16.12.2022. Regierungsbildung - Große Koalition von Sozialdemokraten, Venstre und Moderaterne
02.11.2022: In Dänemark sind alle Stimmen ausgezählt ++ Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Mette Frederiksen erneut stärkste Kraft ++ Der "rote Block" errang eine Mehrheit mit nur einem Sitz Vorsprung vor dem "blauen Block“ der konservativen und rechten Parteien ++ Mette Frederiksen favorisiert Regierungskoalition mit konservativ-bürgerlichen Kräften ++ Sozialistische Volkspartei und rot-grüne Einheitslisten für Bildung einer Regierung des "roten Blocks"
Regierungsbildung - Große Koalition von Sozialdemokraten, Venstre und Moderaterne
16. Dezember 2022: Am Mittwoch,14. Dezember, trat die Sozialdemokratin Mette Frederiksen in roter Jacke vor die Presse, flankiert von den zwei blau gekleideten Herren Jakob Ellemann-Jensen von den bürgerlich-liberalen “Venstre” und Lars Løkke Rasmussen von den neugegründeten “Moderaterne”. Vor wenigen Monaten noch politische Erzfeinde – jetzt fröhliche und stolze Gründer der ersten Großen Mehrheits-Koalition seit 1993 in Dänemark. Mette Frederiksen hatte bereits im Wahlkampf mit dem Slogan “Zusammen durch schwierige Zeiten” von vornherein darauf abgezielt, eine “breite Regierung über die politische Mitte” zu bilden. Dies sei in Kriegs- und Inflationszeiten “der richtige Weg für Dänemark”, so Frederiksen. Mit dem 60-seitigen detaillierten Regierungsprogramm, in dem in den meisten Politikbereichen “für jeden etwas” dabei ist, und einer Machtverteilung, durch die Ellemann-Jensen (Venstre) Vize-Staatsminister und Verteidigungsminister sowie Løkke Rasmussen (Moderaterne) Außenminister werden, scheinen alle drei rundum zufrieden zu sein.
Das Regierungsprogramm beinhaltet Steuersenkungen für Geringverdiener und die mittleren bis höheren Einkommen - für Gutverdiener:innen soll die Steuer um 7,5 Prozent gesenkt werden -, aber auch eine geringfügige Erhöhung des Steuersatzes für die Allerreichsten. Weniger Bürokratie und mehr Flexibilität im öffentlichen Sektor, besonders in der Altenpflege und den Grundschulen – was immer das in der Praxis dann bedeuten mag. Akute Hilfe für die überforderten Krankenhäuser. Zielgerichteter Einsatz für die 45 000 arbeits- und ausbildungslosen jungen Däninnen und Dänen. Kürzungen bei den akademischen Ausbildungen und mehr Ressourcen für die handwerklichen. Beschleunigung der Klimaambitionen durch unter anderem eine CO2-Steuer auf die Landwirtschaft; die Einnahmen aus dieser Steuer sollen dann ausschließlich der Landwirtschaft zugute kommen. Der sogenannte "Große Gebetstag", einen 1686 eingeführter Feiertag, wird abgeschafft, das eingesparte Geld soll zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben verwendet werden. Bis 2030 soll das Zwei-Prozent-Ziel der NATO für Militärausgaben eingehalten werden. Die Anhebung des Renteneintrittsalters um drei Jahre für Beschäftigte mit belastenden Tätigkeiten entspricht ebenfalls den Forderungen der Mitte-Rechts-Kräfte und stößt bereits auf den entschiedenen Widerstand z. B. der Lehrergewerkschaft, die von der Maßnahme direkt betroffen ist. Die Idee der früheren Exekutive, ein Aufnahmezentrum für Asylbewerber in Ruanda zu errichten, wurde vorerst beibehalten; es wird davon ausgegangen, dass es mit anderen europäischen Ländern abgestimmt wird.
