12.04.2023: Transatlantiker empört über Emmanuel Macron. Dieser fordert Souveränität Europas statt Vasallentreue zu den USA ++ Macron: Europa darf sich nicht in die Konfrontation zwischen China und den USA über die Taiwan-Frage hineinziehen lassen ++ Idee einer europäischen strategischen Autonomie in vielen Aspekten
Die Regierung von Emmanuel Macron hat die Unterstützung der Regierungen und Medien der europäischen Nachbarn bei seiner unsozialen Rentenreform, auch wenn er diese unter Umgehung des Parlaments und mit massivem Polizeieinsatz gegen den breiten Widerstand der Bevölkerung durchsetzt. Doch jetzt schäumen die Transatlantiker in Brüssel, Berlin und insbesondere in Osteuropa vor Wut über den französischen Staatspräsidenten.
"Macron scheint von allen guten Geistern verlassen", sagte CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen. "Macron isoliert sich in Europa, er schwächt die Europäische Union und er konterkariert ja das, was die Präsidentin der europäischen Kommission in Peking gesagt hat", setzte Röttgen hinzu. Für den EU-Abgeordnete der Grünen, Reinhard Bütikofer, sind die Äußerungen von Macron ein "Desaster". Für Leonardo Pape von der taz sendet Macron ein "fatales Signal" an Taiwan. [1]
Dabei hatte Macron "nur" hervorgehoben, dass Europa strategische Autonomie auf zentralen Gebieten und eine eigene Strategie im Umgang mit China und dem Ukraine-Konflikt benötigt.
Macron: strategischen Autonomie Europas
Bei seinem dreitägigen Staatsbesuch in China und in einem Interview, das Macron auf dem Rückflug gegeben hatte, warnte er Europa davor, in Krisen zu geraten, die es nichts angingen. Er erläuterte die Idee einer europäischen strategischen Autonomie in vielen Aspekten. Er sagte, Europa müsse seine Abhängigkeit von den USA verringern und vermeiden, in die Konfrontation zwischen China und den USA über die Taiwan-Frage hineingezogen zu werden. Das Schlimmste wäre, wenn sich die Europäer als Mitläufer dem amerikanischen Rhythmus und einer chinesischen Überreaktion anpassen müssten. Er forderte Europa auf, sich stärker für strategische Autonomie zu engagieren, um in der globalen Krise nicht zum "Vasallen" einer Großmacht zu werden.
Macron warnte sogar vor der "Extraterritorialität des US-Dollars" und wies damit darauf hin, dass er nicht nur eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen China und Frankreich will, sondern auch, dass Europa nicht in eine "Block-gegen-Block-Logik" verfallen dürfe, sondern ein "dritter Pol" neben China und den USA sein soll. "Wenn sich der Brand des Duopols (China und die USA, Anm. d. Red.) beschleunigt, werden wir nicht mehr die Zeit oder die Mittel haben, unsere strategische Autonomie zu finanzieren, und wir werden zu Vasallen, während wir der dritte Pol sein können, wenn wir einige Jahre Zeit haben, ihn aufzubauen", so der Elysée-Chef.
Eine programmatische Aussage, die bei einem bedeutenden und wichtigen Teil der EU-Führung und der US-Regierung auf Widerstand stößt. Diese wollen eine Abkopplung von China und stilisieren die Konkurrenz zwischen den USA und China zu einem "Systemgegensatz", um die westlichen Länder zur Eindämmung China zusammenzuschweißen.
US-Senator Marco Rubio veröffentlichte ein über zweiminütiges Video, in dem er wiederholt in Frage stellte, ob Macron für ganz Europa spreche, und erklärte, wenn Europa in der Taiwan-Frage nicht Partei ergreife, würden sich die USA auf die "Bedrohungen durch China" konzentrieren und "ihr kümmert euch um die Ukraine und Europa". Er forderte auch, dass Frankreich oder Europa schnell eine Antwort geben sollten. Diese unverhohlene Nötigung zeigt den starken Wunsch der USA, Europa zu kontrollieren.
Deshalb sehen Washington – Demokraten wie Republikaner - und die europäischen Transatlantiker in Macrons Betonung der europäischen strategischen Autonomie eine Form von "Verrat", und bestätigen damit Macrons Aussage, dass die strategische Autonomie "der Kampf Europas" ist. Macron hatte schon 2019 den Zorn der USA und der NATO auf sich gezogen, als er die mangelnde Koordination zwischen den USA und ihren NATO-Partnern bei strategischen Beschlüssen kritisierte und der Allianz den "Hirntod" bescheinigte.
Macrons China-Besuch habe "ein großes Loch in den von den USA errichteten ideologischen Eisernen Vorhang gerissen", kommentiert die chinesische Zeitung Global Times. [2]
Jedenfalls setzte Macron in Peking deutlich andere Akzente als EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, die er nach Peking mitgenommen hatte. Während die eingefleischte Transaktlantikerin von der Leyen Chinas Regierung vor Waffenlieferungen an Russland im Krieg gegen die Ukraine und auch vor einem möglichen Angriff auf Taiwan warnte - in einer Grundsatzrede hatte von der Leyen vor der Chinareise einen deutlich härteren Kurs gegenüber China angekündigt – stand für den französischen Staatschef der Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen im Vordergrund. (siehe auch kommunisten.de: "Die EU bei Xi: ein bisschen Ukraine, eine Menge Geschäfte")
Macron bekräftigt in Den Haag seine Vorstellung eines souveränen Europas
Es wurde erwartet, dass Macron während seines gestrigen Staatsbesuchs in den Niederlanden (11.4.) seine Äußerungen über Taiwan erklärt bzw. korrigiert. Doch Macron sprach weder den Taiwan-Konflikt noch die dadurch ausgelöste internationale Kontroverse an, hielt aber an seiner Forderung nach mehr europäischer Souveränität fest. Vor dem Nexus Instituut, einer niederländischen Denkfabrik in Den Haag, präsentierte er seine Überlegungen über die Behauptung von Souveränität Europas, die auch zu einem "Recht auf Formen des Protektionismus" werden kann, wenn die wirtschaftliche und strategische Sicherheit in Gefahr ist.
