17.09.2024: "Wieso wird immer nur vom Existenzrecht Israels gesprochen? Hat ein Staat überhaupt ein Existenzrecht oder nicht eher die Menschen, die dort leben?", fragt Judith Bernstein.
Meine Eltern mussten 1935 aus Deutschland fliehen und gingen nach Palästina. Sie waren weder Zionisten noch religiös. Weder kannten sie die dortige Sprache noch die Landschaft, aber sie waren dankbar, dass sie in Palästina Zuflucht fanden – denn kein anderes Land wollte ihnen Asyl gewähren. Dass die Palästinenser auf eigenes Land verzichten mussten und ihnen dadurch bereits ein großes Unrecht geschah, war meinen Eltern bewusst. Deshalb unterstützten sie die Arbeit des Friedensbündnisses "Brit Schalom".
zur Person"Auschwitz ist kein Freibrief für Menschenrechtsverletzungen. Die Lehre aus Auschwitz kann nur sein, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit, niemals und nirgendwo stattfinden dürfen – auch nicht in Palästina."
Judith Bernstein in einer Rede am 17. Mai 2021 in München
Judith Bernstein wurde 1945 in Jerusalems geboren. Obwohl ihre Großeltern zwei Jahre vor ihrer Geburt in Auschwitz ermordet worden waren, zog es sie in die alte Heimat ihrer Eltern. 1966 kam sie zum Studium nach München. Nach dem Studium kehrte sie nach Israel zurück, heiratete und brachte dort 1973 und 1976 ihre Töchter Sharon und Shelly zur Welt. Ende 1976 kam sie wieder nach München, dieses Mal für immer. Judith Bernstein ist Mitbegründerin der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe, die für einen Ausgleich und ein friedliches Zusammenleben von Juden und Palästinensern eintritt.
eingefügt von kommunisten.de
"Brit Schalom" wurde 1925 von einer Gruppe europäischer Intellektueller gegründet, die sich für ein gerechtes Zusammenleben von Juden und Arabern einsetzten, unter ihnen Gershom Scholem und Martin Buber. 1929 veröffentlichte "Brit Schalom" ein Manifest, in dem sie für ein "binationales Palästina" plädierten. Beide Völker sollten in völliger Gleichberechtigung leben, beide als gleich starke Faktoren das Schicksal des Landes bestimmen, ohne Rücksicht darauf, welches der beiden Völker an Einwohnerzahlen überragt. 1929 hieß es dort:
"Ebenso wie die wohlerworbenen Rechte der Araber nicht um Haaresbreite verkürzt werden dürfen, ebenso muss das Recht der Juden anerkannt werden, sich in ihrem alten Heimatlande ungestört nach ihrer nationalen Eigenart zu entwickeln und eine möglichst große Zahl ihrer Brüder an dieser Entwicklung teilhaben zu lassen."
Ein weiterer prominenter Unterstützer dieser Idee war Albert Einstein. Er schrieb schon früh:
"Wenn wir keinen Weg zu ehrlicher Zusammenarbeit und zu ehrlichen Verhandlungen mit den Arabern finden, dann haben wir nichts aus unserer zweitausendjährigen Leidensgeschichte gelernt, und wir verdienen das Schicksal, das uns ereilen wird."
Nach Auflösung des "Brit Schalom" gründeten einige ehemalige Unterstützer 1942 die "Ichud", eine binational orientierte zionistische Partei unter der Führung von Jehuda Leon Magnes. Auch wenn ihr Anliegen war, eine jüdische Heimat in Palästina zu schaffen, propagierten die Anhänger der Ichud-Partei zugleich immer die Idee des gemeinsamen jüdisch-arabischen Staates. Einen jüdischen Nationalstaat lehnten sie ab und mahnten, dass die Gründung eines solchen zu Konflikten und Kriegen über Generationen hinweg führen würde. Bedauerlicherweise fanden solche Stimmen jedoch weder in der Bevölkerung noch bei den anglo-amerikanischen Unterhändlern zur Vorbereitung des Teilungsplan ausreichend Gehör.
Die meisten damals in Palästina lebenden Juden stimmten für Ben-Gurion und sein eindeutig jüdisch-nationales Verständnis von Zionismus. Ben-Gurion und seine Anhänger wollten einen ethnisch-jüdischen Staat aufbauen und schlossen die dort ansässige palästinensische Bevölkerung bewusst aus. Orte, aus denen Palästinenser spätestens mit Beginn der Nakba, der massenhaften Vertreibung der Palästinenser im Zuge der israelischen Staatsgründung, geflohen oder vertrieben worden waren, wurden zerstört. Damit gewann man Land, das für die Errichtung des jüdischen Staates nutzbar war. Die Palästinenser, die blieben, erhielten den Status "Araber des Staates Israel". Im Gegensatz zu den jüdischen Israelis erhielten sie keine Förderung zur Entwicklung ihrer Orte und durften keine Ländereien erwerben. Bis 1966 standen sie unter Militärverwaltung. Zwischen ihnen und den jüdischen Israelis gab es kaum Berührungspunkte.