Viele meinen, dass das Programm mehr "blau" als "rot" ist. Aber Mette Frederiksen hat schon in den Vorjahren mit einem Rechtsruck der Sozialdemokraten im Voraus ihre Politik an das bürgerliche Lager angenähert und das "rot" aus der eigenen Politik entfernt. Nicht nur in Migrationsfragen, sondern auch was die sogenannte “wirtschaftliche Vernunft in Krisenzeiten” angeht.
Mai Villadsen, die Sprecherin der Rot-Grünen Allianz “Enhedslisten” kritisiert die Regierungbildung scharf. Finanziell leiden werden die allerärmsten Familien, besonders die mit Migrationshintergrund, da ihnen Zuschüsse gestrichen werden sollen. Auch nennt Villadsen die Klimapolitik der neuen Regierung “pechschwarz” und warnt, dass durch die historischen Verbindungen von Venstre mit der Landwirtschaft zu viel Rücksicht auf dieses umweltschädliche Gewerbe genommen wird.
Knappe Mehrheit des "roten Blocks"
2. November 2022: 4,3 Millionen Däninnen und Dänen, darunter mehr als 200.000 Erstwähler:innen, waren gestern (1.11.) zur Wahl der 197 Abgeordneten des dänischen Parlaments, des Folketing, aufgerufen. 84,1 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab.
Die Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Mette Frederiksen sind erneut stärkste Kraft geworden. Für die Sozialdemokraten stimmten 27,5 Prozent der Wähler, wodurch sie auf 50 Sitze im Folketinget kommen. Im Vergleich zur Wahl im Jahr 2019 legte die Partei um 1,6 Prozentpunkte zu. Es ist ihr bestes Wahlergebnis seit mehr als zwei Jahrzehnten. Die wichtigste Oppositionsparteien, die Liberalen, und die zuvor starken einwanderungsfeindlichen Dänische Volkspartei mussten eine Schlappe einstecken - vor allem, weil die Sozialdemkraten viele ihrer Politikvorschläge übernommen haben.
Der "rote Block", der von Frederiksen und den Sozialdemokraten angeführt wird, errang 87 Parlamentsmandate, zu denen ein Mandat von den Färöer-Inseln und zwei von der autonomen Region Grönland hinzukamen, eines von den Sozialdemokraten und eines von der unabhängigen Linken der Inuit Ataqatigiit, die derzeit die Insel regiert.
Im "roten Block" legte die Sozialistische Volkspartei (Socialistisk Folkeparti, eine öko-sozialistische Formation, die im EU-Parlament Mitglied der Grünen-Fraktion ist) im Vergleich zur Wahl 2019 0,6 Prozentpunkte zu. Mit 8,3 Prozent der Stimmen kommt sie auf 15 Abgeordnete. Die rot-grünen Einheitslisten (Enhedslisten, Mitglied der Partei der Europäischen Linken und im Europaparlament der Fraktion The Left) verlieren 1,7 Prozentpunkte und kommen nur noch auf 5,3 Prozent der Stimmen und neun Abgeordnete - ein Verlust von vier Mandaten. Die Alternative (Alternativet, eine mit DiEM25 verbundene Partei) kommt mit 3,3 Prozent unverändert auf sechs Abgeordnetensitze. Die Sozialliberalen von Radikale Venstre erlitten mit einem Rückgang von von 8,6 auf 3,8 Prozent einen regelrechten Einbruch und kommen nur noch auf sieben Mandate; sie waren es, die im Oktober nach dem Skandal um die von der Regierung verordnete Keulung von 17 Millionen Nerzen aufgrund des Risikos der Covid-Variante im Jahr 2020 zu vorgezogenen Wahlen aufgerufen hatten.
Im "blaune Block" kam es auf der äußersten Rechten zu einer Umschichtung, wobei die Dänische Volkspartei von 9 auf 2,5 Prozent zurückfiel: Die Stimmen gingen zum großen Teil an die neue Formation der "Dänischen Demokraten" (8,1 Prozent, 14 Mandate), die sich in Bezug auf Ideen und Strategien an ihren schwedischen "Brüdern" orientiert.
