09.03.2020: "Gemeinsame Liste" gewinnt zwei Sitze dazu und ist drittstärkste Fraktion in der Knesset ++ noch nie so viel Araber und arabische Frauen im Parlament ++ trotzdem stimmt Mehrheit der jüdischen Wahler*innen für "Groß-Israel" ++ dem Rechtsblock von Netanjahu fehlen nur drei Sitze zu Mehrheit: Schlechte Zeiten für Frieden in Nahost
Es war die dritte Parlamentswahl innerhalb eines Jahres, die am Montag, 2. März, stattgefunden hat. Sie war notwendig geworden, weil bei den beiden vorhergehenden Wahlgängen im April und September 2019 weder Netanjahus Likud-Partei noch ihre Hauptrivalin Kachol Lavan ("Blau-Weiß") unter Benjamin Gantz, dem ehemaligen Generalstabschefs der israelischen Armee, in der Knesset die nötige Anzahl von Abgeordneten zusammenbringen konnten, um eine mehrheitsfähige Koalitionsregierung zu bilden. (siehe: "Israel nach der Wahl: Kein Kurswechsel zu Frieden in Sicht")
Im neugewählten israelischen Parlament, der Knesset, wird es mit 17 arabischstämmigen Abgeordneten so viele Araber*innen geben wie noch nie. Auch die Zahl der arabischen Frauen, die in die Knesset einziehen, bricht Rekorde. Allein die Gemeinsame Liste (Joint List) hat vier Frauen auf den ersten 15 Plätzen, mehr als die meisten jüdischen Parteien. Auf Platz 15 der Gemeinsamen Liste zieht Iman Khatib, eine Vertreterin der Islamischen Vereinigten Arabischen Liste, als erste Hijab-tragende Frau in die Knesset ein. Über die Liste Kahol Lavan (Blau-Weiß) kommt die Drusin Gadeer Mreeh ins Parlament.
Die "Gemeinsame Liste", ein Bündnis von drei Parteien der arabischsprachigen Bevölkerung Israels (Balad, Ta'al und Ra'am) und des von den israelischen Kommunist*innen initiierte Bündnis Hadash ("Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung"), hat zu den bisherigen 13 Sitzen zwei weitere Mandate hinzugewonnen und stellt die drittgrößte Fraktion in der Knesset.
Netanjahu ist Gewinner der Wahl
Doch die Begeisterung über das Erstarken der Partei wird von der Möglichkeit überschattet, dass es Premierminister Benjamin Netanjahu doch noch gelingen könnte, eine Regierung zu bilden.
Nachdem die Zentrale Wahlkommission am Donnerstagabend (5.3.) die vorläufigen Endergebnisse der Parlamentswahl in Israel vom 2. März bekanntgab, steht fest: der bisherige extrem rechte Regierungschef Benjamin Netanjahu ist eindeutig der Gewinner dieser Wahl. Sein rechter Block kommt auf 58 Sitze, nur drei fehlen zur Mehrheit in dem 120 köpfigen Parlament. Aber dennoch bleibt offen, wer künftig das Land regieren kann.
Der Fraktionsvorsitzende der Gemeinsamen Liste, Ahmad Tibi, betonte, dass das Versagen, Netanjahu zu schlagen, nicht das der Gemeinsamen Liste oder das der arabischen Wähler*innen ist, sondern das von Kahol Lavan (Blau-Weiß), dem Labor-Gher-Meretz-Bündnis und der zionistischen Linken. Der Vorsitzende der Gemeinsamen Liste, Ayman Odeh, erklärte, dass trotz des Erfolges des Rechtsblocks, die Gemeinsame Liste ein großes Hindernis für die Bildung einer rechtsextremen Regierung sein könnte.
Jüdische Wähler*innen stimmten für "Groß-Israel"
Netanjahus Partei erreichte mit 1.349.171 Stimmen 29,46% der abgegebenen Stimmen und damit den ersten Platz im Parteienspektrum, obwohl ihr Anführer in wenigen Tagen (am 17. März) als Angeklagter wegen "Bestechung, Untreue und Vertrauensbruch" vor Gericht steht.
Besonders besorgniserregend ist jedoch, dass Netanjahu diese große Zustimmung, rund 235.000 Stimmen mehr als bei der letzten Wahl im September 2019, mit einem äußerst aggressiven Wahlkampf gegen die Palästinenser*innen erreichte. Dieser gipfelte in der Ankündigung, dass er, wenn er wiedergewählt wird, alle israelischen Siedlungen auf palästinensischem Gebiet und das ganze von Israel seit 1967 militärisch besetzte Jordan-Tal in das Staatsgebiet Israels aufnehmen, also mehr als 20 Prozent des palästinensischen Westjordanlandes unter Bruch aller Normen des Völkerrechts annektieren werde. Das entspricht dem von USA-Präsident Donald Trump verkündeten Nahostplan, den dieser in Absprache mit Netanjahu als "Deal des Jahrhunderts" bezeichnet hat.
