Im Interview

Istanbul_studDemo_122012_Kris_Mueller_05.12.2012: Es ist nun wieder alles beim Alten. Vor zwei Wochen hatten mehrere Tausend politische Gefangene ihren monatelangen Hungerstreik beendet. Die zaghafte internationale Kritik, welche angesichts möglicher Toten in den Gefängnissen an der türkischen Regierung geäußert wurde, scheint daher erübrigt. Doch dieses Schweigen ist nur die Akzeptanz des unerträglichen Normalzustands im faschistoiden Staat Türkei, mit mehr als 10.000 politischen Gefangenen. Unter ihnen befinden sich viele kurdisch Politiker_innen, Anwälte, Journalist_innen und Student_innen. Der Kampf für Frieden, Freiheit und Demokratie geht weiter.

Eine Gruppe von ehemaligen inhaftierten Student_innen verschiedener Universitäten und die Professorin Zeynep Kivilcim von der Initiative 'Solidarität mit inhaftierten Studierenden' [tr.: TÖDI] berichten über die aktuelle Situation, ihre Erfahrungen und die Folgen ihrer monatelangen Inhaftierung.

Frage: Wie viele Student_innen sind zur Zeit im Gefängnis?

Istanbukl_Yigit_Can_Yirmibes_122012_kris_muellerZeynep Kivilcim: Es ist sehr schwierig die wirkliche Zahl der inhaftierten Student_innen zu erfassen. Gerade wurden zehn Studierende freigelassen und zur gleichen Zeit weitere zwanzig inhaftiert. Einige der Freigelassenen, aber weiterhin Angeklagten, sind zur PKK gegangen. Oder sie haben die Universität abgeschlossen, aber die Verfahren gehen weiter. Viele der Student_innen sind mehrfach im Gefängnis gewesen und haben mehr als ein Verfahren gegen sich laufen. Aber die aktuelle Liste der Initiative umfasst mehr als 700 Namen gefangener Student_innen, wobei die Initiative davon ausgeht, dass es wohl weit mehr als diese sind. Viele der inhaftierten Student_innen wurden bereits verurteilt und haben sehr lange Freiheitsstrafen bekommen. Allgemein sind die Anklagen, die vorgebrachten Beweise und auch die Urteile, sehr identisch.

Frage: Was wird euch vorgeworfen und besteht eine Verbindung eurer Anklage zu den KCK-Prozessen?

Mehmet Özcan: Wir sind angeklagt, Mitglieder der Demokratischen Patriotischen Jugend [tr.: Demokratik Yurtsever Genclik - DYG] zu sein, welche als Jugendorganisation der KCK [dt.: Union der Gemeinschaften Kurdistans] gilt. Aber der eigentliche Grund unserer Verhaftung und unserer Bestrafung ist, dass wir auf Newroz-Festen demonstrierten und dem von der Polizei ermordeten Studenten Serzan Kurt gedachten. In unseren Akten findet sich nichts, was die Mitgliedschaft in Organisationen beweisen würde, wie zum Beispiel unsere angeblichen Funktionen in Organisationen, oder das wir Befehle erhalten hätten.

Zeynep Kivilcim: In der Türkei besteht eine besondere Gesetzgebung zum Kampf gegen den Terrorismus. In dieser gibt es zum einen die Anklage der Mitgliedschaft einer terroristischen Organisation und zum anderen die Anklage, zwar nicht Mitglied einer solchen Organisation zu sein, aber sich an Aktivitäten wie deren Mitglieder zu beteiligen. Diese Definition ist sehr schwammig, aber das Strafmaß ist das gleiche. Auf dieser Grundlage müssen sie nicht nachweisen, dass du ein Mitglied einer solchen Organisation bist. Es reicht kurdisch zu sein und auf Demonstrationen und Veranstaltungen zu gehen, um in diese Art von KCK-Prozesse verwickelt zu werden.

Frage: Das heißt also, die meisten Student_innen werden angeklagt Mitglied oder Unterstützer_innen einer terroristischen Organisation zu sein?

Mehmet Özcan: Ja. Aber der Grund warum wir verhaftet wurden ist, dass die Regierung darüber beunruhigt ist, dass wir revoltieren und uns versammeln, um deutlich zu machen, dass wir nicht so denken wie sie. Diese Beunruhigung zeigt sich dann in der Verfolgung aller, die gegen die Regierung protestieren. Sie werden in den so genannten KCK-Verfahren und Ergenekon-Prozessen verurteil. Wobei die Gründe des Protests und die Forderungen derer, die der Mitgliedschaft der KCK und Ergenekon angeklagt sind, natürlich sehr unterschiedlich sind.

Die Verhaftungswelle gegen Student_innen und die Repressionen gegen die kurdische Freiheitsbewegung sind nicht von einander zu trennen. Die Inhaftierungen müssen als ein Teil der großangelegten Kampagne gegen die kurdische Bewegung verstanden werden. Zu dieser zählt auch die Verfolgung von kurdischen Journalist_innen, Anwälten und Politiker_innen.

Sayma Özcan: Ich stehe nicht vor Gericht wegen des Vorwurfs der Unterstützung der KCK oder der DYG wie so viele andere Student_innen, sondern werde der Unterstützung der Devrimci Karargah [dt.: Revolutionäres Hauptquatier] beschuldigt. Mein Freund, mit welchem ich im gleichen Appartement gelebt habe, wurde auch verhaftet. Eigentlich wurde er der Unterstützung der Organisation beschuldigt. Die Polizei nahm meine ganzen Telefongespräche auf. Ich habe die Mitschriften in meinen Prozessakten gesehen. Es waren ganz normale Anrufe die ich mit meinem Freund oder gemeinsamen Freunden geführt hatte. Ob wir uns sehen würden, wo, wann und so weiter.

Ein weiterer Beweis für meine terroristischen Aktivitäten sollte sein, das ich versucht hatte einen Praktikumsplatz bei der Zeitung Özgür Gündem zu bekommen. Ich kannte eine Person von der Zeitung und diese hatte mir ihre Hilfe angeboten. Aber schlussendlich kam das Praktikum gar nicht zustande, ich habe also nie bei der Zeitung gearbeitet. Anklagen wie diese kommen eigentlich nur im Zusammenhang mit den KCK-Verfahren vor. Aber scheinbar wird Gündem als eine weitere terroristische Organisation betrachtet. Die Fragen, die mir von der Polizei gestellt wurden, waren meistens sehr private. Zum Beispiel warum ich mit meinem Freund zusammenlebe. Allein dieser Fakt war für sie schon der Beweis, dass ich die Organisation unterstützen würde.

In solchen persönlichen Fragen liegt ein großes Problem für viele angeklagte Studentinnen. Manchmal leben sie mit ihren Freunden zusammen und die Familien wissen nichts davon, denn es wird von den Familien nicht wirklich akzeptiert. In Verhören werden dann Studentinnen dazu gezwungen Informationen zu geben, weil ansonsten die Polizei den Familien sagt, dass ihre Tochter mit diesem oder jenem Mann zusammenlebt. Und manche der Studentinnen gaben Informationen genau aus dieser Angst heraus. Aus diesem Grund ist die Situation für viele Studentinnen im doppelten Sinne besonders schwierig.

Zeynep Kivilcim: Es gibt einen weiteren Fall den wir zur Zeit beobachten. Die Angeklagte, Emine Akman, war eine Studentin der Marmara-Universität. Sie wird beschuldigt einen Molotov-Cocktail geworfen zu haben. Sie wurde im August 2011 festgenommen, kurz nachdem sie das Appartement ihres Freundes verlassen hatte. Alle Verhöre bei der Polizei drehten sich darum, dass sie bei ihrem Freund wohne und ob ihre Eltern davon wüssten. Emine hat berichtet, dass sie im Gefängnis gefoltert wurde aber die Richter_innen interessiert das nicht. Sie interessierten sich mehr für ihr Privatleben. Und dann beleidigten sie sie dafür, dass sie mit diesem Mann zusammen lebte und sagten, dass es eine Schande für ihre Familie sei.

Frage: Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen den Verhaftungen und den akademischen Arbeiten der angeklagten Student_innen?

Mehmet Özcan: Es gibt viele verschiedene Beispiele, wo eine solche Verbindung besteht. So fand die Polizei bei einer Hausdurchsuchung ein Buch von Bejan Matur über die kurdische Bewegung, welches in öffentlichen Buchläden zu erhalten ist. Matur ist Schriftstellerin und Kolumnistin und schreibt auch für die Zeitung ZAMAN. Aber auch der Besitz dieses Buches wurde als Beweis terroristischer Arbeit betrachtet.

Sayma Özcan: Ein weiteres Beispiel sind Notizen, welche bei uns gefunden wurden. Wir machten eine Art Wissenswettbewerb unter uns Student_innen, mit Fragen und Antworten. Diese Notizen wurden dann mit in unsere Akten aufgenommen, als Beweis dafür, dass wir in unserer Wohnung theoretische Arbeit für eine terroristische Organisation machen würden. Neben diesen Notizen fand die Polizei Briefe und Artikel von unseren inhaftierten Kommiliton_innen. Aber natürlich können diese Schriften keine Informationen über Organisationen und politische Fragen beinhalteten, da die Briefe zuvor durch die Gefängnisadministration geprüft wurden. Aber allein, dass diese Briefe von Gefangenen geschrieben wurden, scheint als Beweis für eine terroristische Organisation genug zu sein.

Frage: Von welchen politischen Kräften erhalten die gefangenen Student_innen Unterstützung?

Mehmet Özcan: Wir Student_innen fordern nicht, dass sich allein für uns und unsere Rechte eingesetzt wird. Das Problem ist ja weitaus umfassender. Aber es gibt einige Gruppen und Organisationen welche auch zu unserer Situation Stellung beziehen. Zum Beispiel die Human Rights Association [tr.: IHD]. Aber auch die IHD spricht und demonstriert natürlich nicht nur über und für die Rechte gefangener Student_innen, sondern thematisiert vielmehr die Probleme aller politischen Gefangenen und Aktivist_innen der kurdischen Bewegung, von welcher sie auch ein Teil ist. Manchmal erhalten wir auch Unterstützung von der Gewerkschaft der Lehrer_innen EGITIM SEN, auch wenn sie nicht direkt Teil der kurdischen Bewegung ist.

Frage: Was sind die Konsequenzen der Inhaftierung für euch und welche Probleme habt ihr, wenn ihr nach so vielen Monaten wieder frei seit?

Mehmet Özcan: Wenn du an einer Demonstration in der Uni teilgenommen hast, kann diese Teilnahme zum einen zur Aufnahme eines "normalen" Strafverfahrens führen, gleichzeitig jedoch auch zu einem administrativen Verfahren der Universität gegen dich. Die administrative Strafe kann dann zum Beispiel sein, dass du für einige Monate oder Jahre suspendiert wirst und du deinen Status als Student_in für diese Zeit verlierst, wobei auch die Exmatrikulierung von der Universität möglich ist.

Safi Omat: Viele der Studierende welche Monate im Gefängnis waren, versuchten nach ihrer Freilassung weiter zu studieren, aber die administrative Bestrafung hindert sie daran. Meine Universität suspendierte mich für ein akademisches Semester. Ich war für ein Jahr im Gefängnis, aber die Universität führte diese Suspendierung nicht während meiner Zeit im Gefängnis durch, sondern begann damit, als ich wieder frei war. Aber die Zeit im Gefängnis hat auf alle Lebensbereiche Auswirkungen, nicht nur auf dein studentisches Leben, akademische Karriere und deine Zukunft. Auch die psychologischen Folgen sind schwerwiegend. Den ersten Wochen im Gefängnis kannst du vielleicht noch etwas Positives abgewinnen. Zum Beispiel hast du Zeit zu lesen, zu arbeiten und nachzudenken, aber nach drei oder vier Monaten wird das Gefühl eingesperrt zu sein schrecklich.

Sayma Özcan: Besonders sexuelle Belästigungen während Vernehmungen und Inhaftierungen haben starke Auswirkungen auf die Persönlichkeit und die psychische Verfasstheit weiblicher Gefangener und Studentinnen. Aber über diese Folgen wird meist geschwiegen.

Kenan Dede: Meine sozialen Beziehungen haben sich nach meiner Freilassung sehr verändert. Ich habe keine Geduld mehr, mich gegenüber Anderen zu erklären. Ich habe einfach das Gefühl, dass sie mich nicht verstehen. Allein mit meinen Freund_innen aus der Bewegung fühle ich mich entspannt. Eigentlich alle Student_innen welche inhaftiert waren sagen, dass sie nie wider ins Gefängnis gehen werden, unter keinen Umständen. Eher begehe ich Selbstmord, als wieder ins Gefängnis zu gehen, auch wenn es nur für einen Tag wäre. Ich kann noch nicht einmal in die Nähe der Stadt gehen, in welcher ich im Gefängnis war. Aber verstehe mich nicht falsch, meine politische Arbeit aufgrund dieser Angst aufzugeben, ist dabei keine Option für mich.

Yunus Cicek: Eine weitere Folge der Inhaftierung ist die ständige Angst vor möglicher Konfrontation mit der Polizei. Wenn du auf der Straße bist, und die Polizei hat irgendeinen Verdacht oder findet dich auffällig, können sie deinen Ausweis kontrollieren. Sie sehen dann, ob du gesucht wirst, oder im Gefängnis warst. Wenn die Polizei mich in Kadiköy oder auf der Istiklal anhält, beschimpfen und provozieren sie mich. Sie beschuldigen mich, für irgendwelche Bombenanschläge verantwortlich zu sein. Meistens arbeite ich einfach nur, verteile Broschüren und dann kontrollieren sie mich, manchmal gleich mehrfach an einem Tag. Nehmen mich mit auf die Polizeistation oder durchsuchen mich. Und das tun sie so, dass alle umstehenden es sehen. Und nach und nach fragst du dich, ob es noch möglich ist, in diesem Land zu leben.

Text/Fotos: Kris Mueller

Foto 1: Soli-Demo des Demokratischen Kongress der Völker [Halklarin Demokratik Kongresi] und des Jugendrats [tr.: genclik meclisi] für gefangene Studierende unter dem Motto: "Die Freiheit der politischen Arbeit an Universitäten kann nicht verboten werden!"

Foto 2: Bild des Studenten Yigit Can Yirmibes, der seit dem 10. April im Gefängnis ist.

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Farkha Festival Komitee ruft zu Spenden für die Solidaritätsarbeit in Gaza auf

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zum Text hier
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