In seinem Vortrag bezog sich Macron ausdrücklich auf seine Rede in der Pariser Sorbonne im September 2017, in der er für mehr Eigenständigkeit in der Wirtschaftspolitik und eine gemeinsame europäische Verteidigung, unabhängig vom großen Partner USA, eingetreten ist. "Damals hielten viele die Forderung nach Europas Souveränität für eine französische Wunschvorstellung", sagte er jetzt.
Ohne ein Land konkret zu nennen betonte Macron: "Für Souveränität einzutreten bedeutet nicht, unsere Verbündeten abzuweisen. Es heißt, dass wir in der Lage sein müssen, unsere Partner zu wählen und unser eigenes Schicksal zu gestalten, anstatt - ich würde sagen - nur Zeugen der dramatischen Entwicklung dieser Welt zu sein."
Er will gegensteuern: durch abgestimmte staatlich gesteuerte Industriepolitik und einen selbstbewussten Schutz europäischer Interessen.
Die Covid-Pandemie, die die Schwächen Europas bei der Produktion von Medikamenten und sogar Masken aufzeigte, der Krieg in der Ukraine, der die übermäßige Abhängigkeit von Russlands fossilen Energien belegt, habe die Unzulänglichkeiten des europäischen Projekts bewiesen: "Wir müssen die Abhängigkeit verringern, um die europäische Identität und Souveränität zu stärken", sagte Macron und forderte "eine neue Strategie", die die Klimawende, "die Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Energien" und die Industriepolitik betrifft, um "mehr Autonomie zu haben" und "unsere Unabhängigkeit zu stärken".
Ziel sei es, die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, basierend auf "fünf Säulen": Binnenmarkt, Industriepolitik, Schutz, Gegenseitigkeit, Zusammenarbeit. Eine "neue Wirtschaftsdoktrin", für Vollbeschäftigung, zur Finanzierung unseres Sozialmodells, zur Bekämpfung des Klimawandels und für mehr Souveränität. Die EU, die lange Zeit als Pflanzenfresser in einer Welt von Fleischfressern bezeichnet wurde, müsse die Zähne zeigen und, so Macron, "Gegenseitigkeit" anstreben, nicht nur intern, sondern auch mit Drittländern, für "fairen Handel": Laut Macron sollte die EU keine Freihandelsabkommen mehr mit Ländern unterzeichnen, die "die Pariser Klimaabkommen nicht respektieren".
Macron sprach auch auf den Inflaction Reduction Act der Biden-Regierung an, der protektionistische Maßnahmen zur Verteidigung us-amerikanischer Interessen vorsieht und der für die Europäische Union zu einer Verlagerung von Industrien führen könnte, die von den Vorteilen und niedrigeren Kosten der Energie in den USA angezogen werden. "Wir müssen selbst entscheiden, anstatt uns den Regeln anderer zu unterwerfen", forderte der französische Präsident.
In der EU gibt es jedoch nach wie vor große Meinungsverschiedenheiten, auch über die Re-Industrialisierung Europas. Die engen Wirtschaftsbeziehungen und Kapitalverflechtungen zwischen der EU insb. Deutschlands und den USA; die Herausbildung transnationaler Monopole, die ihre Standbeine in den USA wie auch in der EU haben; die Transnationalisisierung staatlicher Strukturen unter Dominanz der USA und vermittelt von transatlantisch sozialisierten Politiker:innen der Global Young Leaders [Annalena Baerbock (Grüne), Hubertus Heil (SPD), Cem Özdemir (Grüne) und Jens Spahn (CDU) sind ebenso Absolventen wie JustinTrudeau (Kanada) oder Sanna Marin (Finnland) und viele andere dieser Generation]; die enge politische und militärische Bindung insb. der osteuropäischen Mitgliedsländer an die USA machen eine "strategische Autonomie" der Europäischen Union nicht gerade wahrscheinlich.
Auch in Den Haag verfolgten den französischen Präsidenten die innenpolitischen Auseinandersetzungen. Kaum hatte er für seine Rede das Podium betreten, sah sich Macron mit Protesten gegen die Rentenreform und die mangelhaften Maßnahmen Frankreichs gegen die Erhitzung der Erde konfrontiert. Ein Aktivist entrollte ein Transparent gegen den "Präsidenten der Gewalt und der Heuchelei", die Demonstrant:innen fragten "Wo ist die französische Demokratie?", erinnerten an "die nicht eingehaltene Klimakonvention" und forderten, "auf den Platz zu hören", der die Rentenreform ablehnt.
Fußnoten
[1] taz, 11.4.2023: "Macrons fatales Signal"
https://taz.de/Chinas-Militaeruebungen/!5924864/
[2] Global Times, 11.4.2023: "Macron's attitude shows Europe's pursuit of dignity, self-interest"
https://www.globaltimes.cn/page/202304/1288851.shtml]