Es muss also zur Kenntnis genommen werden, dass ein erheblicher Teil der israelischen Wähler*innen (über 34% der 6,5 Millionen Wahlberechtigten) sich von der Anklage und möglicherweise drohenden Verurteilung des derzeitigen Ministerpräsidenten wegen Korruption nicht abschrecken ließ, zum vierten Mal seit 2009 einen Mann in dieses Amt zu wählen, der die Eroberung von zusätzlichem Staatsgebiet für "Groß-Israel" im Verein mit den herrschenden Kreisen der USA über alles andere stellt - vor allem über das Gebot eines friedlichen Zusammenlebens mit den Palästinenser*innen. Ein beträchtlicher Teil der Israelis ist offensichtlich bereit, einer solchen zionistisch-nationalistischen, anti-palästinensischen und anti-arabischen Ideologie und Politik nicht nur zuzustimmen, sondern sie auch bewusst und aktiv zu unterstützen.
Netanjahus Block braucht Unterstützer
Allerdings reicht es trotz des Stimmengewinns für Netanjahu bisher noch nicht, um für die nächste Zeit eine weitere rechte Koalitionsregierung unter seiner Leitung bilden zu können. Der von ihm geführte Rechtsblock kommt in der Knesset bis jetzt nur auf 58 Mandate, während für eine parlamentarische Mehrheit 61 erforderlich sind. Netanjahus Likud selbst hat 36 Sitze, seine Verbündeten sind die beiden ultraorthodoxen und reaktionären Parteien Shas mit 7,69% und 9 Mandaten und Vereintes Thora-Judentum mit 5,98% und 7 Mandaten, sowie das rechtsextremistische Parteienbündnis Yamina, dem u.a. die extremistische Siedlerpartei "Jüdisches Heim" angehört, mit 5,24% und 6 Mandaten.
Aus Netanjahus Umgebung wurde mitgeteilt, dass man bereits mit Abgeordneten anderer Parteien in Verhandlungen sei, um mindestens drei Überläufer für eine neue Netanjahu-Regierung zu gewinnen, also mit entsprechenden Zusagen und "Belohnungen" einzukaufen. Ob dies tatsächlich möglich sein wird, ist allerdings derzeit offen. Einige in der Presse genannte, hierzu angeblich vielleicht bereite Personen haben öffentlich erklärt, dass sie solche Angebote ablehnen.
"Blau-Weiß" keine Alternative
Theoretisch hätte als Alternative zu Netanjahu auch der Anführer des Oppositionsblocks Blau-Weiß, Benjamin Gantz, die Möglichkeit einer Regierungsbildung. Sein Bündnis Kachol Lavan kam bei der Wahl allerdings mit 1.219.870 Stimmen, 26,59% und 33 Knesset-Mandate hinter Netanjahu nur auf den zweiten Platz im Parteienspektrum.
"Das Problem war die rassistische Haltung von Blau-Weiß", erklärte Ayman Odeh, der Sprecher der Gemeinsamen Liste. Gantz habe Blau-Weiß nicht als Alternative zum Rechtsblock präsentiert, sondern zu einer "blassen Kopie" dieses Rechtsblocks gemacht, indem er versuchte, sich gleichfalls als Vorkämpfer für die Annexion der Siedlungen und großer Teile des Westjordanlands zu präsentieren und damit rechtsextreme und zionistische Stimmen für sich zu gewinnen. Dazu gehörte auch, dass er sich im Gegensatz zu seinem Auftreten bei den vorhergehenden Wahlen heftig von der Gemeinsamen Liste distanzierte und davon sprach, dass eine "jüdische Mehrheit" das Land regieren müsse.
Erfolg für die Gemeinsame Liste (Joint List)
Als einige Lichtblick kann unter diesen Umständen nur das Abschneiden der Gemeinsamen Liste bezeichnet werden. Sie erreichte trotz einer heftigen Hetzkampagne gegen sie, die antiarabischen Rassismus und wilden Antikommunismus mit Behauptungen über eine angebliche Solidarisierung der Gemeinsamen Liste mit "arabischem Terrorismus" verschmolz, mit 580.044 Stimmen immerhin 12,65% und 15 Abgeordnetenmandate, zwei mehr als bei der letzten Wahl.
