30.09.2022: Bahnbrechendes Familiengesetz in einem Referendum angenommen ++ Als der kubanische Staatspräsident Miguel Díaz-Canel am Montag das neue Familiengesetz unterzeichnete, raste schon der Hurrikan Ian auf die Karibikinsel zu.
Als am Montagmorgen (26.9.) das kubanische nationale Fernsehen gerade die vorläufigen Ergebnisse des Volksreferendums über das Familiengesetzbuch ausstrahlte, begannen auch die Krisensitzungen zur Vorbereitung auf den Hurrikan.
Der kubanische Parteichef und Staatspräsident Miguel Díaz-Canel machte aus seiner Freude über den Sieg des JA keinen Hehl. "Wir sind sehr zufrieden mit dem Sieg des JA, denn mehr als 74 % unserer Bevölkerung haben sich an den Wahlen beteiligt", sagte er. Gleichzeitig warnte er vor dem sich nähernden Hurrikan und rief zu hoher Wachsamkeit auf, um den Verlust von Menschenleben zu vermeiden und die wichtigsten Mittel und Ressourcen des Landes zu erhalten. Zehntausende Menschen wurden in Sicherheit gebracht. In der Provinz Pinar del Rio hatten 40.000 Menschen vorsorglich ihre Häuser verlassen.
Am frühen Dienstagmorgen erreichte der Hurrikan dann mit anhaltenden Winden von 185 Kilometern pro Stunde, Böen von mehr als 200 km/h und sintflutartigen Regenfällen die Westküste Kubas und richtete schwere Verwüstungen an. Die zerstörerische Wirkung der Windböen und Regengüsse hielt bis Dienstagnachmittag an.
Bei dem Hurrikan Ian handelte es sich um einen der schlimmsten Wirbelstürme, die die Insel je getroffen hat. "In meinen 62 Lebensjahren habe ich noch nie eine so zerstörerische Kraft gesehen", sagte Maritza Cueto der Nachrichtenagentur Efe.
Das Vorhandensein zahlreicher Stauseen - damals von Fidel Castro ausdrücklich gewünscht, um die Wasserversorgung sicherzustellen - half, einen Teil der sintflutartigen Regenfälle abzufangen. Der schwerste Schaden, abgesehen von Menschenleben, betraf das Stromnetz. Schon seit vielen Monaten reichten die Stromerzeugungskapazitäten nicht mehr aus, um den Verbrauch auf der Insel zu decken.
Die ganze Dienstagnacht über blieb mindestens die Hälfte der Insel im Dunkeln und ohne Fernseh- und Internetsignale. Das staatliche Unternehmen teilte am Mittwoch mit, dass aufgrund der schweren Schäden das gesamte System ausgefallen sei und sich der Stromausfall über die ganze Insel ausgebreitet habe. Am Donnerstag teilte die Unión Eléctrica mit, dass der Prozess der Wiederherstellung des nationalen Elektrizitätssystems zur Zeit noch andauere.
Ein bahnbrechendes Familiengesetz: Ja zur Homo-Ehe und mehr
Die durch den Hurrikan verursachten Zerstörungen verdrängen die Freude über den Erfolg bei der Volksabstimmung über das neue, bahnbrechende Familiengesetz, das die gleichberechtigte Ehe zwischen Menschen gleichen Geschlechts, die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare, Leihmutterschaft, Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen und zum Schutz von Minderjährigen vorsieht.
Am Montagmorgen (26.9.) wurde das vorläufige amtliche Ergebnis durch die Wahlkommission (CNE) bekanntgegeben. Demnach beteiligten sich 74 Prozent der 8,8 Millionen Wahlberechtigten ab 16 Jahren an der Abstimmung. 66,87 Prozent votierten für die Annahme. "Und das trotz einer schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Situation, Energie, Migrationsbewegungen und verständlichen Diskrepanzen bei einigen der Themen, die aufgrund des Geltungsbereichs des Kodex behandelt wurden", sagte Staatspräsident Miguel Díaz-Canel. Das Ergebnis sei ein "weiteren Sieg für die kubanische Revolution".
Doch das Klima ist vergiftet durch die Krise, patriarchalische Tabus und die destabilisierende Kampagne der Opposition, die meist im Ausland organisiert ist und von den US-finanzierten Medien und der spanischen Rechten verstärkt wird.
Die Wahlbeteiligung von 74 Prozent war die niedrigste Wahlbeteiligung im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Referenden. Bei der Abstimmung über die neue Verfassung im Jahr 2019 lag die Wahlbeteiligung bei 84,4 Prozent, und bei der Abstimmung über die Verfassung im Jahr 1976 (als Fidel noch lebte) wurde die Höchstgrenze von 98 Prozent der Wähler:innen erreicht.
Der Rückgang der Wahlbeteiligung ist ein Anzeichen für ein tiefes Unbehagen in der kubanischen Gesellschaft, das seit Monaten zu beobachten ist. Aber es ist sicher nicht das Ergebnis einer Kampagne, zu der die Blogs und "unabhängigen Zeitungen" einer hauptsächlich in Florida und Spanien angesiedelten Opposition als Form der Destabilisierung der Regierung aufrufen.
Das neue und fortschrittliche Familiengesetzbuch, das das seit 1975 geltende ersetzen wird, sieht nicht nur eine Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe, sondern auch das Adoptionsrecht durch gleichgeschlechtliche Paare, ein Verbot der Kinderehe und die Abschaffung der elterlichen Gewalt zugunsten einer elterlichen Verantwortung vor, die die Persönlichkeit der Kinder respektiert. Das sind echte Tabus in einem Land mit einer starken patriarchalischen und machistischen Tradition, die auch 60 Jahre Revolution nicht beseitigt haben.
Eine solche Erweiterung der Rechte hätte die Regierung, die das Gesetz vorgeschlagen hat, nicht beunruhigen müssen. Denn der Wortlaut des Gesetzes wurde in mehr als 70.000 Versammlungen auf der ganzen Insel unter Beteiligung von Hunderttausenden von Bürgern ausgearbeitet und diskutiert.
Auf den wohl stärksten Widerstand traf der Gesetzesentwurf bei den evangelikalen Gruppen, die in sozialen Medien und auf der Straße versucht haben Ängste vor dem Ende der elterlichen Autorität und der Einmischung des Staates in die Familie zu schüren. Die katholische Bischofskonferenz äußerte sich differenzierter und rief zur Abstimmung "auf Basis von Glaube und Gewissen" auf. Die Verurteilung von Gewalt in der Familie sowie der Schutz von Behinderten und älteren Menschen wurden positiv beurteilt, die Bischöfe kritisierten jedoch scharf das neue Adoptionsrecht durch gleichgeschlechtliche Paare, die Legalisierung von künstlicher Befruchtung und Leihmutterschaften sowie die im Gesetz angeblich enthaltene "Gender-Ideologie".
Es war auch bekannt, dass ein Teil der Orthodoxie in Partei- und Staatsapparat einen solchen Sprung nach vorn schlecht verkraftet hatte. Die Abstimmung am vergangenen Sonntag war jedoch monatelang stark von politischen Erwägungen beeinflusst worden, die wenig mit dem Inhalt des neuen Gesetzes zu tun hatten.
In einem Klima, das seit vielen Monaten durch eine schwere Wirtschaftskrise und die ebenso große Schwierigkeit für die Mehrheit der Bevölkerung gekennzeichnet ist, sich mit dem Nötigsten zu versorgen - eine Situation, die zu einer noch nie dagewesenen Abwanderung von der Insel geführt hat, vor allem unter den jungen Menschen -, wurde die Abstimmung zu einem Referendum für oder gegen die Regierung.
Die Opposition, die größtenteils im Ausland organisiert ist und durch Blogs und Online-Zeitungen verstärkt wird, die direkt oder indirekt von den USA und der spanischen und argentinischen Rechten finanziert werden, führte eine massive Kampagne zur Destabilisierung der Regierung und gegen die Formulierung von Reformen, die als notwendig erachtet werden. Und als dies nicht besonders erfolgreich war, beschuldigten sie "das Regime, diese avantgardistischen Vorschläge zu benutzen, um das Gesicht zu wahren und die Diktatur am Leben zu erhalten".
Die Regierung reagierte auf die gleiche Weise, indem sie ihre Massenmedien und Volksorganisationen nutzte, um - wie Präsident Miguel Díaz-Canel am Vorabend des Referendums - zu behaupten, dass ein Ja zur Abstimmung "ein Ja zur Einheit, zur Revolution, zum Sozialismus, kurzum ein Ja zu Kuba" bedeute. Im Fernsehen, im Radio und in den Zeitungen kamen die Befürworter des Nein kaum zu Wort, selbst wenn sie ethische oder religiöse Gründe hatten.
Dies führte zu dem Paradoxon, dass einige bekannte Mitglieder der Lgbtq+-Gemeinschaft, die zuvor eine Inhaftierung riskiert hatten, um für die Ausweitung der Geschlechterrechte einzutreten, jetzt erklärten, dass sie mit Nein stimmen würden, um die repressive Politik der Regierung zu bestrafen, da sie keinen anderen Raum für ihre Äußerungen haben würden. Andererseits sprachen sich bekannte Soziolog:innen, Jurist:innen, Historiker:innen und Psycholog:innen, die aus ihrer Kritik an der Regierung keinen Hehl machen, gegen das Nein aus, denn "die Ablehnung der Regierungspolitik kann nicht die Ablehnung eines Gesetzeswerkes bedeuten, das die Gesellschaft braucht und das nach Kämpfen und Opfern zustande gekommen ist".
Dies war das Klima, in dem die Abstimmung stattfand.
Präsident Díaz-Canel selbst kommentierte das Ergebnis als "weiteren Sieg für die kubanische Revolution". Die Polarisierung in Kuba und auch im Ausland gegenüber der kubanischen Revolution ist nicht neu. Aber nie zuvor hat sie ein solches Ausmaß erreicht. Dies ist auch ein Zeichen für das Unbehagen in einer Gesellschaft, das nicht nur auf den Wirtschaftskrieg der US-Regierung zurückzuführen ist, der unter Präsident Trump zu einem Würgegriff geworden ist und von der Regierung Biden aufrechterhalten wird.