21.10.2020: Zu radikal, um Post auszutragen oder zu unterrichten? Mit dem »Radikalenerlass« unter der Regierung von Willy Brandt (SPD) vom 18. Februar 1972 wurden Zehntausende Linke insb. DKP-Mitglieder verfolgt und aus dem öffentlichen Dienst geworfen. Besonders Lehrer wurden mit einem Berufsverbot belegt. Der »Radikalenerlass« wurde später gekippt – viele Betroffenen kämpfen bis heute mit den Folgen ++ Betroffene, Gewerkschafter*innen und Aktivist*nnen aus der Demokratiebewegung bereiten den 50. Jahrestag des sogenannten Radikalenerlasses vor und fordern: "Endlich Aufarbeitung, Rehabilitierung und Entschädigung!" ++ Dokumentiert: Presseerklärung des "Arbeitsausschusses der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung demokratischer Grundrechte".
PRESSEERKLÄRUNG
Der 50. Jahrestag des Radikalenerlasses steht bevor –
die Zeit ist reif, mehr Demokratie zu wagen!
Trotz Pandemie und damit erschwerter Bedingungen trafen sich am Donnerstag, 15. Oktober, Vertreterinnen und Vertreter zahlreicher Initiativen zur Aufarbeitung der Berufsverbote aus der ganzen Bundesrepublik in Hannover.
Zusammen mit seit den 70er Jahren von Berufsverbot Betroffenen bereiten GewerkschafterInnen und AktivistInnen aus der Demokratiebewegung den 50. Jahrestag des sogenannten Radikalenerlasses vor und fordern: "Endlich Aufarbeitung, Rehabilitierung und Entschädigung!"
Dafür werben sie um breite Unterstützung aus der demokratischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik.
Seit geraumer Zeit erleben wir rassistische Übergriffe und Gewalttaten in Deutschland. In der Folge werden staatliche Überwachungsbefugnisse beunruhigend ausgedehnt. Immer mehr alarmierende Erkenntnisse über faschistische Gruppen bei Polizei, Militär und weiteren Sicherheitsorganen kommen ans Licht. Dagegen hilft weder die bislang übliche Verharmlosung noch ein neuer Radikalenerlass, der Antifaschisten mit Faschisten gleichsetzen würde.
Die Weichen werden falsch gestellt, wenn der sog. Verfassungsschutz hoheitlich entscheidet, wer als extremistisch zu gelten hat.
Werner Siebler, Gewerkschafter aus Freiburg: "Das Grundgesetz ist antifaschistisch. Wir erinnern an die Fortgeltung der Entnazifizierungsvorschriften, die das GG in Artikel 139 normiert hat."
Schon 1972 richtete sich der Radikalenerlass gegen "Links- und Rechtsextremisten". Praktisch traf er vor allem Linke: Mitglieder der DKP, von K-Gruppen, SPD-nahe Studierendenverbände, Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA und der Friedensbewegung.
Die Berufsverbote riefen damals in vielen Ländern Europas Empörung hervor und lösten eine große Solidaritätsbewegung aus.
1987 wurden die Berufsverbote von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und 1995 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.
Auch in der Bundesrepublik selbst gewann die Protestbewegung in den 1970er und 1980er Jahren an Breite. Der öffentliche Druck trug wesentlich dazu bei, dass viele Betroffene wieder eingestellt wurden.
Doch noch immer leiden viele dieser Betroffenen, nach oftmals langjähriger Arbeitslosigkeit, bis heute unter materiellen Nachteilen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Sie müssen befürchten, dass die politisch Verantwortlichen ihnen jegliche Wiedergutmachung verweigern werden, bis auch die Letzten verstorben sind.
In einigen Bundesländern wurden die Folgen des Radikalenerlasses aufgearbeitet. Der niedersächsische Landtag beschloss im Dezember 2016, dass politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen nie wieder Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein dürfen.
Nicht nur die unmittelbar Betroffenen haben immer noch mit den Auswirkungen zu kämpfen. Ein Klima der Angst und Einschüchterung hat seit damals die gesamte demokratische Kultur in Deutschland beschädigt.
Klaus Lipps, der Sprecher des Bundesarbeitsausschusses der Betroffenen, stellt dazu fest: "Ein Klima der Angst führte bei vielen Menschen zu politischer Zurückhaltung auch dort, wo demokratisches Engagement dringend erforderlich war. Ob faschistische und obrigkeitsstaatliche Einstellungen auch deswegen zugenommen haben - darüber kann spekuliert werden. Auch heute noch werden einige ehemals Betroffene wegen ihres demokratischen Engagements vom 'Verfassungsschutz' überwacht und als 'Linksextremisten' diffamiert. Das muss aufhören."
Mit einem öffentlichen Aufruf soll den Forderungen der Betroffenen Nachdruck verliehen und um Unterstützung geworben werden.
Es gilt,
- die ehemaligen Betroffenen zu rehabilitieren und angemessen zu entschädigen,
- die Auswirkungen des „Radikalenerlasses“ auf die demokratische Kultur wissenschaftlich zu untersuchen,
- die Rolle des „Verfassungsschutzes“ bei der Bespitzelung der Betroffenen aufzuarbeiten und Konsequenzen zu ziehen.
Geplant werden für 2022, das 50. Jahr des „Radikalenerlasses“, bundesweit Aktionen, Ausstellungen, sowie Film- und Kulturveranstaltungen, die über die Berufsverbote und ihre Auswirkungen informieren und den oben genannten Forderungen Nachdruck verleihen.
Viele der ehemaligen Betroffenen, mittlerweile Zeitzeugen, sind bereit, über ihre Erfahrungen und die Zeit der Berufsverbote zu sprechen.
Quelle: http://www.berufsverbote.de/