30.11.2023: Nigers Militärregierung hat Anti-Migrationsgesetz aufgehoben, das Flüchtlinge vor den Festungsmauern der EU abfangen sollte: Aufhebung einer "kolonialen Fessel" ++ Gesetz machte ganze Region arm und zwang Migrant:innen auf tödliche Fluchtrouten ++ Europäische Union und Bundesregierung über Aufhebung des Gesetzes "besorgt"
Nigers Militärregierung hat ein Anti-Migrationsgesetz aufgehoben, das den Transport von Migrant:innen von Agadez nach Libyen und Algerien zur Weiterreise nach Europa unter Strafe stellte und so dazu beigetragen hat, die Migration von Westafrikaner:innen nach Europa einzudämmen.
Das Gesetz, das den Transport von Migrant:innen durch Niger illegal machte, wurde am 26. Mai 2015 beschlossen. "Ein Gesetz, das auf Druck der Europäischen Union verabschiedet worden war", betont der aus Niger stammende Rahmane Idrissa, Wissenschaftler an der Universität Leiden.
Das Gesetz kriminalisiert den Transport von Nicht-Nigerianer:innen in den Niger oder aus dem Niger heraus, um einen finanziellen oder materiellen Gewinn zu erzielen. Dies wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren und einer Geldstrafe zwischen einer und fünf Millionen westafrikanischen Francs (1.520 bis 7.601 Euro) geahndet.
Die neue nigrische Regierung, die im Juli durch einen Staatsstreich an die Macht kam, hat das Gesetz am Samstag (25.11.) aufgehoben und dies am Montagabend im staatlichen Fernsehen bekannt gegeben. Der neue Erlass sieht auch vor, dass Verurteilungen, die auf der Grundlage des Gesetzes von 2015 ergangen sind, "aufgehoben werden".
Regierung überprüft Beziehungen
Die Regierung überprüft ihre Beziehungen zu ehemaligen westlichen Verbündeten, die mit Sanktionen das Land destabilisieren wollen und mit einer Militärintervention drohen. Zudem versucht die Militärregierung die Unterstützung im eigenen Land zu stärken, auch in den nördlichen Wüstengemeinden, die am meisten von der Migration profitiert hatten.
Nach der Regierungsübernahme durch die Militärs Ende Juli hat die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) als Anhängsel der westlichen Politik Wirtschaftssanktionen gegen Niger verhängt und mit einer Militärintervention gedroht. Der abgesetzte Präsidenten war ein Garant des Westens in einem Gebiet, das durch die Wagner-Söldner unter russischem Einfluss steht. (siehe kommunisten.de: "Besser die Russen, die den Niger nie so ausgebeutet haben wie die Franzosen")
Die neue nigrische Regierung rief den geballten Zorn der EU und besonders des früheren Kolonialmacht Frankreich hervor, als sie den Abzug der rund 1.500 französische Soldaten verlangte. Nachdem sich Frankreich erst sträubte, wird jetzt erwartet, dass die französischen Truppen bis Ende des Jahres vollständig aus dem Niger abgezogen sein werden.
Ende September gründeten die drei westafrikanische Länder Niger, Mali und Burkina Faso eine Allianz gegen Neokolonialismus und Imperialismus, die Allianz der Sahel-Staaten (AES), um eine "Architektur der kollektiven Verteidigung und des gegenseitigen Beistands zum Wohle der Bevölkerungen zu schaffen". (siehe kommunisten.de: "Burkina Faso – Mali – Niger: Allianz gegen Neokolonialismus und Imperialismus")
Hunger als Waffe
Nach dem Militärputsch, der auf große Zustimmung der Bevölkerung stieß, schloss die ECOWAS die Grenzen zu den Nachbarländern Benin und Nigeria. Lebensmittel, Medizin und andere lebensnotwendige Güter können nicht weitertransportiert werden. Zwar sind die Grenzen zu Mali, Burkina Faso und dem Tschad geöffnet, aber die Haupt-Handelsrouten gehen über Benin und Nigeria. Für die Einwohner der Grenzregion, die früher vom grenzüberschreitenden Handel lebten, verschlechterte sich die Lage einschneidend. Zudem kappte Nigeria die Stromversorgung. Die Sanktionen haben eine Inflation von mehr als 27 Prozent sowie eine Verknappung bestimmter Waren, unter anderem Medikamente, zur Folge. Die Sanktionen gegen eines der am ärmsten gemachten Länder der Welt bringen Millionen Menschen in große Not.