Unerwünschte Mehrheit
Mit 90 Abgeordneten hat der "rote Block" mit nur einem Sitz Vorsprung eine Mehrheit vor dem "blauen Block“ der konservativen und rechten Parteien. Ironischerweise ist dieses Ergebnis nicht das, was Frederiksen will. Sie hat sich für eine nationale Regierung ausgesprochen, die sich auf eine Koalition mit den Parteien der Mitte stützt und die Linke über Bord wirft. Und so hat sie trotz des Wahlerfolgs ihrer Sozialdemokraten und einer Mehrheit des "roten Blocks" ihren Rücktritt angekündigt. Für sie sei klar, dass hinter der Regierung in ihrer jetzigen Form keine Mehrheit mehr stehe, erklärte sie. Wie Frederiksen bereits vor der Wahl ankündigte, will sie über die traditionellen Blockgrenzen hinweg mit Hilfe von Mitte-Rechts eine breitere Regierung bilden. Sie denkt dabei vor allem an die Moderaten-Partei von Ex-Ministerpräsident Lars Lökke Rasmussen, die erstmals mit 16 Abgeordneten in das Parlament einzieht. Die Moderaten haben sich zwischen den traditionellen Blöcken positioniert, ohne sich auf eine Seite festzulegen. Sowohl Frederiksen als auch Rasmussen haben erklärt, dass sie eine Regierung der Mitte anstreben, um den Einfluss der kleineren Parteien zu minimieren.
Die ehemalige sozialdemokratische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt erläuterte die Strategie: "Das könnte eine neue Art sein, Dinge zu tun. Wir haben noch nie so viel über die Mitte und die Suche nach Kompromissen in der Mitte gesprochen." Und Jakob Engel-Schmidt, politischer Leiter der Moderaten, fügte hinzu: "Angesichts der Sicherheitslage in Europa, der Energiekrise und der Inflationskrise glauben wir, dass die Politiker zusammenkommen und bestimmte Reformen durchführen müssen, um den Sozialstaat für die Zukunft zu sichern."
Nach der Wahl im Jahr 2019 führte Mette Frederiksen eine sozialdemokratische Minderheitsregierung. Für politische Mehrheiten setzt sie in erster Linie auf Unterstützung der linksgerichteten Parteien, in der strikten Einwanderungspolitik aber auf Stimmen aus dem konservativ-rechten Block.
Im Unterschied zur Wahl 2019 (siehe kommunisten.de: "Wahl in Dänemark: Sieht so eine erfolgreiche Zukunft für die SPD aus?") hat das Thema Migration keine bedeutende Rolle im Wahlkampf gespielt. Damals haben die Sozialdemokraten unter Führung von Mette Frederiksen bei diesem Thema den Rechtspopulisten erfolgreich Konkurrenz gemacht. Frederiksen führte in der Sozial- und Wirtschaftspolitik die Sozialdemokraten zwar wieder auf einen klassischen Linkskurs, in der Einwanderungspolitik setzte sie aber ganz auf die harte Linie der vorherigen bürgerlichen Regierung. Die Sozialdemokraten trugen zuletzt auch noch die schärfsten gesetzlichen Einschränkungen ihrer Vorgängerregierung für Asyl und Ausländer mit. Sie versprach mit der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei zu kooperieren, um die Zahl der Zuwanderer:innen aus nicht-westlichen Staaten weiter zu beschränken, eine Arbeitspflicht für anerkannte Flüchtlinge einzuführen und mehr Migrant:innen abzuschieben.
Mette Frederiksen bilanzierte jetzt im Wahlkampf: "Wir haben die Rückführungsagentur eingerichtet und ein neues Rückführungsgesetz verabschiedet. Beide Bemühungen haben dazu beigetragen, dass mehr Ausländer ohne legalen Aufenthalt in Dänemark in ihr Herkunftsland zurückkehren. … Wir haben auch die Regeln für die Staatsbürgerschaft verschärft, so dass Kriminelle niemals dänische Staatsbürger werden können. … Wir haben eine politische Einigung mit Ruanda erzielt, um mit der Einrichtung eines Aufnahmezentrums in Ruanda zu beginnen und die Asylverfahren dorthin zu verlagern." (https://www.mettefrederiksen.dk/en-stram-udlaendingepolitik/)
Sozialdemokraten: "Sicher durch unsichere Zeiten"
Im Wahlkampf waren die vorherrschende Themen neben dem Kampf gegen die Inflation, die in Dänemark mit elf Prozent knapp über dem EU-Schnitt liegt, vor allem Klimafragen und die Gesundheitspolitik.
