01.07.2025: Wohin treibt es diesen Welt-Kapitalismus? Auch und gerade für Marxisten eine Frage, die womöglich neue Antworten verlangt, jedenfalls neue Aspekte aufwirft.
Von Conrad Schuhler
Wir leben, sagen uns Politik und Medien, in einer Epoche sich überstürzender Zeitenwenden. Russland überfällt die Ukraine und stürzt die "europäische Nachkriegsordnung" um und mit ihr die Nachwendeordnung nach der Implosion des realen Sozialismus. Die Nato behauptet, dass Russland spätestens Ende der Zwanziger Jahre in der Lage ist, Nato-Europa zu überrennen und legt eine Aufrüstung von 5% der jährlichen Wirtschaftsleistungen fest. Dabei ist die Nato heute schon die stärkste Militärmacht der Welt. 32 Nationen, eine Milliarde Menschen, 9.400 Kampfpanzer, 4.500 Kampfflugzeuge, 3,2 Millionen Personen Truppenstärke, 22.000 Artilleriegeschütze. [1]
Dass die Führer der "westlichen Wertegemeinschaft" entschlossen sind, ihre militärische Macht auch einzusetzen, haben sie gerade im Nahen Osten bewiesen: Israel bombardierte systematisch zivile Ziele im Iran, die USA ließen bunkerbrechende Raketen – über zehn Meter lang, Tiefenweite über hundert Meter – auf Atomanlagen herabregnen.
Ein zunehmend geistesgestörter US-Präsident, ins Amt gedrückt von offen skrupellosenlosen Tech-Monopolisten des Silicon Valley, feiert die Untat als Triumph der.Zivilisation und sich selbst als größten Friedenspräsidenten aller Zeiten.
Der deutsche Kanzler lobt die Israelis, sie würden "unsere Drecksarbeit" machen.
Die politischen Eliten der "transatlantischen Gemeinschaft" rücken die Welt näher an einen Großen Krieg, sie geben Israels Netanjahu nicht nur das Plazet zum systematischen Völkermord an den Palästinensern, sie haben in Europa keine andere Antwort auf die Aggression Russlands als die eigene Hochrüstung und "Kriegsertüchtigung". In den Ländern des Westens bringen sich "Rackets" an die Macht, Kapitalgruppen vor allem um High Tech, Rüstung, Energie, die als "Beutegemeinschaften" den Staat und seine Bevölkerung ausnehmen, ohne Rücksicht auf aktuelle Lebensinteressen und Zukunft der Masse der Bevölkerung. [2]
Über hundert Millionen Menschen sind bereits auf der Flucht vor Krieg und Elend, in den noch lebenswerten Regionen der Erde, längst geplagt von jahrelanger Rezession und wachsender sozialer Ungleichheit, fürchten sich noch mehr Millionen vor dem möglichen Zuzug der Fremden. Das Fremde wird zum Anathema in der politischen Diskussion, die eigene Nation und Racket-Herrschaft soll "great again" werden und bleiben.
Wohin treibt es diesen Welt-Kapitalismus? Auch und gerade für Marxisten eine Frage, die womöglich neue Antworten verlangt, jedenfalls neue Aspekte aufwirft.
Marx konnte das von ihm konzipierte Werk zur kapitalistischen Weltordnung nicht mehr in Angriff nehmen. Für die unmittelbare Nachfolger wurde das Thema schnell zum zentralen Problem.
