtnis, verhinderten großenteils einen wirklichen Neuanfang. Es wieder wirksam werden zu lassen, dafür steht Ulrich Schneiders Buch.
Mit Geschick zeichnet der Autor in jedem Kapitel die historischen Linien nach und illustriert sie eindrücklich mit konkreten Episoden. Es waren eben nicht nur bürgerliche Kreise bzw. einzelne Persönlichkeiten als ‚große Geister‘, die sich dem NS-Regime ab eines bestimmten Zeitpunktes entgegenstellten. Es waren v.a. die Frauen und Männer der organisierten Arbeiterschaft, ihre Parteien als strukturierende Kraft, die aus ihren ureigensten Interessen nach Frieden, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit heraus sich wie selbstverständlich und von Anbeginn dem Nazismus widersetzten.
Diese besondere Qualität des deutschen antifaschistischen Widerstandes und seine Vorbildhaftigkeit konzise und überzeugend dargestellt zu haben, stellt das außerordentliche Verdienst dieses Buches dar.
Ulrich Schneiders profunde geschichtliche Kenntnisse können zudem in weiteren Bänden des PapyRossa-Verlages als auch in aktuellen Beiträgen mit großem Gewinn rezipiert werden.
Ulrich Schneider
Arbeiterwiderstand im Dritten Reich
Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie
Pocketformat, 127 Seiten, € 12,00
ISBN 978-3-89438-828-7
Erschienen (März 2024)
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Ulrich Schneider, Dr. phil., *1954, Historiker, Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) sowie Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Zahlreiche Buchpublikationen.
Fußnoten
[1] Vera Affeln 1999: Nationalsozialismus und Neonazismus – vergleichende Unterrichtseinheit – nicht nur für die Sonderschule. IN: Büttner, M. (Hg.): Braune Saat in jungen Köpfen. Grundwissen und Konzepte für Unterricht und Erziehung gegen Neonazismus und Rechtsgewalt. Bd.2, Unterricht gegen Rechtsgewalt; 340-368; Hohengehren, Schneider
[2] Hanna Elling 1978: Frauen im deutschen Widerstand 1933 – 45. Röderberg. Frankfurt
[3] Zumindest von antifaschistischen AktivistInnen und Linken, vgl. Stefan Bollinger ‚Z‘ 140, 2024:210
[4]Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
[5] Lange 2015,7; IN: Meuten, Swings und Edelweißpiraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus. Mainz, Ventil-Verlag
[6] Harrer, J. 1977, 222; Gewerkschaftlicher Widerstand gegen das "Dritte Reich", 211-171; IN: Frank Deppe, Georg Fülberth, Jürgen Harrer (Hrsg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Köln, Pahl-Rugenstein
[7] Vgl Haenisch, H. 2022, 175; IN: ders.: Kann der Marxismus den Holocaust erklären? Kapitalismus, Staat, Völkermord. Berlin, M21
[8] Peter Weiss 1981: Ästhetik des Widerstandes; Frankfurt, Suhrkamp