Europa

Tuerkei Erdogan Istanbul Konvention31.03.2021: Proteste gegen den Austritt der Türkei aus der "Istanbul-Konvention" zum Schutz von Frauen ++ europaweit Solidaritätsaktionen ++ Europäische Union verurteilt Entwicklungen in der Türkei, will aber Zusammenarbeit ausbauen und bietet Verhandlungen über Zollunion an

 

"Jin, Jiyan, Azadî! Frauen, Leben, Freiheit!" - mit diesem Ruf protestieren die Frauen in der Türkei gegen den Ausstieg der türkischen Regierung aus dem Abkommen der Istanbul-Konvention. Seit in einer Nacht und Nebel-Aktion am 20. März das Erdoğan-Regime den Ausstieg per Dekret verkündet hat, reißen die Demonstrationen in der Türkei nicht ab.

Istanbul Konvention Protest Tuerkei

Istanbul-Konvention

Die 2011 vom Europarat vorgelegte Konvention richtet sich gegen die Gewalt an Frauen. Dabei soll insbesondere jede Form der häuslichen Gewalt als Verbrechen eingestuft werden, als präventive Maßnahmen verpflichten sich die unterzeichnenden Staaten öffentliche Mittel bereitzustellen und Frauenhäuser, Beratungsstellen und rechtliche Hilfen zu finanzieren. Auch die Geschlechtergerechtigkeit soll durchgesetzt und jede Form von Diskriminierung bekämpft werden.

Bisher wurde die Konvention von 45 Staaten und der Europäischen Union (EU) unterzeichnet. 34 Länder haben den Vertrag ratifiziert, die Türkei gehörte zu den ersten Unterzeichnern.

Tuerkei HDP FrauenratSeit Bekanntwerden der Vertragskündigung wurde umgehend zu Protesten von der Plattform "Wir werden Frauenmorde stoppen" (KCDP) und dem Frauenrat der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aufgerufen. Auf den kürzlich stattgefundenen Newroz-Feiern, fanden ebenfalls Informations- und Protestbekundungen statt.

Auch die türkische Opposition reagierte mit deutlichen Worten: "Sie können 42 Millionen Frauen nicht über Nacht per Dekret ihre Rechte entziehen", empörte sich der Chef der kemalistischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, in einer Videobotschaft auf Twitter.

Der HDP-Frauenrat erklärte: "Mit dieser Entscheidung hat die Männerkoalition aus AKP und MHP ein weiteres Mal ihre Frauenfeindschaft amtlich bestätigt. …... Die Istanbul-Konvention ist 2011 auf gemeinsamen Beschluss aller Parlamentsfraktionen ratifiziert worden. Ihre Abschaffung ist ein Putsch der männlichen Herrschenden."

In der Türkei erfahren die Frauen bei ihren Demonstrationen die Einschüchterungsversuche der Staatsgewalt. Eine Demonstrationszug im Istanbuler Stadtteil Kadiköy wurde von einem massiven Polizeiaufgebot gestoppt. Dazu riefen die Frauen: "Stoppt nicht die Frauen, sondern die Mörder!"

Erdoğan fühlte sich genötigt, den Austritt zu rechtfertigen und tat dies nach seinem Freitagsgebet mit den Worten, es handele sich lediglich um "ein Stück Papier".

Die Frauenaktivistin Fidan Ataselim von der KCDP erklärte die Annullierung der Konvention per Präsidialdekret als verfassungswidrig. "Die Istanbul-Konvention ist immer noch gültig. Die Verfassung, die vom Präsidenten ebenfalls nur als ein Stück Papier betrachtet wird, ist verbindlich für unser friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft. Alle müssen sich daran halten. Die Istanbul-Konvention ist für Frauen so etwas wie ein Impfstoff gegen männliche Gewalt. Wir werden jeden Tag Rechenschaft fordern von denjenigen, die etwas anderes behaupten."

Internationaler Protest unterstützt die Frauen in der Türkei.