Rosa Luxemburg leitete den systematischen Zusammenhang Kapitalismus und Kolonialismus aus den Expansionsgesetzen des Kapitalismus ab. Wie die ursprüngliche Akkumulation durch die Enteignung der Bauern und des Kleinbürgertums, also durch die Trennung der traditionellen Produzenten von ihren Produktionsmitteln erfolgen konnte, so könne die Reproduktion des Kapitals auf international erweiterter Grundlage nur stattfinden, indem es ständig im "heterogenen Milieu" expandiere. "Die kapitalistische Akkumulation hat somit als Ganzes, als ein konkreter, geschichtlicher Prozess, zwei verschiedene Seiten. Die eine vollzieht sich in der Produktionsstätte des Mehrwerts, in der Fabrik, dem Bergwerk, auf dem landwirtschaftlichen Gut – auf dem Weltmarkt. Die andere Seite der Kapitalakkumulation vollzieht sich zwischen dem Kapital und nichtkapitalistischen Produktionsformen. Ihr Schauplatz ist die Weltbühne. Hier herrschen die Methoden der Kolonialpolitik, internationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege." [3]
Lenin zog daraus die richtigen Konsequenzen und wies nach, dass der Imperialismus auf Kapitalexport in das nichtkapitalistische Außen angewiesen ist, nicht bloß auf den Export von Waren wegen der ungenügenden Masse in den eigenen kapitalistischen Ländern.[4]
Ingar Solty weist auf diesen Widerspruch Lenins zu Luxemburg hin, dass "nicht die Unterkonsumtion der Arbeiterklasse die zentrale Ursache (sei), sondern die Anhäufung überschüssigen Kapitals, also Überakkumulation". [5]
Nach Lenin geht es mithin nicht um den Export von Waren, sondern von überschüssigem Kapital, das im Ausland nach profitablen Anlagen suchen muss. Natürlich haben beide Erklärungen ihre Berechtigung. Der Ausgangspunkt ist, dass die interne Nachfrage die mit dem Kapital produzierbaren Waren nicht absorbieren kann. Eine kurzfristige Lösung ist, die überschüssigen Waren ans Ausland zu verkaufen, so wie es das Exportüberschussland Nr. 1 Deutschland tut. In der nächsten Periode stellt sich dann dasselbe Problem in verschärfter Form. Eine andere Lösung ist, Kapital zu exportieren, wie das z.B. die USA tun und auch Deutschland, wo das Kapital wegen der horrenden Profite nicht weiß, wohin mit den Überschüssen, auf dass sie noch mehr solche produzieren.
Der BdA (Bundesverband der Arbeitgeber) würde sowohl Luxemburg als auch Lenin Recht geben.
Lenin hat nicht nur den Kapitalexport als eine notwendige Verbindung zwischen imperialistischen Staaten und jungen Nationen erkannt, sondern auch diese Tendenz: die Bestechung der Oberschicht des Proletariats mit Hilfe der kolonialen Extraprofite und die damit korrespondierende Durchdringung auch der Arbeiterklasse mit der imperialistischen Ideologie. (Lenin, S. 113 ff.)
David Harvey hat Luxemburg insofern bestätigt, als er der "äußeren Landnahme", mit der Kapital expandieren muss, die "innere" hinzufügte, dass nämlich bisher öffentlich geleistete Bereiche "privatisiert" werden, das heißt, der privaten Profitwirtschaft geöffnet werden. So werden große Bereiche der Gesundheit, der Bildung, des Verkehrs usw. kommerzialisiert. Das Kapital findet neue Anlegefelder.
Die Rüstung ist ein weiteres Anlagefeld, das dem Kapital auch aus strategischen Gründen der Geltung im Weltordnungssystem willkommen ist, wo die Austauschbedingungen für Waren- und Kapitalexporte festgelegt werden. Das Kapital braucht Rüstung, um sein Kapital zu verwerten und um die Geltung der von ihm dominierten Nation in der internationalen Ordnung zu sichern.
Im Entwurf für den Bundeshaushalt 2025 steigt der Verteidigungsetat auf rund 62,4 Milliarden Euro und nimmt damit wieder den zweiten Platz in der Ausgabenhierarchie ein (nach dem Ministerium für Arbeit und Soziales). Zusammen mit den Ausgaben des Sondervermögens Bundeswehr und den übrigen Verteidigungsausgaben des Bundes ergibt sich hieraus bereits in diesem Jahr eine BIP-Quote von rund 2,4 Prozent.[6]
Die Anhebung des Rüstungshaushaltes auf 2 % und dann auf 5% des Bruttoinlandsprodukts, wie das alle Nato-Staaten für sich als Mindestmarke beschlossen hatten, wird die Rüstungsausgaben in der Bundesrepublik jährlich um mindestens 150 Milliarden Euro erhöhen. Im Bundeshaushalt 2024 wurde als einziger aller Einzelhaushalte die Rüstung erhöht. Die Bedienung des staatlichen Konsums durch Schulden, ohne dass dadurch Gebrauchs- oder Investitionsgüter erhöht werden, ist eine Ursache der anhaltenden hohen Inflation.