Die Europäische Union begrüßte die Drohungen und Sanktionen der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS gegen die neuen Machthaber im Niger. "Die Europäische Union unterstützt alle Maßnahmen, die die ECOWAS als Reaktion auf den Staatsstreich ergriffen hat und wird sie rasch und entschlossen fördern", erklärte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und kündigte die "sofortige Einstellung der Wirtschaftshilfe" sowie die Aussetzung der Programme für die Sicherheitskooperation in dem Land an. Die gleiche Haltung wurde von Großbritannien und den USA eingenommen.
Am 23. Oktober beschloss der EU-Rat Maßnahmen zur Verhängung von Sanktionen gegen Niger.
Anti-Migrationsgesetz
Parallel zum Beschluss des Anti-Migrationsgesetz schloss die Europäische Union eine Arbeitsvereinbarung zwischen Niger und der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Im Gegenzug dafür, dass Niger Flüchtlinge von der EU fernhielt, richtete die EU einen fünf Milliarden Euro schweren Treuhandfonds für Afrika ein. Mehr als eine Milliarde Euro gingen zwischen 2015 und 2020 an Niger, zwischen 2021 und 2024 soll Niger EU-Mittel in Höhe von 503 Millionen Euro erhalten. Die Mittel werden überwiegend für die Grenzsicherung und für Projekte zur Migrationssteuerung eingesetzt.
Verarmung einer Region …
Nachdem das Gesetz nach den Wahlen im Jahr 2016 in Kraft getreten war, waren die Auswirkungen in der gesamten Region zu spüren, da eine riskante, aber relativ sichere und freiwillige Migrationsroute plötzlich verschwand.
Durch seine zentrale Lage ist Niger der Korridor für Migrant:innen aus Subsahara-Staaten wie dem Sudan, aber auch Nigeria oder Burkina Faso. Die Fluchtrouten führen sämtlich durch die Sahara.
Das harte Durchgreifen gegen Migrant:innen zwang Flüchtlinge auf lebensgefährliche Routen, und Existenzen, die vom jahrhundertealten Migrationsgeschäft lebten, wurden durch das Verbot zerstört. Geschäfte, Restaurants und andere Unternehmen des Gastgewerbes, die von der Wanderungsbewegung abhängig waren, hatten niemanden mehr, den sie beliefern konnten, und standen vor dem Nichts.
"Es war eine wirtschaftliche Katastrophe für den Norden Nigers in einer Zeit extremer regionaler Verwundbarkeit, die eine Migranten-Transportindustrie dezimierte, die einen Großteil der abgelegenen, vernachlässigten Region ernährte und die im Allgemeinen gut reguliert war, damit die Migranten die gefährliche Wüstenüberquerung mit Sicherheitseskorten und staatlich lizenzierten Fahrern machen konnten", sagte Hannah Rae Armstrong, eine ehemalige Sahel-Analystin der International Crisis Group.
https://youtu.be/gQzDRdSsAlE
Niger: Europa Migration | Menschen und Macht
Tote und Verschwundene
Doch während Diplomaten in Brüssel mit rückläufigen Zahlen zur Migration nach Europa durch die Sahelzone werben, sagen Expert:innen, dass dies nicht die Realität widerspiegelt.
… und tödliche Fluchtrouten
"Um den Fallen der Polizei an den Kontrollpunkten und den Militärpatrouillen vor Ort zu entgehen, haben sich die Flüchtlingshelfer neue und gefährlichere Routen an anderen Stellen der Grenze ausgedacht ... und die Folgen sind Tote und Verschwundene in der Wüste mit Hunderten von Verhaftungen von Fahrern und Flüchtlingshelfern", so Azizou Chehou, Koordinator von Alarm Phone Sahara, einer in Agadez ansässigen NGO, die Migrant:innen in der Sahelzone und der Sahara hilft.
