14.01.2022: Am 28. Januar 1972 verabschiedeten die Ministerpräsidenten unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) den "Radikalenerlass", der formell zum Ziel hatte, links- und rechtsextreme Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten oder zu entfernen – in Wirklichkeit aber fast ausschließlich Linke traf. Der "Radikalenerlass" verbaute Tausenden jungen Menschen den Berufseinstieg. Es gab rund 3,5 Millionen Anfragen beim Verfassungsschutz und 11.000 Berufsverbots-Verfahren. Auch heute taucht der "Verfassungsfeind" im Koalitionsvertrag von SPD-Grünen-FDP immer noch auf.
"Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können." Und später wird unter der Rubrik 'Innere Sicherheit' präzisiert: "Die in anderen Bereichen bewährte Sicherheitsüberprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern weiten wir aus und stärken so die Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche Einflüsse."
Wer nun glaubt, diese Passage wäre dem "Radikalenerlass" entnommen, den die sozial- liberale Koalition vor 50 Jahren auf den Weg gebracht hatte, täuscht sich. So steht es auf Seite 11 des Koalitionsvertrages der Ampelparteien, verfasst im November 2021. Zwar wird zunächst vom Rechtsextremismus als größter Bedrohung gesprochen, aber dann warnen die Koalitionäre in alter Tradition vor dem "Linksextremismus oder jeder anderen Form des Extremismus." (S.109) [1]
Wie damals wird der rechtlich völlig unbestimmte Begriff "Verfassungsfeind" verwendet. Und ausgerechnet der tief in der rechte Szene verstrickte Inlandsgeheimdienst ("Verfassungsschutz") soll vorschlagen dürfen, wer als "Verfassungsfeind" angesehen und entsprechend behandelt werden soll.
Irgendwie kann einem älteren politischen Beobachter dabei ein Déja-vu- Gefühl befallen. Für die Jüngeren an dieser Stelle deshalb ein kurzer Rückblick auf den staatlichen "Abwehrkampf" in den 70er Jahren gegen die "Verfassungsfeinde", die versucht hatten, insbesondere in den pädagogischen Bereich "einzudringen". Im Visier waren junge Leute, die von der APO politisiert worden waren und nun Lehrerinnen und Lehrer werden wollten.
"…mehr Demokratie wagen" - aber unter Ausschluss systemkritischer Linker
Dabei hatte es nach der Abwahl der Regierung unter Führung des Alt-Nazis Kiesinger im Jahre 1969 durchaus hoffnungsvoll begonnen. Versprach doch Bundeskanzler Willy Brandt "mehr Demokratie wagen" zu wollen. Doch schon kurze Zeit darauf erfolgte ein gehöriger Dämpfer: Im Widerspruch zur "Demokratieoffensive" verabschiedeten die Ministerpräsidenten der Länder unter dem Vorsitz von Brandt am 28. Januar 1972 den "Extremistenbeschluss" oder sogenannten "Radikalenerlass". Der Erlass stützte sich auf § 35 des Beamtenrechtsrahmengesetzes, wonach sich Beamte durch ihr gesamtes Verhalten jederzeit zur "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen und für deren Erhalt einzutreten hatten.
Die Folge war, dass die Bundesrepublik zwei Jahrzehnte lang eine extensive Berufsverbots-Politik gegen kommunistische, linksorientierte und radikaldemokratische Stellenbewerber*innen und Stelleninhaber*innen im öffentlichen Dienst führte.
Bereits 1971 hatte der sozialdemokratisch geführte Senat in Hamburg "linken" Lehramtsbewerber*innen den Weg ins Referendariat versperrt. Im gleichen Jahr lehnte es der sozialdemokratische Wissenschaftssenator in Bremen ab, das DKP-Mitglied Horst Holzer an die Universität Bremen zu berufen. Und der belgische Ökonom Ernest Mandel (der trotzkistischen IV. Internationale) durfte nicht Professor in Westberlin werden (zuständig: Senator Werner Stein, SPD); Innenminister Genscher (FDP) verbot ihm sogar die Einreise in die Bundesrepublik.
Nach diesem Vorlauf fanden sich dann am 28.1.1972 die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten und Bundeskanzler Brandt zur gemeinsamen Erklärung mit den Regierungschefs der unionsregierten Länder bereit: "Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Anstellungsvertrages.« [2]
Wer also Mitglied in der 1968 zugelassenen, also legalen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) war oder im Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW), oder Mitglied einer K-Gruppe, bekam unweigerlich Ärger. Mitunter war es schon ausreichend, mit Kommunist*innen zusammen zu wohnen, in einer Organisation oder Partei aktiv zu sein, in der auch Kommunist*innen mitmachten oder die mit Kommunist*innen zusammenarbeiteten (z.B. Sozialistischen Hochschulbund-SHB, VVN. DFG-VK). Auch wer an angeblich "linksextremistisch" beeinflussten Demonstrationen teilnahm, konnte rasch zum "Verfassungsfeind" gekürt und damit aus dem "Öffentlichen Dienst" ausgeschlossen werden.
Geschichte im Ersten: Jagd auf Verfassungsfeinde
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Betroffen von Berufsverboten aufgrund des Radikalenerlasses waren vor allem Lehrer*innen, Sozialpädagog*innen, Wissenschaftler*innen – aber auch Lokführer, Postbeamte und Friedhofsgärtner*innen.
Der Inlandsgeheimdienst "Verfassungsschutz" (VS) spielte bei all dem eine ganz herausragende Rolle: Denn der Radikalenerlass sah zwingend eine sogenannte "Regelanfrage" bei den VS-Behörden des Bundes und der Länder vor. Faktisch mutierte dieser demokratisch kaum zu kontrollierende Inlandsgeheimdienst damit zur Auswahl- und Einstellungsbehörde.
Der Radikalenerlass und die daraus resultierende Ausforschung führten im Laufe von zwei Jahrzehnten bundesweit zu
- ca. 3,5 Mio. Regelanfragen an den "Verfassungsschutz",
- zu etwa 11.000 Berufsverbots-Verfahren und
- etwa 1.500 konkreten Berufsverbots-Maßnahmen
- sowie zu 2.200 Disziplinarverfahren, zu ca. 1.250 Nichteinstellungen und mehr als 250 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst. [3]
In einer deutschen Traditionslinie
Der "Radikalenerlass" bildete die Fortsetzung einer spezifischen deutschen Tradition seit dem 19. Jahrhundert, beginnend mit den Karlsbader Beschlüssen des Jahres 1819. In ihnen hatten sich die deutschen Fürsten auf eine staatenübergreifende Verfolgung jeder Form von republikanischem und bürgerlich-demokratischem Gedankengut und Aktivismus geeinigt. In seltener Einheit beschlossen die sonst so zerstrittenen Territorialherrscher die Einschränkung der Pressefreiheit sowie die Überwachung der Universitäten und aller verdächtigen Vereine einschließlich der liberalen Turnvereine.
Zu Kaiser Wilhelms Zeiten kannte man die "Lex Arons", benannt nach einem Physiker und Erfinder einer Quecksilberdampflampe, der nicht Privatdozent bleiben durfte, weil er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war. 1933 verkündeten die Nazis das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" als wichtigen Baustein des faschistischen Herrschaftssystems. Nach 1949 dienten Berufsverbote in der Bundesrepublik dazu, Antifaschisten, die ab 1945 in den öffentlichen Dienst gelangt waren, zu verdrängen, während ehemalige Nazis wieder zu ihren Ämtern und Würden kamen und den Kalten Krieg zu führen halfen. In dem sogenannten Adenauer-Erlass aus dem Jahre 1950 wurden dreizehn Organisationen aufgeführt – elf linke und zwei faschistische –, deren Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen oder von diesem von vornherein fernzuhalten waren.