Die Schwarz-rote Koalition hat 2025 die öffentlichen Schuldengrenze für Rüstungsausgaben ins Unermessliche hochgetrieben. Laut Schuldenbeschlüssen und Koalitionsvertrag wird jedes Limit für Rüstung und Kriegswirtschaft aufgehoben, anvisiert werden 1,2 Billionen Euro für die nächsten fünf Jahre. Dies bedeutet bei 5 % Zinsen allein 60 Milliarden Euro an jährlichen Zinszahlungen, dazu kommen die Hunderte Milliarden Euro an Rückzahlungen.
Deutschlands Griff nach einer "mittleren Weltmacht", wie Kanzler Merz den angestrebten Status Deutschlands nennt, kostet das Land seine Potenz als Sozialstaat, ruiniert den zivilen Charakter der Wirtschaft und Infrastruktur und rückt die Gefahr eines "großen" Krieges näher heran.
Das revolutionäre Subjekt
Die weitere Entwicklung der Imperialismustheorie war eng verknüpft mit dem Werdegang der internationalen kommunistischen Bewegung. Schon auf ihrem 1. Kongress 1921 hatte die Kommunistische Internationale die neue Losung "Arbeiter aller Länder, unterdrückte Völker, vereinigt euch" vorangestellt. Zum "revolutionären Subjekt" der Arbeiterklasse in den entwickelten Industriestaaten wurden jetzt die "unterdrückten Völker" in den kolonialisiert oder mit anderen Mitteln imperialistisch abhängig gehaltenen "neuen" Nationen hinzugezählt.
Doch gab es zwei unterschiedliche Auffassungen in der Weltbewegung, die damals vor allem vom "Roten Oktober", vom Sieg der Bolschewiki in der Sowjetunion durchdrungen war. Den einen galt der Rote Oktober als Fanal zum Umsturz der übrigen kapitalistischen Gesellschaften, den anderen als Anfang des "Aufbaus des Sozialismus in einem Lande".
Die Sowjetunion dominierte die Dritte Internationale und nach Lenin setzte Stalin in der Praxis schnell die Auffassung durch, dass das Entwicklungsinteresse der UdSSR der entscheidende Faktor für die Weltbewegung zu sein habe. "Auch die gesellschaftliche Analyse der europäischen Marxisten steckte sich vornehmlich nationale, allenfalls europäische `Bezugsrahmen." [7]
Ho Chi Minh, der Vorsitzende der vietnamesischen KP, stellt 1924 fest, "die Bourgeoisie der Kolonialstaaten" tue alles, "um die unübersehbaren Massen der von ihr versklavten Völker in Botmäßigkeit zu halten", während das, was die "kommunistischen Parteien … (der) Staaten, deren Bourgeoisie Kolonien besitzt", dagegen getan hätten, "fast gleich Null" sei.[8]
Wandelte sich der Charakter der Imperialismustheorien mit der Entwicklung der internationalen Ordnung nach den beiden Weltkriegen hin zur Analyse der antagonistischen und voneinander abgeriegelten Ost-West-Blöcke, so entzündete sich die innersozialistische Debatte an den kontroversen Positionen der KPdSU und der KPCh, wie sie sich dann in der "Polemik über die Generallinie der kommunistischen Bewegungen" in Briefen der jeweiligen Zentralkomitees und anschließenden Kommentaren von Presse und Parteiinstanzen entlud.