Odeh nannte dieses Ergebnis eine "historische Errungenschaft". Seit der ersten Wahl 1949 hätten die arabische Bevölkerung und die jüdischen Linkskräfte noch nie eine so starke Vertretung im israelischen Parlament gehabt. Dieses Ergebnis werde "die Linke und die jüdisch-arabische Alternative stärken". Sie müsse zur "grundsätzlichen Alternative für die ganze israelische politische Landkarte" werden. Es gehe dabei um "realen Frieden und echte Demokratie, authentische Gleichheit zwischen Araber und Juden und soziale Gerechtigkeit für alle marginalisierten Menschen".
Beobachter*innen sehen für die großen Gewinne, die die Gemeinsame Liste am Montag verbuchen konnte, mehrere Faktoren:
- Die Kampagne der Gemeinsamen Liste konzentrierte sich stark auf die Erhöhung der Wahlbeteiligung von Frauen und jungen Menschen und auf mehr Anstrengungen in "abgehängten" Beduinendörfer in der Negev.
- Tatsächlich stieg die Wahlbeteiligung innerhalb der arabischen Bevölkerungsgruppe stark an. Gleichzeitig sank die Unterstützung für jüdische Parteien unter den arabischen Wähler*innen. Netanjahus anhaltende Angriffe auf arabische Bürger*innen und ihre politischen Führer*innen sowie die tiefe Besorgnis über den so genannten "Deal des Jahrhunderts" von US-Präsident Donald Trump hätten mehr Araber*innen an die Urnen getrieben, als bei früheren Wahlen, meint Arik Rudnitzky vom Israel Democracy Institute. Die Wahlbeteiligung war die höchste unter den arabischen Wähler*innen seit 1999; die Gemeinsame Liste gewann 88 Prozent der arabischen Stimmen.
- Ein weiterer Schlüssel zum Erfolg der Gemeinsamen Liste war die Tatsache, dass die Frauen auf der Wahlliste einen prominenten Platz einnahmen, was den arabischen Frauen als Anreiz diente, sich an der Wahl zu beteiligen und die Gemeinsame Liste zu wählen.
- Die Gemeinsame Liste genoss auch eine beispiellose Unterstützung von linken jüdischen Wähler*innen - die meisten von ihnen ernüchterte Meretz-Anhänger*innen. Diese Wähler*innen waren unzufrieden mit dem von Meretz vollzogenen Kurswechsel nach rechts und mit der Tatsache, dass Meretz keine arabische Kandidat*in auf einem sicheren Listenplatz aufstellte. Nach vorläufigen Schätzungen hat sich die Zahl der Stimmen, die die Gemeinsame Liste von jüdischen Wähler*innen - vor allem in Tel Aviv und Haifa - erhielt, im Vergleich zu den Wahlen im September bzw. April verdoppelt.
"Die jüdisch-arabische Partnerschaft ist der Eckpfeiler für jede tiefe Veränderung im Land, für wahren Frieden, für wahre Demokratie, für wahre Gleichheit. Sie muss gemeinsam, von Araber*innen und Jüd*innen, verwirklicht werden. Diese jüdisch-arabische Zusammenarbeit ist lebenswichtig und gerade erst am Anfang. Aber wir hören nicht mit der Gemeinsamen Liste auf. Dies ist erst der Anfang, auf dem Weg zum Aufbau einer massiven Bewegung, die eine Heimat für all jene sein wird, die in dieser Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. Eine jüdisch-arabische Gemeinschaft der Marginalisierten, die ein gemeinsames Interesse daran haben, in einer Gesellschaft zusammenzuleben, die auf sozialer Gerechtigkeit basiert." Ayman Odeh, Vorsitzender der Gemeinsamen Liste, 3.3.2020 |
Es gibt keinen "Not-Bibi-Block"
Rein rechnerisch wäre eine alternative Regierungsbildung unter der Führung von Gantz trotz seines schlechten Abschneidens bei der letzten Wahl möglich. Allerdings nur, wenn sich alle in der Knesset vertretenen Formationen, die nicht zum Netanjahu-Block gehören, ihm anschließen würden.
Dazu gehörten die rechten und linken Sozialdemokraten (Awoda und Meretz), die mit einer weiteren Partei namens Gesher eine gemeinsame Liste gebildet hatten, aber im Vergleich zu ihrer früheren führenden Stellung in den Anfängen des israelischen Staates mit 267.909 Stimmen nur noch 5,84% und 7 Mandate und damit das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erreichten.
Ebenso müsste sich die rechtsextremistische Formation Israel Beitenu ("Unser Zuhause Israel") unter Avigdor Lieberman, der früher Minister in Netanjahus Regierung gewesen war, aber sich aktuell gegen eine neue Netanjahu-Regierung positioniert, mit ihren 263.240 Stimmen und 5,74% (ebenfalls 7 Mandate) der Gantz-Koalition anschließen.