Mehr als 100 Linke und Demokraten in Schleswig-Holstein betroffen
Seit 1972 wurde die Praxis der Berufsverbote in Schleswig-Holstein unter den CDU-Regierungen besonders rigoros betrieben. Tausende mussten Anhörungsverfahren über sich ergehen lassen, mehr als einhundert Kommunisten, Linke, engagierte Demokraten gehörten zu den vom Berufsverbot Betroffenen. Einer der ersten war der Flensburger Grund-und Hauptschullehrer Bernd Göbel, der allein wegen seiner DKP-Mitgliedschaft nicht in den Schuldienst übernommen wurde. Dabei hatte Professor Mertineit von der Pädagogischen Hochschule Flensburg in einem Gutachten geschrieben: "Als ASTA-Vorsitzender und als Seminarmitglied gewann er Respekt und Vertrauen seiner Kommilitonen und bei den Mitgliedern des Lehrkörpers gerade durch seine Sachlichkeit, aber auch sein Eintreten für die Belange der Studentenschaft. Er verbindet Selbständigkeit mit Toleranz und einer liberalen und demokratischen Grundhaltung, die ihn vom Typ des Extremisten sehr deutlich unterscheidet." [4]
Nach ihm hagelte es Berufsverbote für Lehrer*innen, Sozialpädagog*innen, Erzieher*innen, Ingenieur*innen, Techniker*innen und Verwaltungsangestellte. Einige Fälle sind nachzulesen in einer online zugänglichen Broschüre der "Kieler Initiative gegen Berufsverbote und politische Unterdrückung" aus dem Jahr 1977. [5] Darin ist u.a. auch der Berufsverbots-Fall von Klaus Kuhl dokumentiert, heute vielen Leser*innen des Gegenwind als Historiker bekannt, der sich um das Andenken der Kieler Ereignisse während der Novemberrevolution und des Kapp-Putsches verdient macht.
Ein über die Landesgrenzen hinaus gehender spektakulärer Berufsverbote-Fall war der des Pinneberger "Briefausträgers" Gustav Steffen. Der Posthauptschaffner war 1984 von Bundespostminister Schwarz-Schilling (CDU) suspendiert worden, nachdem die Bundespost bereits 1979 erste disziplinarische Maßnahmen gegen Steffen ergriffen hatte, weil dieser im Vorjahr für die DKP bei der Kommunalwahl in Pinneberg angetreten war. Steffen hatte seit 1965 bei der Post gearbeitet und war 1976 zum Beamten auf Lebenszeit ernannt worden. Erst nach fast sieben Jahren des Berufsverbots , im Frühjahr 1991, durfte er seinen Dienst im Postamt wieder antreten.
Seit Beginn der Lehrerarbeitslosigkeit in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erwies es sich nicht mehr so nötig, dass sich die Einstellungsbehörden mit politischen Ablehnungsgründen herumschlagen mussten. Wurde jemand nicht genommen, lag es eben einfach am Überangebot an Bewerbungen. Um 1980 herum wurde zunächst in den sozialdemokratisch regierten, dann in allen anderen Ländern (zuletzt 1991 in Bayern) die sogenannte Regelanfrage wieder abgeschafft.
Die Regierungsübernahme durch die SPD unter Ministerpräsident Björn Engholm im Jahre 1988 läutete auch in Schleswig-Holstein das Ende der Berufsverbotspraxis ein. Auf eine "Regelanfrage" beim Verfassungsschutz bei der Übernahme ins Beamtenverhältnis wurde seither verzichtet. Karl Otto Meyer (SSW) stellte dazu am 21.9.1988 auf der Parlamentspressekonferenz fest: "Die Aufhebung des Radikalenerlasses erfüllt eine langjährige Forderung des SSW. Die Landesregierung steht gegenüber sämtlichen Betroffenen in der Pflicht, diese nicht nur vom Makel der Verfassungsfeindlichkeit zu befreien, sondern – sofern sie noch an einer Einstellung interessiert sind – ihnen auch zu einer Tätigkeit im Schuldienst zu verhelfen."
Ein Jahr darauf musste die Landesinitiative "Weg mit den Berufsverboten - Für Demokratie und Bürgerrechte" ernüchtert feststellen, dass "es der Landesregierung nach einem Jahr Regierungstätigkeit nicht gelungen ist, das Berufsverbotsproblem zu lösen. Einzelne Betroffene müssen feststellen: Eine Rehabilitierung findet nicht statt."
Diese Feststellung trifft leider auch 33 Jahre danach noch zu. Eine Aufarbeitung der Berufsverbotspraxis steht in Schleswig-Holstein immer noch aus.
Aufarbeitung überfällig
In den 90er Jahren, nach der "Wende", feierte die Berufsverbotspraxis für einen kurzen Zeitraum in neuem Gewand eine Art Wiederauferstehung. Über eine Million Menschen wurden aufgrund ihrer ehemaligen beruflichen Stellung oder politischen Betätigung in der DDR überprüft und im Ergebnis wurden weit über 10.000 Kündigungen im öffentlichen Dienst ausgesprochen. In erster Linie davon betroffen waren Lehrer*innen und Wissenschaftler*innen, aber auch Ärzt*innen und Juristen*innen.