Istanbul Konvention Protest MilanoDas Mailänder Bündnis "Non Una di Meno" (Keine weniger) führte während der Demonstration die chilenische "Las Tesis"-Performance "El violador eres tu" (Der Vergewaltiger bist du) auf, hatte sie jedoch abgewandelt und den türkische Präsidenten einbezogen. Auf der Kundgebung erklärte Hazal Koyuncuer vom Kurdistan-Komitee, Erdoğan wolle sich mit dem international kritisierten Schritt die Unterstützung islamischer Kreise im Inland sichern. Die Aktivistin erklärte, dass der zurückhaltende Umgang der EU mit dem türkischen Regime dieses zu Menschenrechtsverletzungen ermutigt.

Auch in der Schweiz gibt es Protest. Für Basels starke Alternative (BastA!) erklärten die Ko-Vorsitzenden Sina Deiss und Heidi Mück am Montag, das seit Jahren nicht nur die Kriminalisierung von oppositionellen Parteien wie der HDP, sondern zunehmend auch die Verfolgung von Frauenrechtsaktivist*innen auf der politischen Agenda der türkischen Regierung steht.

Sie wiesen gleichzeitig auch auf die möglichen Folgen des Austritts hin:
"Der Ausstieg der Türkei aus der Konvention ist ein katastrophales Zeichen für die Frauen in der Türkei aber auch für alle Menschen in Europa, denn die rechtsnationalen Regierungen von Ländern wie Ungarn und Polen haben bereits ähnliche Äußerungen bezüglich eines Austritts aus der Konvention gemacht". Reaktionäre Kräfte auf der ganzen Welt wollten Frauen an die "drei K" binden - Kinder, Küche und Kirche. "Dazu ist ihnen jedes noch so gewaltvolle Mittel recht", so Heidi Mück. "Seit die AKP an der Regierung ist, hat sich die Gewaltrate an Frauen vervielfacht. Mit dem Austritt aus der Konvention bauen sie sich den rechtlichen Rahmen für ihre Gewalt an unseren Körpern. Das dürfen wir nicht zulassen" ergänzt Sina Deiss.Istanbul Konvention Protest HH

In Deutschland gibt es in vielen Städten Protestaktionen. Es wird die Erwartung an den EU gestellt konsequente Schritte gegen die Türkei zu gehen. Gefordert wird die Einstellung wirtschaftlicher und politischer Unterstützung, sowie ein sofortiger Waffen- und Rüstungsstopp. "Wir schweigen nicht, wir fürchten uns nicht, wir gehorchen nicht! Wir werden weiter auf den Straßen sein und an der Seite der Frauen und FLINTA* in der Türkei stehen! Die Istanbul Konvention ist unser Recht!", so Redner*innen.

Gerade die Türkei, wo 2020 mindestens 409 Frauen getötet wurden, habe das Manifest, "das die Vision einer Gesellschaft vertritt, in der Frauen nicht den Männern untergeordnet sind", bitter nötig, erklärte Cornelia Möhring, frauenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.

Bundesregierung: "die falschen Zeichen", aber "im Dialog bleiben"

Die Frauen- und Familienministerin der deutschen Bundesregierung Franziska Giffey (SPD) schreibt:
"Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention, dem wichtigsten völkerrechtlichen Instrument, um Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu bekämpfen und den Betroffenen Schutz und Unterstützung zu bieten, hat mich erschüttert. Damit wird gerade den Frauen in der Türkei ein wichtiges Instrument im Kampf gegen häusliche Gewalt entzogen. Denn eins ist klar: Frauenrechte sind Menschenrechte - und der Schutz von Frauen vor Gewalt muss in Europa oberste Priorität haben."

Als hätte sie niemals von den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, von der Folter in den Gefängnissen dort etwas gehört. Der Deutsche Frauenrat hingegen fordert die Bundesregierung und die EU auf, ihre Beziehungen zu Ankara zu überdenken. Weshalb sich die Ministerin für Frauen nicht mindestens dieser Forderung anschließt, bleibt ihr Geheimnis.

Dem deutlichen Protest europäischer Frauen und aus Bündnissen, fügt der bundesdeutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) seine Sicht hinzu. Er sieht in dem Verbotsantrag gegen die prokurdische Oppositionspartei HDP und dem Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen gegen Gewalt die "absolut die falschen Zeichen", bewertet jedoch im gleichen Atemzug die Entspannung der Lage im östlichen Mittelmeer als positiv. Dort hatte die Türkei zuletzt die EU-Länder Griechenland und Zypern mit umstrittenen Erdgaserkundungen provoziert. Und Maas versprach: "Wir werden weiterhin uns darum bemühen, im Dialog zu bleiben" und diesen auch nutzen, um die falschen Signale anzusprechen.