Ich hatte das Glück, in Westjerusalem geboren worden zu sein, wo bis 1967 noch einige Palästinenser lebten. Dadurch und durch das Sportgeschäft meiner Eltern hatten wir enge Beziehungen zu Palästinensern. Viele waren Geschäftskunden und es gab viele private Begegnungen wie im Jerusalemer YMCA.
Dass der Staat nur Juden gehört, zementierte Netanjahu im Jahr 2018 mit dem "Jüdischen Nationalstaatsgesetz".[1]
Was 1948 mit Ben-Gurion und der Nakba begann, beendet Netanjahu jetzt mit Hilfe des Militärs in Gaza. Darüber hinaus führt er den Krieg seiner Unterstützer – den Siedlern – im Westjordanland durch. Seine Behörden schikanieren Palästinenser darüber hinaus in Ostjerusalem, im Negev und im Norden Israels. Was Netanjahu und seine Koalition beabsichtigen: die Ausrottung des palästinensischen Volkes, um sich das ganze Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan einzuverleiben.
Damit sollte Israel meiner Meinung nach seinen Platz in der Weltgemeinschaft endgültig eingebüßt haben!
Mir ist bewusst, dass mehrere Staaten seinerzeit für die Gründung des Staates Israel gestimmt haben – unter anderem aufgrund des Versagens der Weltgemeinschaft bei der Rettung der Juden vor Nazideutschland. Aber war ihnen und den Zionisten nicht bewusst, dass der Kampf für einen jüdischen Staat gleichzeitig die Vertreibung oder gar Ausrottung der palästinensischen Bevölkerung bedeuten würde?
Was wir heute in Gaza und der Westbank erleben, ist also die Kulmination dessen, was 1948 mit der Flucht und Vertreibung der Palästinenser aus Palästina und der Zerstörung ihrer Ortschaften begann – mit der Nakba. Dass es schon damals keinen Aufschrei der Welt gab, hat den Israelis das Gefühl vermittelt "Ihr dürft alles!". Indem die Palästinenser in Israel zu Freiwild erklärt wurden und Israel keine Grenzen gesetzt bekam, begann die Katastrophe, die heute ihren Höhepunkt findet.
Wieso wird immer nur vom Existenzrecht Israels gesprochen? Hat ein Staat überhaupt ein Existenzrecht oder nicht eher die Menschen, die dort leben? In diesem Fall wären das eigentlich Palästinenser, die jedoch gar keine Rechte haben!
Die Mehrheit der Israelis interessierte sich schon damals nicht für das Schicksal der Palästinenser. Auch heute verschließen die meisten Israelis ihre Augen vor dem Genozid, der im Gazastreifen stattfindet. Sie interessieren sich nur für ihr eigenes Schicksal und sind nur mit ihren eigenen Ängsten beschäftigt. Die jetzige Regierung genießt eine viel zu große Zustimmung in der israelischen Bevölkerung – auch wenn diese nicht nur den Palästinensern, sondern auch der israelischen Bevölkerung selbst schadet. Selbst heute wird noch von der "einzigen Demokratie im Nahen Osten" und von der "moralischsten Armee der Welt" gesprochen – angesichts des Fortschreitens in den Autoritarismus im Innern, angesichts der täglich massenhaft dokumentierten Verbrechen in Gaza, was für ein Hohn!
Mit den Ideen und Prinzipen eines Brit Shalom hätte die Gründung des jüdischen Staates möglicherweise zu einem binationalen Friedensprojekt werden können. Man hat sich jedoch für den Weg des jüdischen Nationalismus entschieden und damit auch das Schicksal des heutigen Israel besiegelt.
Ist es nach all dem nicht naheliegend, die Gründung Israels in seiner jetzigen Staatsform auf palästinensischem Gebiet infrage zu stellen?
Judith Bernstein, August 2024
Wir bedanken uns bei Judith Bernstein für ihre Genehmigung, diesen Text bei kommunisten.de zu veröffentlichen. Der Text wurde am 11. September auch bei Freiheitsliebe veröffentlicht. https://diefreiheitsliebe.de/politik/war-die-gruendung-israels-als-juedischer-staat-in-palaestina-ein-fehler/
Foto oben: David Ben-Gurion verkündet die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel, 14 Mai 1948, Tel Aviv (Bild: Rudi Weissenstein, Public domain, via Wikimedia Commons)
Anmerkung von kommunisten.de
[1] siehe kommunisten.de: