10.10.2022: Seit Wochen Demonstrationen im Iran; angeführt von jungen Frauen ++ An der Teheraner Frauenuniversität al-Zahra macht der iranische Präsident Ebrahim Raisi "ausländische Mächte" für die Unruhen verantwortlich. Die Antwort der Studentinnen: "Verschwinde!"
In den letzten zwei Wochen kam es in mehr als hundert iranischen Städten zu Protesten der Bevölkerung gegen das Regime der Islamischen Republik. Auch in der Nacht von Samstag auf Sonntag gingen die Proteste weiter. Der Slogan "Frauen, Leben, Freiheit" ist inzwischen zum Mantra des Kampfes des iranischen Volkes im In- und Ausland gegen die herrschende Diktatur geworden.
"Wir haben keine Angst mehr. Wir werden kämpfen", steht auf einem Transparent an einer Brücke der Modarres-Autobahn, die durch das Zentrum von Teheran führt. Ein starkes Bild, eine Botschaft, die die Entschlossenheit der Demonstrant:innen im Iran gut zum Ausdruck bringt.
In einem Video, das ebenfalls im Netz kursiert, bearbeitet ein Mann den Text eines Slogans auf einer großen öffentlichen Tafel. Der Satz "Die Polizei dient dem Volk" wird so zu "Die Polizei tötet das Volk".
Trotz der Sperrung von Internet, Instagram und WhatsApp gelingt es die Zensur der Islamischen Republik mit Hilfe von VPN-Systemen zu umgehen und Videos und Bilder über die Proteste zu veröffentlichen.
Wir haben keine Angst mehr: Frauen verhindern die Verhaftung eine jungen Mannes | ||
https://twitter.com/i/status/1577996994815172613 |
Ausgelöst wurden die Proteste durch den Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini. Die 22-Jährige war am 16. September gestorben, nachdem sie drei Tage zuvor in Teheran von der Sittenpolizei wegen des Vorwurfs festgenommen wurde, ihr Erscheinungsbild sei "unislamisch", weil ihr Kopftuch verrutscht gewesen sein soll. Nachdem sie in Polizeigewahrsam geschlagen wurde, starb sie an einer Kopfverletzung.
Öl ins Feuer gossen Erklärungen der Teheraner Justiz, wonach Mahsa Amini nicht an den Schlägen auf dem Polizeirevier, sondern an den Folgen einer Operation an einem Hirntumor im Kindesalter gestorben sei.
Im Fall von zwei Mädchen im Teenageralter, die ebenfalls getötet wurden, lautet die offizielle Version der Behörden "Sturz von einem Gebäude" als Todesursache. Die Mutter eines der Mädchen, Nasreen Shakarami, erklärte in einer Videobotschaft, dass der gerichtsmedizinische Bericht zeige, dass ihre 16-jährige Tochter Nika durch wiederholte Schläge auf den Kopf gestorben sei. Die Behörden hätten den Tod ihrer Tochter neun Tage lang geheim gehalten. Am 10. Tag übergaben die Behörden schließlich die Leiche und die Familie fuhr zur Beerdigung in die Stadt Khoramabad, sagt Nasreen Shakarami. Am Tag der geplanten Beerdigung erfuhr die Familie, dass die Leiche aus dem Leichenschauhaus entwendet und unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in ein abgelegenes Dorf zur Beerdigung gebracht worden war, so Frau Shakarami.
Nika ist neben Mahsa Amini zu einer weiteren Ikone der Proteste geworden.
"Von Frauen geht die Rebellion gegen die Theokratie aus"
Angeführt wurden die Proteste von jungen Frauen, die ihre Kopftücher abrissen und trotzig schwenkten, um zum Sturz der Regierung aufzurufen. "Dies ist in der Tat eine Neuheit, die nicht einmal so unerwartet ist. Frauen sind kultivierter und akademisch gebildeter, gleichzeitig werden sie aber auch stärker diskriminiert und misshandelt", sagt ein iranischen Professor für Politikwissenschaft und Völkerrecht, der aus naheliegenden Grünen anonym bleiben möchte, gegenüber der Zeitung il manifesto. "Als ob die gesetzlichen Beschränkungen und Ungerechtigkeiten nicht schon genug wären, gibt es auch noch die Ershad-Patrouillen (die Sittenpolizei, Anm. d. Red.), die ihre Kleidung kontrollieren und sie willkürlich anhalten, misshandeln, mit Bußgeldern belegen und in einigen Fällen, wie dem von Mahsa Amini, zu einer Tragödie führen. Obwohl ihr Verhalten illegal ist, werden sie von der Justiz eklatant gedeckt. So sind die Forderungen der Frauen zum Symbol für alle sozialen, politischen und wirtschaftlichen Missstände und Ungerechtigkeiten geworden."
"Demonstrationen sind Produkt eines allgemeinen Unwohlseins"
Zu den spontan aufgebrochenen Demonstrationen sagt er: "Sie sind das Produkt eines allgemeinen Unwohlseins, das in fast allen Gesellschaftsschichten in unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedliche Weise vorhanden ist. Die schwere Wirtschaftskrise, der Versuch, die Privatsphäre der Bürger zu kontrollieren und zu bestimmen, die weit verbreitete Korruption in der öffentlichen Verwaltung, von der Vergabe von Empfehlungen bis zur Veruntreuung von Hunderten von Milliarden Tomans (Als Toman werden heutzutage im Iran je nach Kontext zehn, zehntausend oder gar zehn Millionen iranische Rial bezeichnet. Anm. d. Red.). Die sinnlos gebrochenen Versprechen, die geheuchelte Empathie von Schlüsselfiguren, die nie zu etwas geführt haben. Das alles hat zu einem Vertrauensverlust zwischen der Bevölkerung und der herrschenden Klasse geführt, der nicht behoben werden kann, wenn sich die Dinge nicht grundlegend ändern."
Die bedeutende Rolle der Student:innen bei diesen Protesten ist offensichtlich. Der Protest gegen die Ermordung von Mahsa Amini, der Generalstreik und die Kundgebungen in der Provinz Kurdistan, gefolgt von den Versammlungen der Student:innen an den Universitäten, lösten Proteste in mehr als hundert Städten im Iran aus. Der Streik der Student:innen an verschiedenen Universitäten und die Unterstützung durch einige Universitätsprofessor:innen hat den Protesten in verschiedenen sozialen Schichten neuen Auftrieb gegeben. Darüber hinaus spielte die Universität eine besondere Rolle bei der Bewahrung und Ausweitung der fortschrittlichen Aspekte der "Frauen, Leben, Freiheit"-Bewegung sowie bei der Verbreitung der innovativsten und fortschrittlichsten Slogans.
Die staatlichen Sicherheitskräfte gehen mit großer Gewalt gegen Demonstrierende vor. Seit Beginn der Proteste wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mehr als 150 Menschen getötet, Hunderte verletzt, Tausende wurden festgenommen. Die Demonstrant:innen sind jung und sehr jung: Regierungsangaben zufolge sind 80 % der Verhafteten unter 25 Jahre alt.
Trotz Fehlens einer Führung und einer Koordinierung sind die laufenden Proteste im Iran in Umfang und Bedeutung die wichtigsten seit der Revolution von 1979. Diese beiden Merkmale - das Fehlen eine Führung und die fehlende Koordination - stellen gegenwärtig jedoch auch Stärken dar: Heute kann die Repression die Proteste nicht enthaupten, wie es bei der grünen Oppositionsbewegung 2009 der Fall war, und die Internetblockade hindert die Demonstrant:innen nicht daran, ihre Botschaft zu verbreiten und auf die Straße zu gehen.
Und tatsächlich waren von den Streiks am Samstag wieder mehrere Städte betroffen, darunter Saghez (die Heimatstadt von Mahsa Amini), Sanandaj und Divandarreh - in der iranischen Provinz Kurdistan - und Mahabad in der Provinz West-Aserbaidschan.
In Sanandaj kam es zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften, und es waren Schüsse zu hören. Auch in Karadsch, in der Nähe von Teheran, kam es zu Protesten. Student:innen demonstrierten in Isfahan und Tabriz. An vorderster Front: wieder Mädchen und Frauen. In Saghez marschierten Gymnasiastinnen mit Kopftüchern auf der Straße und skandierten die Parole "Frau, Leben, Freiheit".
Studentinnen zu Präsident Raisi: "Verschwinde!"
In Teheran hielt Präsident Ebrahim Raisi bei der Eröffnungsfeier des akademischen Jahres eine Rede an der al-Zahra-Frauenuniversität, in der er erklärte, dass Studentinnen "nicht den Interessen des Feindes dienen dürfen". "Auch in den Universitäten wollen die Feinde nun ihre teuflischen Ziele umsetzen", behauptete der Kleriker. Aber die iranischen Studenten und Professoren würden dafür sorgen, dass all diese Verschwörungen scheiterten, so der Präsident laut Nachrichtenagentur Isna. Raisi zitierte bei seiner Ansprache an die Studentinnen und Professor:innen ein Gedicht, in dem Randalierer mit Fliegen gleichgesetzt werden.
Die Studentinnen riefen ihm zu "Verschwinde", "Tod dem Unterdrücker". Das zeigt ein Video, das auf dem Twitter-Account von "1500tasvir" veröffentlicht wurde.
Irans oberster geistlicher Führer, Ajatollah Ali Khamenei, hatte die regierungskritischen Proteste zuvor ebenfalls als ausländische Verschwörung bezeichnet. "Nach zwei Wochen trat Khamenei endlich aus dem Vorhang des Terrors und brach sein feiges und zweckdienliches Schweigen, um so zu tun, als hätte er keine Angst und auch die Beamten des Regimes hätten keine Angst. Aber er hat offensichtlich sowohl Angst als auch die Angst des Regimes erkannt. In seiner Rede drohte er Millionen von Menschen, die sich gegen das Regime auflehnen. .. Khamenei wiederholte seinen üblichen Unsinn. Aber diesmal mit einem ganz anderen Gefühl als zuvor, das in der Angst wurzelt, die durch den Mut des Volkes in einem höheren Maße als je zuvor ausgelöst wird. Er bezeichnete das Volk, das sich gegen ihn und sein Regime erhoben hat, wieder einmal schamlos als Agenten Amerikas, Saudi-Arabiens und Israels. Die Kurden und Belutschen, die von seinen Söldnern getötet wurden, hat er mit dem ausländischen "Feind" in Verbindung gebracht. Aus diesem Grund haben seine Worte die allgemeine Abneigung gegen ihn, die religiöse Autorität und die Islamische Republik nur noch verstärkt. …. Die Linkspartei Irans (Volksfadaian) betrachtet die Worte Khameneis als Ausdruck der Fähigkeit der iranischen Volksbewegung auf dem Weg zu Freiheit und Demokratie. Indem er die Bedeutung der großen Errungenschaften des Volkes hervorhebt, sind wir sicher, dass der Streit innerhalb des Regimes immer intensiver wird bis es kollabiert", heißt es in einer Erklärung der Linkspartei des Iran.[1]
Einheit der produktiven Klassen schaffen
Der oben zitierte iranische Professor für Politikwissenschaft und Völkerrecht sagt zur Frage des Sturzes des theokratischen Regimes: "Eine solche Forderung erfordert die Einheit eines Großteils der produktiven Klassen des Landes. Studenten, Akademiker, Journalisten und wir Lehrkräfte sind nicht genug. Das ist eine Bedingung, die heute nicht gegeben ist. Aber wenn das so weitergeht, ist es unvermeidlich, dass der Prozess irgendwann unumkehrbar ist."
Die kommunistische Tudeh-Partei des Iran unterstützt "die berechtigten Streiks und Proteste der Universitätsstudenten, hält aber ihre Verbindung mit anderen Protesten und Streiks des Volkes für eine absolute Notwendigkeit, wenn sie letztendlich die herrschende theokratischen Diktatur überwinden wollen". Die Tudeh-Partei weist darauf hin, "dass in der gegenwärtigen Situation, in der in mehr als 80 Städten Zehntausende von Jugendlichen, Frauen und Mädchen sowie Studentinnen und Studenten im Kampf gegen das Regime im Iran aufgestanden sind - mit Dutzenden von Toten und Hunderten von Verletzten -, die Präsenz der Arbeiter und Werktätigen, die in den letzten Jahren selbst einen entscheidenden Kampf gegen das Regime der Islamischen Republik geführt haben, noch nicht sichtbar ist. Die Beteiligung der Arbeiterklasse und der Werktätigen an diesem Kampf, um die Regierungs- und Wirtschaftsinstitutionen des Regimes lahmzulegen - und damit das Kräfteverhältnis zugunsten der Massenprotestbewegung zu verschieben - würde eine Schlüsselrolle bei der Herbeiführung grundlegender Veränderungen spielen".[2]
Anmerkungen