Die KPdSU hatte ihr Konzept vom "Aufbau des Sozialismus in einem Land" unter den neuen internationalen Bedingungen weiterentwickelt. Der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion und in den übrigen Staaten des sozialistischen Weltsystems sei der zentrale Steuerungsprozess der Weltrevolution, denn dadurch würde die friedliche Koexistenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, nach wie vor der Hauptwiderspruch der Epoche, aufrechterhalten und damit die Basis gelegt für einen weiteren erfolgreichen sozialistischen Aufbau und die Entwicklung des Klassenkampfes in den kapitalistischen Metropolen. Zwischen beiden besteht dieser innere Zusammenhang: "Die Erfolge der sozialistischen Gesellschaft werden eine Art Katalysator werden, der revolutionierende Faktor für die Entfaltung des Klassenkampfes in den kapitalistischen Ländern und für den Sieg der Arbeiterklasse über den Kapitalismus sein."[9]
Im Jahr zuvor, 1962, hatte die KPdSU diesen Programmsatz beschlossen: "Das Beispiel des siegreichen Sozialismus revolutioniert das Denken der Werktätigen der kapitalistischen Welt, begeistert sie zum Kampf gegen den Imperialismus und erleichtert in ungeheurem Maße die Bedingungen dieses Kampfes." [10]
In seinem Antwortbrief an das ZK der KPdSU unterscheidet das ZK der chinesischen Kommunisten in "Widersprüche zwischen dem sozialistischen und imperialistischen Lager", "zwischen Proletariat und Bourgeoisie innerhalb der kapitalistischen Länder", "zwischen unterjochten Nationen und Imperialismus", "zwischen den verschiedenen imperialistischen Staaten" und "zwischen den verschiedenen monopolkapitalistischen Gruppierungen".[11]
Alle diese Widersprüche wirken, aber: Das Zentrum der politischen Kämpfe ist nicht unveränderlich, es verschiebt sich. Da "seit Ende des Zweiten Weltkriegs die proletarische revolutionäre Bewegung in den nordamerikanischen und westeuropäischen kapitalistischen Ländern aus verschiedenen Gründen vorübergehend abgebremst worden (ist), während die revolutionäre Bewegung der Völker in Asien, Afrika und Lateinamerika sich kraftvoll entwickelt hat … (hängt) die ganze Sache der Weltrevolution … in letzter Analyse von den revolutionären Kämpfen der asiatischen und lateinamerikanischen Völker ab", ist "der Widerspruch zwischen den revolutionären Völkern in Asien, Afrika und Lateinamerika auf der einen Seite und den Imperialisten mit den USA an der Spitze auf der anderen ... in der heutigen Welt der Hauptwiderspruch."[12]
Lin Piao kommt zu dem Schluss, dass der US-Imperialismus in diesen Kämpfen besiegt werden kann: "Der USA-Imperialismus hat dadurch, dass er so viele Gegenden auf der Erde besitzt, sich zu viel zugemutet, nach allem seine Finger … ausgestreckt und seine Kräfte überallhin verstreut …sich selbst noch weiter geschwächt… Je erfolgreicher der Volkskrieg in einem bestimmten Gebiet entfaltet wird, umso größer ist die Menge der Streitkräfte der USA-Imperialisten, die dort gebunden und abgenutzt werden. Wenn die Aggressoren, die USA, an einer Stelle hart bedrängt werden, müssen diese die Kontrolle über andere Gebiete lockern. Dadurch werden die Voraussetzungen, dass das Volk den Kampf gegen den USA-Imperialismus und seine Lakaien anderswo entfaltet, noch günstiger. Alles ist teilbar. So auch der Koloss USA-Imperialismus. Er kann gespalten werden." (ebd., S. 61 f.)
"Wenn, im Weltmaßstab gesehen", schreibt Lin Piao, "Nordamerika und Westeuropa als ´Städte der Welt bezeichnet werden können, kann man Asien, Afrika und Lateinamerika die ´ländlichen Gebiete
der Welt nennen … In einem gewissen Sinne befindet sich die gegenwärtige Weltrevolution auch in einer Lage, bei der die Städte durch ländliche Gebiete eingekreist sind." (Lin Piao, S. 53). Der Stratege des chinesischen Volkskriegs überträgt die Strategie ihres erfolgreichen Konzepts, vom agrarischen Hinterland aus die Städte zu erobern, auf die Bühne der Weltrevolution.
Für die internationale Ordnung versuchte China – wie die Sowjetunion – das Prinzip der friedlichen Koexistenz durchzusetzen. 1954 schloss China mit Indien das "Abkommen über Handel und Verkehr zwischen der Region Tibet in China und Indien", worin "fünf Prinzipien des friedlichen Zusammenlebens" [13] formuliert wurden:
- Gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souveränität des jeweils anderen;
- Gegenseitiger Nichtangriff;
- - gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des jeweils anderen;
- Gleichheit und gegenseitiger Nutzen;
- Friedliche Koexistenz.