Neben dieser Massen-Aktion gab und gibt es auch immer wieder Einzelfälle wie den des Antifaschisten Michael Csaszkóczy in Baden-Württemberg. Zur Last gelegt wurde ihm sein linkspolitisch-antifaschistisches Engagement u.a. in der linken Rechtshilfe-Organisation "Rote Hilfe". Deshalb musste er sich durch die Instanzen klagen bis sein Berufsverbot nach fast vier Jahren in zweiter Instanz endlich für rechtswidrig erklärt und Michael C. daraufhin 2007 in den Schuldienst eingestellt wurde.
Die Tradition der Berufsverbote ist in Deutschland also mittlerweile zwar nicht mehr gang und gäbe, aber: Der Knüppel kam in den Sack, ist aber noch da (siehe Ampel-Koalitionsvertrag).
Der Politikwissenschaftler Georg Fülberth dazu: "Es gibt eine funktionierende Selbstzensur, wenn man ins Berufsleben eintreten möchte. Dadurch haben die Berufsverbote von 1972 eine Langzeitwirkung: Sie trugen zur Zähmung der Intelligenz und einem fortwirkenden Duckmäusertum bei. Die intellektuellen Deserteure aus dem Bürgertum, die 1968 aufgebrochen waren, sollten durch sie heimgeholt werden, und das ist in großem Maße gelungen." [6]
Die Betroffenen der Berufsverbote sind niemals nur "Opfer" gewesen. Sie haben sich in ihrer Mehrzahl nicht gebeugt und Widerstand in einer breiten außerparlamentarischen Bewegungen geübt. Und doch: Für viele bedeutete das Berufsverbot ein einschneidendes Ereignis in ihrer Lebensperspektive. Einige Leser*innen werden das - sofern nicht selber betroffen – gewiss aus dem Freundes-und Bekanntenkreis kennen.
Während erste Landesregierungen mit der "Aufarbeitung der Schicksale im Zusammenhang mit dem sogenannten Radikalenerlass" begonnen haben (Niedersachsen, Bremen, Berlin) steht dies für die meisten Länder - so auch für Schleswig-Holstein und den Bund noch aus.
Anlässlich des 50. Jahrestages des Radikalenerlasses fordert der "Bundesarbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung der demokratischen Grundrechte":
"Es ist an der Zeit, den "Radikalenerlass" generell und bundesweit offiziell aufzuheben. Alle Betroffenen sind voll umfänglich zu rehabilitieren und zu entschädigen. Die Folgen der Berufsverbote und ihre Auswirkungen auf die demokratische Kultur müssen wissenschaftlich aufgearbeitet werden."
Und um auf die eingangs zitierte Formulierung im Ampel-Koalitionsvertrag zurück zu kommen. In einer Presseerklärung dazu schreibt der Bundesarbeitsausschuss:
"Um gegen nazistische Tendenzen vorzugehen, braucht es keinen neuen 'Radikalenerlass' oder 'Extremistenbeschluss', sondern die konsequente Umsetzung des Art. 139 GG und der §§ 86 und 130 StGB. Hiernach sind neonazistische Organisationen und die Verbreitung von Nazi-Gedankengut verboten.
Angesichts dessen ernüchtert die Lektüre des Koalitionsvertrages. Es wird nicht einmal der Versuch unternommen, diese Maßnahme mit den tatsächlich bedrohlichen rechten Unterwanderungsversuchen von Polizei und Bundeswehr zu begründen. Stattdessen werden in plumpster extremismustheoretischer Manier 'Rechtsextremismus, Islamismus, Verschwörungsideologien und Linksextremismus' gleichgesetzt.
