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08.07.2025: "Als verantwortungsvolle Regierungspartei darf die SPD nicht falsch abbiegen," schrieb jüngst Ex-Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in einem Gastbeitrag im "Stern" (25.6.2025). Nicht Ralf Stegner ist der SPD-Falschfahrer, weil er sich "gegen internationales Wettrüsten auf Rekordniveau" ausspricht, sondern die SPD ist schon längst falsch abgebogen, meint Günther Stamer

 

Die Angst vor dem falsch Abbiegen hat mittlerweile auch die norddeutsche Provinz erreicht. So lud die SPD in Neumünster Ralf Stegner, den langjährigen Landesvorsitzenden der schleswig-holsteinischen Sozialdemokraten, kurzerhand als Gastredner von ihrem traditionellen Rote-Grütze-Essen aus.

Hintergrund für die Ausladung ist Stegners Unterstützung für das "Friedens-Manifest", in dem etliche namhafte Parteimitglieder den außen- und verteidigungspolitischen Kurs der Regierung offen infrage stellen. Sie fordern darin eine Kehrtwende in der Russland-Politik, weg von der Logik "Sicherheit durch Stärke und Aufrüstung" hin zu mehr vertrauensbildenden kleine Schritten und Verstärkung der diplomatischen Bemühungen.[1]

Die Neumünsteraner SPD befürchtete laut ihrer Pressemitteilung, dass eine "nicht vermeidbare Diskussion über das Manifest die humorvolle Veranstaltung überlagern würde". An Stegners Stelle sprang Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) in die Bresche um das launige Zusammentreffen zu retten. Dieser hatte vor zwei Jahren medienwirksam seine Kriegsdienst-Verweigerung zurück gezogen und einen Kurzlehrgang bei der Marine in Flensburg absolviert. Ob er darüber Launiges zum Besten gegeben hat ist nicht bekannt.

Zurück zu Ralf Stegner. Doch damit nicht genug der roten Karten für den früheren SPD-Vize und aktuell Vorsitzenden des friedenspolitischen Erhard-Eppler-Kreises. Auch seinen bisherigen Job im Geheimdienst-Ausschuss des Bundestages ist er los. Dieses parlamentarische Kontrollgremium überwacht die Nachrichtendienste, bekommt Zugang zu sensiblen Informationen und tagt deshalb unter strenger Geheimhaltung in einem abhörsicheren Raum. Die Mitglieder werden von ihren Fraktionen nominiert. Die Linke hatte ihre Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek ins Rennen geschickt – und scheiterte.

Manifest: "Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung"

Warum die innerparteiliche und mediale Aufregung um Stegner? Gemeinsam mit dem jüngst abgelösten Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, dem ehemaligen Parteivorsitzenden Norbert Walter-Borjans, dem Historiker Peter Brandt und eine Anzahl weiterer mehr oder minder namhafter Parteimitglieder hatte er zwei Wochen vor dem SPD-Parteitag friedenspolitische Überlegungen vorgelegt (etwas großspurig als "Manifest" tituliert), die sich kritisch mit dem "Kriegstüchtigkeits-Kurs" von Lars Klingbeil und Boris Pistorius auseinandersetzen, die sich selbstredend von dem Papier distanziert haben. Der Bundesverteidigungsminister bescheinigte den Initiatoren schlichtweg "Realitätsverweigerung".

Was ist skandalös an diesem Papier? Eine grundsätzliche Absage an die Kriegstüchtigkeit Deutschlands und Europas ist aus diesem Papier nicht herauszulesen - lediglich eine Warnung vor einer Aufrüstungsspirale, die zukünftige Konflikte eher wahrscheinlicher macht, als sie zu verhindern. Das Papier spricht sich klar gegen Russlands Krieg in der Ukraine, aber auch gegen "einseitige Schuldzuweisungen" aus – verwiesen wird auf die unzähligen Kriege des Westens, die genauso völkerrechtswidrig waren und auch nicht mit friedlicheren Mitteln geführt wurden. Das stößt natürlich auf wenig Verständnis in der Regierungsmannschaft, den Grünen und einer Medienlandschaft, die sich seit Jahren am Feinbild Russland/China abarbeitet.

"Kanäle für eine gegenseitige Verständigung aufrechtzuerhalten, halte ich für ganz entscheidend, wenn wir den Krieg in der Ukraine beenden wollen."
Ralf Stegner

Besonders skandalös scheint vielen Beobachtern, dass laut den Unterzeichnern des Manifests der "außerordentlich schwierige Versuch unternommen werden sollte, nach dem Schweigen der Waffen wieder ins Gespräch mit Russland zu kommen, auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa."