Und schließlich ginge es auch nicht ohne die Mitwirkung der "Gemeinsamen Liste" mit ihren 15 Mandaten. Ohne sie käme Gantz in einer Koalition mit den Sozialdemokraten und Israel Beitenu nämlich nur auf 47 Stimmen in der Knesset, erst mit den 15 Mandaten der "Gemeinsamen Liste" könnte er mit 62 Abgeordnetenstimmen im Parlament eine Mehrheit bilden.
Das erscheint allerdings derzeit bei der pro-annexionistischen, anti-palästinensischen und anti-arabischen Haltung von Gantz ausgeschlossen. Odeh hat bereits öffentlich erklärt, dass eine Unterstützung von Gantz durch die "Gemeinsame Liste" bei seinem jetzigen politischen Kurs nicht in Frage komme. Eine Zustimmung oder Tolerierung von Gantz wäre nur denkbar, wenn dieser eine klare Korrektur und Kurswende in seiner Haltung vornehmen würde.
"Wir könnten uns hinter Gantz stellen, wenn er aufhört, die Annexion zu unterstützen und wenn er aufhört, von seiner rassistischen "jüdischen Mehrheit" zu sprechen", sagte Ayman Odeh am Donnerstag (5.3.20).
Dass Gantz diesen Kurswechsel vollzieht, ist allerdings derzeit auch unwahrscheinlich.
Der Haaretz- Journalist Rogel Alpher schreibt: "Es gibt kein wirkliches Not-Bibi-Lager. (Anm.: Bibi für Benjamin Netanyahu) Es existiert nicht. Es gibt ein Nur-Bibi-Lager, das bei der Wahl 58 Sitze in der Knesset gewonnen hat. Nicht genug, um eine Regierung zu bilden. Allerdings steht diesem Lager kein wirkliches Not Bibi-Lager mit 61 Sitzen gegenüber. Wenn das Ziel wirklich Not-Bibi wäre, dann müssten Kachol Lavan (Blau-Weiß), Labor-Gesher-Meretz, Yisrael Beiteinu und die Gemeinsame Liste eine Regierung mit 61 Abgeordneten bilden. Zwar will Lieberman (Anm.: Vorsitzender der ultrarechten säkular-nationalistischen Partei Jisrael Beitenu) Netanjahu verdrängen, aber er ist nicht bereit, mit Arabern zu kooperieren. Mit dieser Weigerung hält er Netanjahu am Leben. Und so sehr Kahol Lavan Netanjahu verdrängen will, ist auch er nur mit einer jüdischen Mehrheit dazu bereit. Er ist nicht bereit, sich auf die Araber zu stützen. Es scheint, dass in der Prioritätenliste von Lieberman und Kahol Lavans »nur-jüdisch« vor »not-Bibi« steht. Sie sind zuerst Juden und erst danach Demokraten, die die Korruption bekämpfen. Sie sind zuerst Rassisten und erst danach tapfere Verfechter der Rechtsstaatlichkeit. Sie sind zuerst Nationalisten und erst danach Liberale." Quelle: Haaretz, 4.3.20: Just Not Bibi Camp Is Really the Just Not Arabs Camp |
Wahrscheinlich eine Regierung, die als gefährlicher Brandstifter agiert
Nun ist zunächst der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin an der Reihe, der sich spätestens bis zum 17. März entscheiden muss, wen er als ersten mit der Regierungsbildung beauftragt. Der von ihm Auserwählte hat dann mindestens 28 Tage Zeit, um eine Koalition zustande zu bringen, was um weitere 14 Tage verlängert werden kann.
So oder so ergibt sich aber die bedauerliche Feststellung, dass das vorliegende Wahlergebnis die notwendige Friedensregelung zwischen Israel und Palästina, die auch im Interesse der Stabilisierung des Weltfriedens nötig ist, nicht näher gebracht hat. Vielmehr droht die Installierung einer Regierung, die mit ihren Annexionsabsichten im palästinensischen Westjordangebiet als gefährlicher Brandstifter agiert. Also ist und bleibt offensichtlich auch die internationale Öffentlichkeit gefordert, entschieden gegen die völkerrechtswidrigen Annexionspläne Widerstand zu leisten und ihre eigenen Regierungen zu entsprechendem Handeln aufzufordern.
Das gilt insbesondere auch für die Regierungen der EU Staaten und die Bundesregierung.
Dies liegt nicht zuletzt auch im Interesse der israelischen Bevölkerung selbst, weil Israel wie ein Staat Palästina daneben nur gedeihen können, wenn beide Völker und Staaten sich auf ein friedliches Neben- und Miteinanderleben ausrichten.
txt: Georg Polikeit, redaktionell geringfügig ergänzt, Zwischenüberschriften redaktionell eingefügt