Die Volksrepublik China hat diese Grundsätze in die Präambel ihrer Verfassung aufgenommen und sie werden von ihr auch aktuell als Grundsätze ihrer Außenpolitik angeführt. Revolutionstheoretisch ging und geht die KP China davon aus, dass die Entfaltung der inneren Widersprüche der Gesellschaften am ehesten zu einem fortschrittlichen Ergebnis führt, wenn ausländische Mächte an Interventionen gehindert werden können. Der friedlichen Koexistenz geht es darum, dass die internationalen Beziehungen geprägt sind vom "gegenseitigen Nutzen", auch die wirtschaftlichen; eine unverhüllte Absage an die Qualität imperialistischer Wirtschaftspolitik, an die vom Westen eingeforderte regelbasierte Ordnung.
Mit der "Implosion" des Realsozialismus um 1990 hatte sich nicht nur die innersozialistische Kontroverse um den Hauptwiderspruch der Epoche erledigt.
Der westlichen Imperialismus geriet in eine fundamentale Krise. Das Modell des Fordismus hatte sich erschöpft, "die Internationalisierung der Produktion" (Cox 1987, Solty, a.a.O., S. 493 ff) war in heftige Schwierigkeiten geraten, ausgelöst durch Wirtschaftskrisen und Zahlungsschwierigkeiten lateinamerikanischer Länder. Dieses Mal vermied der Kapitalismus die Fehler der letzten beiden "organischen Krisen" zum Ende des 19. Jahrhunderts und in den Dreißiger Jahren des 20., die zu nationalistischen Strategien und konsequent zu den Weltkriegen 1 und 2 geführt hatten, und er ging mit dem "Washington Consensus" unter der Führung der USA koordiniert an eine neoliberale Ausgestaltung der kapitalistischen Transnationalisierung heran. Die verschuldeten Länder der Dritten Welt sollten ihre Staatsausgaben kürzen, ihre Nachfrage drosseln, Handelsbeschränkungen abbauen, Märkte und Preise deregulieren, öffentliche Unternehmen und Einrichtungen privatisieren, Subventionen abbauen. Diese Offensive zur Marktradikalisierung des globalen Ausbeutungsfeldes schien mit dem Wegfall des "Ostblocks" umso leichter möglich.
Diese neue Phase legte auch die neue Qualität des Staates völlig offen. Ihn wie Engels als "ideellen Gesamtkapitalisten" zu kennzeichnen, traf zwar seine Wirkungsrichtung, sagte aber wenig über die konkrete Struktur und Kampfeslage.
Solty zitiert zustimmend Demirovic, dass im Staat zwar die "institutionalisierte Staatsmacht der herrschenden Klassen" zu sehen sei, aber dieser sei "unter ihm durch die Kämpfe des Volkes aufgezwungenen Umständen diesem gegenüber zu Kompromissen bereit" (Demirovic 2007, 99). Der Staat ist mithin Terrain des Klassenkampfes, die "Verdichtung eines Kräfteverhältnisses der Klassen" (Poulantzas, zitiert bei Solty, 494 f.)
Inwieweit die "Kämpfe des Volkes" dieses Kräfteverhältnis bestimmen oder welcher Einfluss der internationalen Lage beizumessen ist, muss am konkreten Beispiel gefunden werden. Die Redewendung, dass bei den Tarifverhandlungen in der BRD stets die DDR als dritte Partei mit am Tisch gesessen habe, weist auf ein solches konkretes Beispiel. Der "reale Sozialismus" zwang durch seine Existenz und sein partielles Gelingen den Kapitalismus dazu, seinen Anspruch als "soziale Marktwirtschaft" zu unterfüttern.
Dazu brauchte er diese neue Anforderung an den Staat, Krisenmanager und Organisator des sozialen Friedens zu sein. Mit der Internationalisierung der Produktion kam es auch zur "Internationalisierung des Staates", weg von nationalen Einrichtungen hin zu internationalen: EU-Kommission, Nato, WEU, OECD, UN, IMF, Weltbank, Frontex usw. Kennzeichnend für diese internationale Sphäre ist ihre Loslösung von demokratischen Prinzipien. Hier funktionieren Fachleute, die Aufsicht haben, bestenfalls, Regierungsvertreter. Mit der Internationalisierung ging einher die Entdemokratisierung der Entscheidungs- und Durchführungsprozesse.