Wir, Betroffene der Berufsverbotspolitik in der Folge des Radikalenerlasses von 1972, haben mit Entsetzen zur Kenntnis genommen, dass im Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition Passagen enthalten sind, die eine Wiederbelebung eben dieser Berufsverbotspolitik befürchten lassen." [7]
Günther Stamer, Kiel
Statements von Persönlichkeiten, die den Aufruf des "Bundesarbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote" unterstützen http://www.berufsverbote.de/index.php/Unterschriften-Statements.html |
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Jörg Hofmann (Erster Vorsitzender der IG Metall): "Der Radikalenerlass hat das innere Klima unserer Gesellschaft erheblich vergiftet. 50 Jahre danach sollte dieses Kapitel endlich im Sinne der Betroffenen abgeschlossen werden. Viele erleben es immer noch als Demütigung, wie der Staat mit ihnen umgegangen ist, von den persönlichen und materiellen Folgen ganz zu schweigen." |
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Prof. Dr. Stephan Lessenich (Direktor des Instituts für Sozialforschung IfS und Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt): "Der 'Radikalenerlass' und seine Nachwirkungen gehören zu den dunkleren Seiten der bundesdeutschen Geschichte. Die individuellen Lebensschicksale derer, die von Berufsverboten betroffen waren, sind eine Mahnung auch für die Gegenwart. Denn dass sich das politisch-intellektuelle Klima, in dem der damalige Erlass möglich war, nicht wieder einstellen könnte, ist gerade derzeit alles andere als ausgemacht. Daher gilt auch heute unverändert: Demokratische Grundrechte verteidigen!" |
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Michael Csaszkóczy (Lehrer, Heidelberg): "Als ich im Jahr 2003 wegen meinem Engagement in antifaschistischen Gruppen die erste Ladung zu einem Verhör über meine Verfassungstreue erhielt, hatte ich den Radikalenerlass für ein finsteres, aber abgeschlossenes Kapitel der BRD-Geschichte gehalten. Erst nach jahrelangem Prozessieren gegen die Bundesländer Baden-Württemberg und Hessen wurde mein Berufsverbot als Lehrer in zweiter Instanz aufgehoben. Ich habe gelernt, dass die gesetzlichen Grundlagen für die Berufsverbotepolitik nach wie vor in den deutschen Beamtengesetzen existieren und für ein Klima der Einschüchterung und des Duckmäusertums sorgen. Wenn wir 50 Jahre nach der Verabschiedung des Radikalenerlasses eine Aufarbeitung des damit verbundenen Unrechts fordern, dann geht es um sehr viel mehr als nur darum, Menschen, denen von diesem Staat übel mitgespielt wurde, endlich zu rehabilitieren. Es geht darum, einen offenen Diskurs über dringend notwendige gesellschaftliche Veränderung endlich wieder möglich zu machen." |
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Hermann Georg Abmayr zu seinem Dokumentarfilm "Jagd auf Verfassungsfeinde. Der Radikalenerlass und seine Opfer": "Der sogenannte Radikalenerlass gehört zu den Tabuthemen der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Die Jagd auf Verfassungsfeinde nahm teilweise inquisitorische Formen an. Dies traf vor allem die Generationen, die in den 70er und 80er Jahren erwachsen wurden. Viele haben sich deshalb vom Staat abgewandt. Ich meine, dass es an der Zeit ist, dieses dunkle Kapitel aufzuarbeiten und daraus zu lernen. Denn der Beschluss von 1972 hat das politische Klima vergiftet, und er hat zumindest Teile der protestierenden Jugend aus der Debatte um die Zukunft des Landes, um die Zukunft Europas und der Welt ausgeschlossen, und er hat sie damit weiter radikalisiert. Wir haben nach 1989 zu Recht viele dunkle Kapitel der DDR-Geschichte aufgearbeitet, aber oft so getan, als sei im Westen alles superdemokratisch gelaufen. Das ging mir gegen den Strich. Ich hatte das Thema deshalb in der ARD schon vor zehn Jahren vorgeschlagen. Damals ohne Erfolg. Jetzt, 50 Jahre nach dem Erlass, hat der Saarländische Rundfunk (SR) zugegriffen und ARD-Chefs haben zugestimmt." |
Anmerkungen
[1] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf
[2] Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 1972, S. 342
https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_mbl_show_pdf?p_jahr=1972&p_nr=20
[3] Rolf Gössner: https://ilmr.de/2020/berufsverbote-politik-der-1970er-80er-jahre-und-kein-ende-ein-dunkles-nicht-aufgearbeitetes-kapitel-bundesdeutscher-geschichte
[4] Zit nach: Schwarzbuch: CDU-Politik in Schleswig-Holstein. Eine Dokumentation der DKP Schleswig-Holstein, März 1988
[5] https://www.mao-projekt.de/BRD/NOR/S-H/Kiel_REP_KIBUPU_Berufsverbote.shtml
[6] Georg Fülberth, junge welt 11.09.19
[7] Klaus Lipps für den Bundesarbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung der demokratischen Grundrechte, 26.11.2021. www.berufsverbote.de
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