In diesem Umfeld präsentierten sich die Sozialdemokraten als Partei der "Sicherheit". Ihr Slogan: "Sicher durch unsichere Zeiten". Im Wahlkampf betonte Frederiksen: "Diese Parlamentswahl wird eine Wahl zum Thema Sicherheit sein. Sicherheit für den Einzelnen, für die Familien, für Eure Finanzen und Euren Alltag."
Bereits im Sommer hatten die Sozialdemokraten mit dem Argument Sicherheit erfolgreich ein Referendum über die Teilnahme Dänemarks der "Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik" der Europäischen Union initiiert. Als ersten Punkt ihrer Referendumskampagne nannten sie die Notwendigkeit, "Europas Verteidigung gegen Putin zu stärken, weil Putins Angriff auf die Ukraine ein Angriff auf unsere Grundwerte und unsere Sicherheit ist". (siehe kommunisten.de: "Dänemark stimmt in Anti-Putin-Stimmung für militärische Zusammenarbeit mit der EU")
Eine "rote Mehrheit"
Sozialistische Volkspartei bereit für Eintritt in die Regierung
Es gibt eine "rote Mehrheit", erklärt die Sozialistische Volkspartei (Socialistisk Folkeparti, eine öko-sozialistische Formation, die im Europaparlament Mitglied der Grünen-Fraktion ist), die bisher die sozialdemokratische Regierung unterstützte, ohne in der Regierung vertreten zu sein. Jetzt bekräftigt sie, dass sie bereit ist, in eine von Mette Frederiksen geführte Regierung einzutreten. "Jetzt ist es an der Zeit eine Regierung zu bilden, und wir werden unseren Teil dazu beitragen, dass sie für hohe Klimaambitionen und ein gerechteres Dänemark arbeitet", sagt die Parteivorsitzende Pia Olsen Dyhr.
"Wir von den Enhedslisten kämpfen hart dafür, dass diese Mehrheit auch genutzt wird"
Auch die rot-grünen Einheitslisten (Enhedslisten, Mitglied der Partei der Europäischen Linken und im Europaparlament der Fraktion The Left) betonen, dass es eine rot-grüne Mehrheit gibt. "Wir von den Enhedslisten kämpfen hart dafür, dass diese Mehrheit auch genutzt wird", heißt es von den Rot-Grünen.
Die Enhedslisten müssen aber auch einräumen, dass sie bei einem Verlust von 1,7 Prozentpunkten über ihr Wahlergebnis enttäuscht sind. "Enhedslisten hat sicherlich nicht das von uns gewünschte Wahlergebnis erzielt. Das ist kein Geheimnis", erklären sie.
Die Erwartungen waren anders. Denn immerhin waren sie vor einem Jahr, am 16. November 2021, bei der Kommunalwahl in Kopenhagen – mit 640.000 Bewohner:innen die größte Stadt Dänemarks – mit 24,6 Prozent zur stärksten Partei in der Stadt geworden, gefolgt von den Sozialdemokraten mit nur 17,3 Prozent.
Die Enhedslisten dürften "taktische" Stimmen an die Sozialdemkraten verloren haben sowie an die Alternativet und an die Freien Grünen (Frie Grønne), die sich selbst als Partei für Antirassismus und Klimaverantwortung charakterisiert. Frie Grønne gingen mit 0,9 Prozent leer aus.
Wenn Mette Frederiksen nach ihrem Rücktritt erneut mit der Bildung einer Regierung beauftragt wird, wird sich zeigen, ob sie auf eine Koalition mit den bürgerlichen Konservativen setzt oder ob sie die Chance für eine fortschrittlichere Politik in einer Regierungskoalition mit Unterstützung des "roten Blocks" sucht.