Die Zäsur 2007/2008
Die neoliberale Woge schwappte 2007 in der Finanzkrise über. Die Länder, die sich dem Washington Consensus unterworfen hatten, standen alle schlechter da als solche, die sich ihm wie China verschlossen hatten. Nach den Erfahrungen der Finanzkrise erklärte Joseph Stiglitz die Politik des Washington Consensus und die "ihr zugrunde liegende Ideologie des Marktfundamentalismus" für "tot".[14]
In der akademischen Welt der Polit- und Makroökonomen mag das so sein, in der Realität der Staatenwelt ist dem nicht so. "Die Transnationalisierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse (hat) die transnationalen Kapitalfraktionen in allen Staaten des Empire
zu den dominanten Kapitalfraktionen gemacht." (Solty, 497). In der Tat hat diese Fraktion in den USA den ökonomischen Nationalismus des Donald Trump "einhegen" können, wie Solty treffend einschätzt.
Ob dies aber auch für zukünftige Entwicklungen gilt, ist mehr als fragwürdig. In Spanien und Frankreich sind rechte Nationalisten auf dem Sprung, es Italien, Polen und Ungarn gleich zu machen und die Regierung zu übernehmen. In den USA hat eine Wiederkehr Trumps stattgefunden, seine republikanischen Widerparts in der Kandidatenfrage waren so scharfe Wirtschaftsnationalisten und Feinde der und des Fremden wie Trump selbst. In Deutschland ist der rasante Aufschwung der AfD ein Menetekel der Erfahrungen mit dem Aufstieg der Nazi-Partei ein Jahrhundert zuvor.
Der mit dem Ukrainekrieg zugespitzte globale Hauptkonflikt mit dem Gegenpol China hat u.a. zur Folge, dass die USA ihren "Block" einerseits besser disziplinieren können, auch durch schroffe Kommandos oder öffentliche Zurücksetzungen, wie bei der öffentlichen Demütigung Selenskijs durch Trump und Vance weltöffentlich vorexerziert. Andererseits stoßen die Kommandos auf Decoupling, auf Entkoppeln der wirtschaftlichen Bindungen mit China, auf den Widerstand vor allem der deutschen Kapitale, die mit ihren ganzen Zukunftsaussichten am Geschäft mit China hängen.
Die Figur des De-Risking, des Abbaus zu riskanter Kooperation, erlaubt alle Arten des diplomatischen Umgehens der Anforderung aus Washington. Hier liegt eine Mine für die Integration des West-Blocks, die hochgehen könnte bei noch stärkerer Wirkkraft nationalistischer Ideen in Westeuropa.
Ein CDU-Vorsitzender und Kanzler Merz, der die Grünen zum Hauptgegner erklärt, während die AfD in den Umfragen zur stärksten Partei wird, ist nicht weit entfernt von jenen Vertretern der bürgerlichen Rechten, die ein Zusammengehen mit "verantwortungsbewussten Nationalisten" schon ein Jahrhundert früher durchführten. Ob die "transnationalisierte Produktion" und der "transnationalisierte Staat" von EU, OECD, WTO, IMF, Weltbank, Nato und Co. unter der Dominanz der USA dauerhafte Konstruktionen kapitalistischer Weltkontrolle bleiben, oder ob sie und wieviel Raum sie für andere Machtzentren freigeben müssen, sind offene Fragen.
Mehr noch als von den Entwicklungen in den einzelnen Ländern des Westens hängen sie davon ab, ob sich in der internationalen Ordnung eine ähnliche Block-Bildung ergibt wie das frühere bipolare Ost-West-Konstrukt. Wir halten dafür, dass sich eine neue dominante bipolare Spaltung des Globus in Reich und Arm oder geografisch: in Nord-Süd ergibt. Der Ukrainekrieg hat diese Spaltung offengelegt. Bei den UN und ihren Organisationen ging es mehrfach um Abstimmungen zum Angriffskrieg Russlands oder zu den in diesem Zusammenhang verhängten Sanktionen. Im April 2023 standen im UN-Menschenrechtsrat die Wirtschaftssanktionen an.