Im Mai 2023 veröffentlichte die Organisation Border Forensics eine Studie mit dem Titel "Mission erfüllt?" (https://www.borderforensics.org/investigations/niger-investigation/). In dieser Studie wird am Beispiel Niger belegt, wie die Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union dazu führt, dass weitab der Festung Europa Menschen ihr Leben verlieren.
Seit dem Erlass des Anti-Migrationsgesetzes 2015-036 ist die Zahl der in der Wüste gestorben oder dort vermissten Migrant:innen deutlich gestiegen.
"Alle Akteure – ob aus Niger, Europa, den UN-Organisationen oder anderen -, die an der Ausarbeitung und Umsetzung des Gesetzes beteiligt waren, sollten für den vermehrten Tod und das Leiden von Migranten, das es verursacht hat, zur Rechenschaft gezogen werden«, sagt Rhoumour Ahmet Tchilouta, einer der leitenden Ermittler von Border Forensics bei diesem Projekt.
Aufhebung einer "kolonialen Fessel"
Die Militärregierung begründete die Abschaffung des Anti-Migrationsgesetzes 2015-036 damit, dass es "bestimmte, an sich reguläre Aktivitäten" zum "illegalen Handel" erkläre und unter Strafe stelle. Zudem sei das Gesetz "unter dem Einfluss gewisser ausländischer Mächte verabschiedet" worden.
"Die Abschaffung dieses Gesetzes, das als koloniale Fessel für Nigers Freiheit angesehen wird, stärkt Nigers Souveränität. Für die Regierung ist dies Teil ihrer ideologischen Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit", meint der Afrika-Analyst Nathaniel Powell.
Mit der Aufhebung des Gesetzes und der achtjährigen "Sicherheitspartnerschaft" zwischen der Europäischen Union und Niger wird dem zunehmend angespannten diplomatischen Patt zwischen der nigrischen Regierung und den westlichen Ländern des kollektiven Imperialismus eine weitere Ebene hinzu gefügt.
"Die EU hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sicherzustellen, dass das Gesetz mit den Anreizen verabschiedet wird. Die Aufhebung des Gesetzes wirft also alles über den Haufen", heißt es von Analysten der politischen Beziehungen zwischen der EU und Afrika.
Europäische Union und Bundesregierung "besorgt"
So wird die Aufhebung des Gesetzes denn auch von der Europäischen Union scharf kritisiert. Die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, sagte, sie sei "sehr besorgt" über die Aufhebung des Gesetzes. "Ich bedauere diese Entscheidung zutiefst", sagte sie. "Ich bin sehr besorgt über die Situation. Das wird wahrscheinlich auch bedeuten, dass mehr Menschen nach Libyen kommen und dann vielleicht auch versuchen, über das Mittelmeer in die EU zu gelangen." Scheinheilig vergoss sie ein paar Krokodilstränen über das Schicksal von Migrant:innen, da das Risiko bestehe, dass "dies zu neuen Todesfällen in der Wüste führen wird".
Auch die Bundesregierung kritisiert die Abschaffung des Gesetzes. Das 2015 in Kraft getretene Gesetz sei ein "wichtiges und auch funktionierendes Instrument" im Kampf gegen Menschenschmuggler gewesen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Mittwoch in Berlin. Die Bundesregierung appelliere "dringend, dieses Gesetz weiterhin gelten zu lassen".
Ganz anders die Stimmung in Niger. Insbesondere die Bevölkerung In der großen Region im Norden des Landes wird Diese Entscheidung begrüßt. Ganz oben auf der Liste ihrer Beschwerden stand das Anti-Migrationsgesetz, das eine ohnehin schon arme Region noch ärmer gemacht hatte.
"Diese Entscheidung ist zu begrüßen, da die Freizügigkeit durch den Erlass wiederhergestellt wurde", sagte Azizou Chehou vom Alarm Phone Sahara.
"Wir wollten auf die Ungerechtigkeit hinweisen, die den Bürgern aus Subsahara-Ländern auferlegt wird, nicht nur in ihrem Wunsch, ihr Ziel zu erreichen, sondern auch in der Beschädigung der zirkulären Migration im ECOWAS-Raum zugunsten eines anderen geografischen Raums, der Europäischen Union."
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