05.05.2018: Anlässlich des zweihundertsten Geburtstages von Karl Marx erinnern wir an den Artikel »Unser Marx«, den Antonio Gramsci zu dessen hundertsten Geburtstag am 4. Mai 1918 in der Wochenzeitung der Turiner Sektion der Sozialistischen Partei »Grido del Popolo« (»Ruf des Volkes«) veröffentlichte.
Unser Marx
Sind wir Marxisten? Gibt es Marxisten? Dummheit, du allein bist unsterblich. Die Frage wird wahrscheinlich in diesen Tagen anlässlich des hundertsten Jahrestages wieder aufgegriffen werden und mit sich bringen, dass Flüsse von Tinte und von Torheiten vergossen werden. Lobhudelei und Byzantinismus sind ein unvergängliches Erbe der Menschen. Marx hat keinen kurzgefassten Katechismus geschrieben, er war kein Messias, der eine Aneinanderreihung von Parabeln hinterlassen hätte, die kategorische Imperative, unbestrittene, absolute, außerhalb der Kategorien von Zeit und Raum stehende Normen enthalten.
Der einzige kategorische Imperativ, die einzige Norm: „Proletarier der ganzen Welt, vereinigt Euch!“ Die Pflicht der Organisation, die Propaganda der Pflicht, sich zu organisieren und zu vereinigen, sollte demnach das Unterscheidungsmerkmal zwischen Marxisten und Nichtmarxisten sein. Dies ist sehr wenig und sehr viel: wer wäre nicht Marxist? Und doch ist es so: alle sind Marxisten, ein wenig, unbewusst.
Marx ist groß gewesen, er ist in seiner Tätigkeit fruchtbar gewesen, nicht, weil er aus dem Nichts etwas erfunden hätte, nicht, weil er aus seiner Phantasie eine originelle Vision der Geschichte abgeleitet hätte, sondern weil bei ihm das Fragmentarische, das Unvollständige, das Unreife zur Reife, zum System, zur Bewusstheit gelangte. Seine persönliche Bewusstheit kann zur Bewusstheit aller werden, sie wurde schon zur Bewusstheit vieler: aus diesem Grunde ist er nicht nur ein Gelehrter, er ist ein Mann der Tat; er ist groß und fruchtbar in der Aktion wie im Denken. Seine Bücher haben die Welt ebenso verändert wie sie das Denken verändert haben.
Marx bedeutet Eingang der Intelligenz in die Geschichte der Menschheit, ins Reich der Bewusstheit.
Sein Werk fällt gerade in jene Periode, in der sich die große Auseinandersetzung zwischen Thomas Carlyle und Herbert Spencer über die Rolle des Menschen in der Geschichte abspielte.[1]
Carlyle: der Held, die große Individualität, mystische Synthese einer geistigen Gemeinschaft, die die Schicksale der Menschheit auf einen unbekannten Ausgangspunkt hinführt, verschwimmend im trügerischen Lande der Perfektion und der Heiligkeit.
Spencer: die Natur, die Evolution, mechanische und leblose Abstraktion. Der Mensch: Atom eines natürlichen Organismus, der sich einem abstrakten Gesetz als solchem unterordnet, aber der, historisch, konkret wird in den Individuen: das unmittelbar Nützliche.
Marx etabliert sich in der Geschichte mit der soliden Quadratur eines Giganten: er ist weder ein Mystiker noch ein positivistischer Metaphysiker; er ist ein Historiker, er ist ein Interpret der Dokumente der Vergangenheit, aller Dokumente, nicht nur eines Teils von ihnen. Darin bestand der immanente Mangel der Geschichtsdarstellungen, der Untersuchungen der menschlichen Ereignisse: nur einen Teil der Dokumente zu prüfen und zu berücksichtigen. Und dieser Teil wurde ausgewählt nicht durch die historische Absicht, sondern durch das parteiische Vorurteil, und zwar auch unbewusst und in gutem Glauben. Die Untersuchungen hatten nicht die Wahrheit, nicht die Genauigkeit, die umfassende Wiederherstellung des Lebens der Vergangenheit zum Ziel, sondern die Hervorhebung einer besonderen Aktivität, die positive Bewertung einer apriorischen These. Die Geschichte war nur Herrschaft der Ideen. Der Mensch wurde als Geist, als reines Bewusstsein betrachtet. Aus dieser Konzeption ergaben sich zwei irrige Konsequenzen: die hervorgehobenen Ideen waren häufig nur willkürliche, fiktive. Die Tatsachen, denen man Wichtigkeit beimaß, waren anekdotisch, keine Geschichtsdarstellung. Wenn Geschichte im wirklichen Sinne des Wortes geschrieben wurde, so war das der genialen Intuition einzelner Leute geschuldet, nicht einer systematischen und bewussten wissenschaftlichen Arbeit.