3. April 2023: UN-Menschenrechtsrat gegen Sanktionen der USA und EU Antrag des Rats der blockfreien Staaten: Abschaffung von einseitigen Wirtschaftssanktionen Mitglieder des Rates: 47 (Afrika 13 / Asien 13 / Osteuropa 6 /Lateinamerika-Karibik 8 (Westeuropa-Nordamerika 7) |
Der Antrag war von der Bewegung der (120) Blockfreien Staaten eingebracht worden, die "alarmiert sind über die unverhältnismäßigen und unterschiedslosen menschlichen Kosten einseitiger Aktionen und ihre negativen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung". Solche "Maßnahmen durch bestimmte Mächte" werden auf das Schärfste verurteilt.[15]
Die USA und die EU hatten bis zu diesem Zeitpunkt über 16.000 Sanktionsmaßnahmen gegen Russland verhängt. Der Rat stimmte mit großer Mehrheit – mit 33 Ja-Stimmen, 13mal Nein und einer Enthaltung – für den Antrag. Die Länder des "Südens" hatten alle dafür gestimmt – bei einer Enthaltung, Mexiko, dem direkten Anrainer an die USA. Die Staaten des "Westens", darunter Deutschland, die USA, die Staaten aus der früheren Sowjetunion und des Warschauer Paktes stimmten allesamt dagegen.
Dieselbe Anordnung zeigt sich bei allen Abstimmungen in der Generalversammlung der UN. 35 bis 45 Staaten verweigern jeweils ihre Zustimmung zu Beschlussvorlagen, die den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verurteilen sollten. Sie verweigern sich, obwohl dieser Krieg klar gegen die Grundsätze der UN verstößt, deren Charta ausdrücklich Angriffskriege verbietet.
Bei der Abstimmung am 23.2.2023 sollte Russland verurteilt und aufgefordert werden, die Truppen aus der Ukraine zurückzuziehen. Die Vertreter von 61,3 % der Weltbevölkerung stimmten dem Antrag nicht zu, darunter China, Indien, Pakistan Vietnam.
Die Länder, von denen viele die Prinzipien der friedlichen Koexistenz offiziell unterstützen, erfahren die "regelbasierte internationale Ordnung", auf die der Westen, auch noch mit dem abermaligen Präsidenten Trump, stets als die nötige Werteordnung pocht, nichts anderes ist als ein System andauernder Abhängigkeit der Länder der südlichen Peripherie von Westzentrum Nordamerika und Osteuropa.
Und sie fangen an, die Zwangsjacke der "regelbasierten Ordnung" abzulehnen, nach Möglichkeit abzustreifen. Viele verlangen jetzt eine multipolare Weltordnung statt der vom Westen dominierten unipolaren. Eine wichtige Stütze im internationalen System für diese Länder bildet die Volksrepublik China. Beispielhaft waren die Erklärungen der beiden Präsidenten beim Staatsbesuch des brasilianischen Präsidenten Lula bei seinem chinesischen Kollegen Xi im April 2023. Lula sagte, man müsse "die globale Geopolitik ins Gleichgewicht bringen" und forderte, gegen die Dominanz des US-Dollars auf den Weltmärkten anzugehen. China und Brasilien beschlossen, ihren zukünftigen Handel miteinander in den Landeswährungen durchzuführen. Xi formulierte, man werde "strategisch eine neue Ära für die Beziehungen zwischen China und Brasilien" eröffnen.[16]
Für Internationalisten, an antiimperialistische Solidarität gewöhnt, stellt sich die Frage: Wie können Länder wie Russland mit seiner kleptokratisch-kapitalistischen Elite oder der frauenfeindliche Gottesstaat des Iran auf der richtigen Seite der globalen Auseinandersetzung stehen?
Die Antwort ist kompliziert, aber unumgänglich.