In einem Interview im sozialdemokratischen "Vorwärts" erläutert Stegner seine Haltung: "Mir ist da eine Menge vorgeworfen: Ich sei naiv oder gar Propagandisten auf den Leim gegangen. Ich sehe in Gesprächen wie denen in Baku (im April mit Vertretern der russischen Regierung, gst) eher die Chance, anderen zu vermitteln, dass die Sozialdemokratie für Demokratie einsteht, und Angriffskriege wie den Russlands in der Ukraine nicht billigt. Ich habe das Gefühl, dass das auch verstanden worden ist. Gleichzeitig war mir wichtig herauszufinden, ob die russische Seite für unsere Positionen und Argumente zugänglich ist und gleichzeitig zu zeigen, dass sie weiter mit uns sprechen können. Kanäle für eine gegenseitige Verständigung aufrechtzuerhalten, halte ich für ganz entscheidend, wenn wir den Krieg in der Ukraine beenden wollen."[2]

Damit wandelt Ralf Stegner durchaus auch auf den Spuren seines Vorgängers als schleswig-holsteinischen SPD-Landesvorsitzenden, auf Jochen Steffen. Dieser hatte bereits 1966 - vier Jahre vor der Brandt’schen "Entspannungspolitik" - auf dem Landesparteitag der SPD mit der "Eutiner Erklärung" die Aufnahme von Gesprächen mit der DDR-Führung gefordert. Auch Steffen suchte nach Wegen zwischen den damaligen weltpolitischen Blöcken - so besuchte er neben der DDR auch Präsident Tito in Jugoslawien.

Stegner: "Wettrüsten erhöht nicht die Sicherheit, sondern Kriegsgefahren"

Doch nicht nur mit dem "Friedens-Manifest" hat sich Stegner innerhalb seiner Partei an den Rand manövriert. Mit Blick auf dem am 24. Juni vom Kabinett beschlossenen Haushaltsentwurf 2025 und den Finanzplan 2026 bis 2029 sagte Stegner: "Internationales Wettrüsten auf Rekordniveau erhöht nicht die Sicherheit, sondern Kriegsgefahren." In dem von seinem Parteigenossen und Bundesfinanzminister Lars Klingbeil erstellten Haushaltsplan wächst der Verteidigungsetat in diesem Jahr zunächst um zehn Milliarden Euro auf rund 62 Milliarden Euro. 2028 liegt er bereits bei 136 Milliarden Euro, bis er schließlich auf 153 Milliarden Euro im Jahr 2029 anwächst – eine Verdreifachung des heutigen Etats.

Trotz des beispiellosen Anstiegs der Militärausgaben blieb es in der SPD bislang eher ruhig – doch auf dem Parteitag gab es die ersten Aufreger. Neben einem spektakulären Auftritt der Gruppe "Mehr Diplomatie wagen" gab es einen Initiativantrag von Delegiert:innen, der das 5-Prozent-NATO-Ziel ablehnte: Die erste Abstimmung darüber fiel so knapp aus, dass nochmal ausgezählt werden musste. In der zweiten Abstimmung waren es dann immerhin noch 35 Prozent, die ihr Nein gegen das NATO-Ziel zum Ausdruck brachten.

SPD Parteitag 2025 06 27Mit Pickelhauben gegen Aufrüstung: Auf dem SPD-Parteitag (27.-29.6.2025) formierte sich Widerstand gegen den Regierungskurs. (Foto: Mehr Diplomatie wagen)

 

Von der Wehner-Rede, die die SPD in die NATO-Gefolgschaft einreiht zur Entspannungspolitik der 70er Jahre

Vor 65 Jahren, am 30. Juni 1960 vollzieht Herbert Wehner in einer Grundsatzrede vor dem Bundestag einen Kurswechsel der SPD in ihrer bisherigen Außen- und Sicherheitspolitik. Hatte sie sich in ihrem Deutschlandplan von 1959 noch zum Primat der Wiedervereinigung bekannt und gefordert, die bestehenden Militärpakte durch ein kollektives Sicherheitssystem abzulösen, so rückt Wehner von diesen sozialdemokratischen Leitzielen ab, indem er ausführt, dass die Partei fortan die NATO als Ausgangspunkt und Bezugsrahmen ihrer Außen- und Sicherheitspolitik betrachte und eine gemeinsame Außenpolitik mit der CDU/CSU-Bundesregierung befürworte. "Die SPD", so erklärte Wehner, "werde loyal zu den Westverträgen und den Bündnispflichten der Bundesrepublik stehen. Die SPD beabsichtigt nicht, das Ausscheiden der Bundesrepublik aus den Vertrags- und Bündnisverpflichtungen zu betreiben."

Damit vollzog die SPD nach der Revision ihrer gesellschaftspolitischen Vorstellungen auf dem Godesberger Programmparteitag vom November 1959 nun auch in der Außenpolitik eine tiefgreifende Wandlung.

Nach Bruch der Großen Koalition und der folgenden sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Brandt (SPD) und Außenminister Scheel (FDP) musste die BRD angesichts der Veränderungen im weltpolitischen Kräfteverhältnis Anpassungen ihrer Außenpolitik vornehmen: 1970 wurden Verträge mit der UdSSR und Polen abgeschlossen, 1972 folgte der Grundlagenvertrag mit der DDR. Der Entspannungsprozess wurde mit der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) fortgesetzt. Am 1. August 1975 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs von 33 Staaten Europas plus den USA und Kanada in Helsinki die Schlussakte.