Der Außenminister Luxemburgs, Jean Asselborn, nennt es "absolut unverständlich", dass ein Land, in dem es täglich weibliche Todesopfer häuslicher Gewalt gebe, die Konvention auflöse und meint "Das ist ein Weg zurück ins Mittelalter". Der US-Präsident Joe Biden bezeichnete den Schritt als "sehr enttäuschend". Und der Europarat hat die "verheerenden Nachrichten" verurteilt und einen "großen Rückschlag" für die Bemühungen, Frauen zu schützen genannt.

Doch dies sind letzten Endes nur warme Reden und anteilnehmendes Verständnis für die Frauen, die nun auf die Straße gehen.

EU "besorgt", aber lockt mit Zoll-Union

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell wollte in Vorbereitung des EU-Gipfels am 25./26. März einen "ausgewogenen Ansatz", einen "Ansatz mit Zuckerbrot und Peitsche" für die Zukunft der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. Letzten Endes sind die EU-Staats- und Regierungschefs aber dem Ansinnen des Ungarn Orbán und dem bundesdeutschen Außenministers gefolgt: es gibt "viel Zuckerbrot" und "keine Peitsche" für die Türkei. Die EU bleibt nicht nur im Dialog mit der Türkei, sondern ist dem Erdoğan-Regime weit entgegengekommen und hat damit, wieder einmal, Erdoğans repressive und aggressive Politik gestärkt.

Zwar wurden "gezielte Angriffe auf politische Parteien und Medien" als "schwere Rückschläge für die Menschenrechte" genannt, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Erdoğan jedoch, bis hin zu finanzieller Unterstützung, demonstriert pures Entgegenkommen. Von Sanktionen gegen die Türkei redet niemand mehr. Im Gegenteil: Die Staats- und Regierungschefs forderten den Ministerrat auf, mit der Arbeit an einem Verhandlungsmandat für die EU-Kommission über eine Zollunion mit der Türkei zu beginnen.

Dies ging sogar so weit, dass die EU sich als "sehr dankbar" zeigte, da der Konflikt um Gas-Bohrungen im östlichen Mittelmeer durch die Türkei entspannt wurde. Bundeskanzlerin Angela Merkel meinte, dass trotz "Sorge" über innenpolitische Entwicklungen und "tiefer Meinungsverschiedenheiten" die EU glaube, dass "Sprachlosigkeit keine Antwort ist".

Martin Schirdewan, EU-Abgeordneter (DIE LINKE) sagte zu den Ergebnissen des Gipfels: Anstatt "Solidarität mit der türkischen Bevölkerung und der demokratischen Opposition" zu üben, bereite die EU "einen neuen Pakt der Schande mit dem Erdoğan-Regime" vor.

Ungeachtet der Aushebelung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten reisen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am Dienstag kommender Woche in die Türkei. Wie EU-Sprecher Barend Leyts am Montag mitteilte, ist dort ein Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan geplant.

Deshalb ist es umso dringender, den Druck der Frauen auf das Erdoğan-Regime zu erhöhen! Das bedeutet auch, die Politiker*innen in Europa aufzufordern, nicht nur warme Worte zu spenden, sondern sich deutlich gegen die Politik Erdoğans zu äußern. Denn wenn es bei dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention bleibt, dann ist es absehbar, dass auch andere Regierungen wie in Polen und Ungarn, dies als Blaupause nehmen. Angekündigt wurde das "Nachdenken über den Austritt" aus diesen Ländern bereits seit längerem.

Es zeigt: Ein Zurückdrehen der Frauenrechte in einem Land, hat Folgen für die Lebensbedingungen der Frauen in allen Ländern! Grund genug gemeinsam aktiv und solidarisch zu sein!

Jin, Jiyan, Azadî! Frauen, Leben, Freiheit!

Istanbul Konvention Protest Nbg

 

txt: Bettina Jürgensen


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