Der globale Konflikt entwickelt sich um die Achse Arm gegen Reich. Es handelt sich nicht um den Gegensatz Demokratien gegen Autokratien, sondern um die durch die ökonomischen Bedingungen definierte Interessenlage der Länder. Marokko, Katar, Vietnam, Costa Rica, Kuba haben verschiedene politische Systeme. Die westlichen Regeln der internationalen Ordnung lehnen sie übereinstimmend ab. Diese Seite der globalen Ordnung will internationale Regeln nach den Prinzipien der friedlichen Koexistenz. Es geht darum, gerechte Austauschbedingungen und Frieden zu sichern oder herzustellen. Dies tun sie nicht aus humanistischen Gründen, sondern weil sie diese Bedingungen für die gute eigene Entwicklung dringend brauchen.
Wie sich die innere Ordnung dieser Länder entwickelt, darf nicht durch Interventionen von außen entschieden werden. "Sozialer Wandel" ist eine Frage der inneren politischen Kräfte, die sich am ehesten entfalten können ohne Druck von außen.
Insofern müssen wir bei der Frage nach dem "revolutionären Subjekt", nach der "internationalen Arbeiterklasse" heute die Frage zweiteilen: Wie können erstens die optimalen globalen Bedingungen für die Nationen, wie können Frieden, gerechte Austauschbedingungen und soziale Gerechtigkeit geschaffen werden - und zweitens, wie entwickeln sich dort, in der Reichen Welt, die Kräfte im nationalen Klassenkampf?
Sie entwickeln sich auf jeden Fall am besten, wenn der Imperialismus daran gehindert wird, sich das "Right to Protect" anzumaßen, das Recht, die ihm genehmen sozio-politischen Ordnungen bei Bedarf militärisch zu "schützen", wie das jetzt schon geradezu routinemäßig geschieht.
Anmerkungen
[1] Der Spiegel, 22.6.2025, Feind im Innern.
[2] Max Horkheimer hat diese mafiaähnlichen Gruppierungen "Rackets" genannt und sie als die typische Herrschaftsform bezeichnet. Die vor über 80 Jahren vorgenommene Charakterisierung scheint die Lage in den USA wie in Russland ziemlich exakt zu treffen. Max Horkheimer, Die Rackets und der Geist. In: Gesammelte Schriften (hrsg von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmidt-Noerr) Bd 12, Frankfurt a.M. 1965, S. 287 – 291)
[3] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals (erstmals 1912), 1923, S. 367. Näheres bei Conrad Schuhler, Zur Politischen Ökonomie der Armen Welt, München 1968, S. 45 ff: Die Theorie des internationalen Klassenkampfes
[4] W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (erstmals 1916 als "Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus"); Berlin 1966, S. 68 ff
[5] Ingar Solty, Brauchen wir eine vierte Welle der Imperialismustheorien? In: Sablowski u.a. (Hg), Auf den Schultern von Karl Marx, 485-505, hier 490.
[6] https://www.bundeshaushalt.de/DE/Bundeshaushalt-digital/bundeshaushalt-digital.html
[7] Schuhler, a.a.O., 47
[8] Kurt Steinhaus, Zur Theorie des internationalen Klassenkampfes. Frankfurt 1967, S. 13
[9] Brief des ZK der KPdSU an das ZK der KPCH (30.3.1963). In_ Polemik über … 553-587, hier 560, 567.
[10] Das neue Parteiprogramm der KPdSU. Köln 1962, S. 50.
[11] Antwort des ZK der KPCH vom 14.6.1963. In: Die Polemik .. S. 1-61, hier S. 7f.
[12] Lin Piao, Es lebe der Sieg im Volkskrieg. In: Peking Rundschau, 1965, Nr. 37. Als militärischer Führer der siegreichen Revolution konnte Lin Piao mit besonderer Autorität sprechen.
[13] Die Behandlung dieses Themas aus propagandistisch-westlicher jener Jahre bei Karl Heinz Kunzmann, Friedliche Koexistenz oder freundschaftliche Beziehungen? https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/1964/Heft6_1964/03_Beitrag Kunzmann_6_1964.pdf
[14] Joseph Stiglitz, Im freien Fall – Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. München 2010, 370
[15] www.nachdenkseiten.de/?p=96301
[16] www.tagesschau.de/ausland/amerika/brasilien-lula-china-xi-101.html