Bei Marx bleibt die Geschichte eine Herrschaft der Ideen, des Geistes, der bewussten Tätigkeit der einzelnen oder assoziierten Menschen. Doch erhalten die Ideen, der Geist einen Inhalt, sie verlieren ihren willkürlichen Charakter, sie sind nicht mehr fiktive religiöse oder soziologische Abstraktionen. Ihr Wesen liegt in der Ökonomie, in der praktischen Tätigkeit, in den Systemen und den Verhältnissen der Produktion und des Austauschs. Die Geschichte als Ereignis ist reine praktische Tätigkeit (ökonomische und moralische). Eine Idee verwirklicht sich nicht, indem sie logischerweise der reinen Wahrheit, der reinen Menschlichkeit (die nur als Programm, als generelles ethisches Ziel der Menschen existiert) entspricht, sondern indem sie in der ökonomischen Realität ihre Rechtfertigung, das Mittel, sich zu bestätigen, findet.
Um mit Exaktheit zu begreifen, welches die historischen Ziele eines Landes, einer Gesellschaft, einer Gruppierung sind, muss man vor allem begreifen, welches die Systeme und die Verhältnisse der Produktion und des Austauschs dieses Landes, dieser Gesellschaft sind. Ohne dieses Verständnis kann man Teilmonographien, nützliche Dissertationen zur Geschichte der Landwirtschaft zusammenstellen, abgeleitete Überlegungen zusammenfügen, entfernte Schlussfolgerungen ziehen, aber man wird keine Geschichte zustande bringen, nicht der praktischen Tätigkeit in deren Geschlossenheit auf den Grund gehen.
Die Idole stürzen von ihren Altären, die Götter sehen die Wolken wohlriechenden Weihrauchs sich auflösen. Der Mensch erlangt das Bewusstsein der objektiven Realität, er eignet sich das Geheimnis an, das den realen Ablauf der Ereignisse verursacht. Der Mensch erkennt sich selbst, er weiß, was sein individueller Wille wert ist und wie dieser größeres Gewicht erhalten kann, indem er der Notwendigkeit untergeordnet, dienstbar gemacht wird, er erreicht den Punkt, wo er die Notwendigkeit selbst beherrscht, indem er sie mit dem eigentlichen Ziel in Übereinstimmung bringt.
Wer kennt sich selbst? Nicht der Mensch schlechthin, sondern jener, der sich dem Joch der Notwendigkeit beugt. Die Erforschung des Wesens der Geschichte, ihre Einordnung in das System und in die Verhältnisse von Produktion und Austausch decken auf, wie die menschliche Gesellschaft sich in Klassen gespalten hat. Die Klasse, die die Produktionsmittel besitzt, kennt sich notwendigerweise selbst, sie hat, wenn auch konfus und fragmentarisch, das Bewusstsein ihrer Macht und ihrer Mission. Sie hat individuelle Ziele, und sie realisiert sie vermittels ihrer Organisiertheit, und zwar kaltblütig, objektiv, ohne sich Sorgen zu machen, ob ihr Weg mit hungergeplagten Leibern oder mit Leichen der Schlachtfelder gepflastert ist.
Die Systematisierung der realen historischen Kausalität erlangt den Wert einer Offenbarung für die andere Klasse, wird zum Ordnungsprinzip für die unübersehbare Herde ohne Hirten. Die Herde erlangt Bewusstsein ihrer selbst, Bewusstsein der Aufgabe, die sie unmittelbar in Angriff nehmen muss, weil die andere Klasse sich durchsetzt, sie erlangt Bewusstsein, dass ihre individuellen Ziele so lange reine Willkür, bloße Worte, zielloses emphatisches Suchen bleiben, wie sie nicht die Mittel besitzt, wie das Suchen nicht zu einem Wollen wird.