Noch vier Tage zuvor hatte die CDU/CSU einen Entschließungsantrag in den Bundestag eingebracht, in dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, die KSZE-Schlußakte nicht zu unterzeichnen, weil "deren Ergebnisse drohten, zu Instrumenten zur Durchsetzung langfristiger sowjetischer Ziele insbesondere in ganz Deutschland zu werden."

Mit Blick auf die KSZE Schlussakte stellen die Autoren des Friedens-Manifests fest: "Die europäische Sicherheitsordnung wurde schon in den letzten Jahrzehnten vor dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine immer mehr untergraben - auch durch den 'Westen' - so etwa durch den Angriff der Nato auf Serbien 1999, durch den Krieg im Irak mit einer "Koalition der Willigen" 2003 oder durch Nichteinhaltung der 1995 bekräftigten nuklearen Abrüstungsverpflichtungen des Atomwaffensperrvertrags, durch Aufkündigung oder Missachtung wichtiger Rüstungskontrollvereinbarungen zumeist durch die USA oder auch durch eine völlig unzureichende Umsetzung der Minsker Abkommen nach 2014."

SPD priorisiert "Kriegstüchtigkeit" statt gemeinsamer Sicherheit

Noch im Herbst 2018 formulierte die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Beschluss "Dialog – Vertrauen – Sicherheit": "Aktuelle Ansätze möglicher Zusammenarbeit bedeutet nicht, bestehende Differenzen bei den Interessen und Werten auszublenden. Zu versuchen, Russland zu verstehen, heißt nicht, in jeder Frage zuzustimmen. Deshalb sollte bereits heute über neue vertrauensbildende Maßnahmen und über Projekte der Zusammenarbeit gesprochen werden – wo sie sinnvoll und realistisch sind. Auf dieser Basis ist es auch möglich, unsere Erwartungen an russische Verhaltensänderungen klar zu formulieren."

Doch seit Ende 2023 hat sich der sicherheitspolitische Blick der SPD grundlegend verändert. In ihrem Papier "Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch" heißt es: Die Verteidigung der "regelbasierten Ordnung" erfordere eine "militärische Führungsrolle" Deutschlands in der Welt, gestützt auf ein "geopolitisch selbstbewusstes Europa", um in der "Systemrivalität mit China und insbesondere Russland bestehen zu können." Und selbstredend müssten derlei Ambitionen dann auch mit den entsprechenden finanziellen Ressourcen unterfüttert werden. Die Autoren des Papiers greifen damit nahezu wort- und inhaltsgleich eine Programmatik auf, die vor mehr als zehn Jahren im Projekt "Neue Macht – Neue Verantwortung" der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und des German Marshall Fund of the United States (GMF) entworfen und wenige Monate später auf der Münchner "Sicherheitskonferenz" 2014 verkündet wurde: Deutschland soll "die Kultur der Zurückhaltung" endlich überwinden und die USA bei der Verteidigung "der freien und friedlichen Weltordnung" nicht allein lassen, sondern stärker als bisher "Verantwortung" übernehmen, notfalls auch mit militärischer Gewalt.

Eine zentrale Rolle bei der Militarisierung der SPD spielt neben Boris Pistorius SPD-Kochef Lars Klingbeil, der vor 20 Jahren noch Artikel in der militär-kritischen Zeitschrift "Wissenschaft und Frieden" schrieb.[3]
Sein Gegenspieler in der SPD, Ralf Stegner, ist am 12.Juli Gast und Diskutant bei der Dritten Gewerkschaftskonferenz "Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg" in Salzgitter.

Eure Kriege ohne uns

txt: Günther Stamer

Anmerkungen

[1] Das "Manifest" der SPD:  https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/spd-manifest-100-downloadFile.pdf

[2] Ralf Stegner im Interview mit dem "Vorwärts” 16.5.2025

[3] Siehe zum Beispiel Lars Klingbeil, Paul Schäfer: Neues vom Aufbau der EU-Militärunion. In: Wissenschaft & Frieden 3/2001

Demo Palestina 2025 09 27

Die Kundgebung am 27. September in Berlin könnte die größte pro-palästinensische Demonstration werden, die es in Deutschland je gegeben hat. Wer den politischen Wind drehen und den Genozid in Gaza noch stoppen will, muss am Samstag auf die Straße gehen.
Infos: https://all-eyes-on-gaza.de/


 

Wir werden in unsere Heimat zurückkehren

Palestina Wir werden zurüückkehren

Viva Palästina

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Solidaritätskampagne mit der Palästinensischen Volkspartei für Gaza: 30.000 Euro überwiesen. Die Solidarität geht weiter!

Gaza Soliaktion 2024 12 09 5
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