Voluntarismus? Das Wort bedeutet nichts, oder es wird im willkürlichen Sinne gebraucht. Wollen, marxistisch verstanden, bedeutet Bewusstheit des Zieles, was seinerseits exakte Kenntnis der eigenen Kraft und der Mittel bedeutet, diese in die Aktion umzusetzen. Es bedeutet deshalb in erster Linie Unterscheidung, Verselbständigung der Klasse, es bedeutet ein politisches Leben, unabhängig von der anderen Klasse, geschlossene und disziplinierte Organisiertheit für die eigenen spezifischen Ziele, ohne Abweichungen und Schwankungen. Es bedeutet einen geradlinigen Impuls in Richtung auf das höchste Ziel, ohne Glockengeläut auf grünen abgelegenen Wiesen, die, um aus dem Glas herzlicher Brüderschaft zu trinken, voller zarter grüner Gräser und sanfter Bekenntnisse der Achtung und Liebe sind.
Das Adverb „marxistisch“ ist jedoch unnütz, und es kann sogar Raum bieten für Missverständnisse und eitlen Wortschwall. Marxistisch ... ist Adjektiv und Adverb, die wie durch viele Hände gehende Münzen abgenutzt sind.[2]
Karl Marx ist für uns Lehrer des geistigen und moralischen Lebens, kein mit einer Rute bewaffneter Hirte. Er rüttelt die geistige Trägheit auf, er weckt die guten Kräfte, die schlummern und für die gute Schlacht entfacht werden müssen. Er ist ein Beispiel für intensive und hartnäckige Arbeit, um die klare Wahrhaftigkeit der Ideen, die solide Kultur zu erreichen, die erforderlich ist, damit man nicht ins Leere, nicht in Abstraktionen spricht. Er ist ein monolither Block wissender und denkender Menschlichkeit, der die Zunge nicht hütet, um zu sprechen, der nicht die Hand aufs Herz legt, um zu fühlen, der vielmehr eiserne Schlussfolgerungen formuliert, die die Wirklichkeit in ihrem Wesen erfassen und sie beherrschen, die in die Hirne eindringen, die die Sedimente aus Vorurteilen und vorgefassten Ideen erschüttern und den moralischen Charakter stärken.
Karl Marx ist kein Baby, das in der Wiege plärrt, und kein bärtiger Geselle, der die Priester in Furcht versetzt. Es handelt sich nicht um jemand mit einer Biographie aus anekdotischen Episoden, mit brillierenden und plumpen Ausdrucksformen seiner menschlichen Natur. Er ist ein vielseitiger und klar denkender Geist, er ist ein personifizierter Moment der angestrengten säkularen Forschungen, die die Menschheit unternahm, um die Erkenntnis ihres Seins und ihres Werdens zu gewinnen, um den mysteriösen Rhythmus der Geschichte zu erfassen und das Mysterium zu enthüllen, um stärker im Denken zu sein und besser wirksam zu werden. Es ist ein notwendiger und integrierter Teil unseres Geistes, den es so nicht gäbe, wenn er nicht gelebt, nicht gedacht hätte, wenn er nicht mit der Kraft seiner Hingabe und seiner Ideen, seiner Leiden und seiner Ideale Funken des Lichts verbreitet hätte. Indem das internationale Proletariat Karl Marx anlässlich der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages würdigt, würdigt es sich selbst, seine bewusste Kraft, die Dynamik seiner auf Errungenschaften gerichteten Angriffsbereitschaft, die die Herrschaft der Privilegiertheit offenlegt und den Endkampf vorbereitet, der alle Anstrengungen und alle Opfer krönen wird.
Anmerkungen
[1] Gramsci nimmt hier Bezug auf entsprechende Überlegungen von Antonio Labriola in der Schrift Del materialismo storico. Dilucidazione preliminare aus dem Jahre 1896 (Über den historischen Materialismus. Einleitende Erläuterungen). Siehe Antonio Labriola: La concezione materialistica della storia, Bari 1965, S.142/143.
[2] Diese überraschend scheinende Interpretation Gramscis erklärt sich aus seiner Abgrenzung von den dominierenden Auffassungen der Führer der II. Internationale, die das Attribut „marxistisch“ für sich beanspruchten, nach Gramscis Meinung dogmatisch und für den Bankrott der Internationale verantwortlich waren.
Quelle: Antonio Gramsci - vergessener Humanist?
Zusammengestellt und eingeleitet von Harald Neubert, S. 36 ff; Dietz Verlag Berlin, 1991
zum 200 Geburtstag: http://marx200.org/