21.07.2016: "Das Modell des Rentenstaates ist zusammengebrochen. Wir brauchen in aller Dringlichkeit eine Agenda, um den Weg zu einer produktiven Wirtschaft einzuleiten, die weder extraktiv noch ausschließlich auf den Export von Rohstoffen orientiert ist", sagt Rodrigo Cabezas im Interview. Rodrigo Cabezas ist Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Staatsuniversität des Bundesstaates Zulia im Nordesten Venezuelas. Als Vizepräsident der Vereinigten Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) ist er zuständig für internationale Fragen. Das Interview gibt einen Einblick in die aktuellen Wirtschaftsprobleme Venezuelas und die damit verbundenen politischen Folgen.
Frage: Der Präsident Venezuelas, Nicolas Maduro, hat gerade den wirtschaftlichen Notstand verlängert. Wie erklären Sie das Phänomen des Mangels an Versorgungsgütern in einem Land, das bedeutende, für das Garantieren einer wirtschaftlichen Stabilität geeignete Naturressourcen besitzt?
Rodrigo Cabezas: Die venezolanische Wirtschaft hat ein strukturelles Problem hinsichtlich ihrer extremen Abhängigkeit von der Öl-Rente. Die Zyklen der Ölpreise treffen uns. Das Absinken des Barrels Öl hatte einen Verlust von mindestens 62 Prozent des Wertes unserer Währung zur Folge. Damit das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2016 um 2 Prozent wächst, müsste der Preis für das Barrel Öl wieder auf 132 Dollar ansteigen. Aber der strukturelle Charakter unserer ökonomischen Probleme ergibt sich nicht nur aus dieser Preisschwankung. In unserer Krise verbinden sich die Ölabhängigkeit und die produktive Schwäche.
Der wirtschaftliche Notstand ist Gegenstand einer nationalen strategischen Debatte innerhalb der PSUV: das Modell des Rentenstaates ist zusammengebrochen. Wir brauchen in aller Dringlichkeit eine Agenda, um den Weg zu einer produktiven Wirtschaft einzuleiten, die weder „extraktiv“ noch ausschließlich auf den Export von Rohstoffen orientiert ist. Sie muss sich auf die Schaffung einer industriellen Plattform für Exporte konzentrieren. In dieser Hinsicht besitzt Venezuela Vorteile, besonders auf dem Gebiet des Öls, aber auch bei der Petrochemie, bei der Eisen- und Stahlindustrie, beim Aluminium. Diese Wirtschaftsweise ist möglich unter der Bedingung einer Öffnung für ausländische Direktinvestitionen, die von einem starken Staat reguliert wird. Damit unsere Wirtschaft auf dauerhafte Weise Fortschritte macht und unter sozialistischem Gesichtspunkt verteilt, ist der Finanzbedarf derart, dass wir das nicht nur mit unseren eigenen Mitteln machen können, auch nicht via Verschuldung.
Frage: Ausländische Investitionen gibt es schon, wie zum Beispiel auf dem Gebiet des Wohnungsbaus in Kooperation mit dem Iran…
Rodrigo Cabezas: Diese Investitionen sind nicht ausreichend, um ein solides wirtschaftliches Wachstum zu sichern. Eine der Charakteristiken des Chavismus, als der verstorbene Präsident Hugo Chaves noch im Amt war, war es, einen großen Teil der von der IV. Republik geerbten sozialen Passiva aufzufüllen. Bei unserem Machtantritt lebten 63 Prozent der Bevölkerung in einer Armutssituation. Wir haben das auf 27 Prozent im Jahr 2014 reduziert. Wir haben dank der bolivarischen Revolution eine bedeutende, historische innere Anstrengung unternommen, bekannt als „soziale Missionen“. Wir haben die öffentlichen Ausgaben auf das Gesundheits- und Bildungswesen konzentriert. In den Jahren 1980-1990 stellten die Sozialausgaben 16 Prozent der Gesamtheit der öffentlichen Ausgaben dar. Von 2004-2015 sind sie bis auf 46 Prozent des Staatshaushalts angewachsen. Die Armut ist stark zurückgegangen. Bildung ist ein inklusives Recht geworden: wir sind einer der Staaten, die die meisten Einschreibungen an den Universitäten aufweisen. Die UNESCO hat Venezuela in die Liste der von Analphabetismus freien Staaten aufgenommen. In der ersten Zeit war das Soziale ein beherrschendes Thema. Die Öl-Rente von 2004 – 2014 hat es uns trotz eines Falls des Barrel-Preises auf 100 Dollar infolge der Finanzkrise von 2009/10 ermöglicht, diese Sozialpolitik und Politik indigener ökonomischer Entwicklungen beizubehalten.
Aber wir haben keine Politik der Industrialisierung für den Export gehabt. Im Gegenteil. Wir sind sogar zurückgefallen, womit unsere extreme Öl-Abhängigkeit erhöht wurde. Vor 16 Jahren beliefen sich die Einnahmen aus nicht ölgebundenen Exporten auf 8 Prozent. Heute machen sie nur 4 Prozent aus.
Die grundlegende Analyse der bolivarischen Revolution ist es anzuerkennen, dass die Öl-Rente uns dazu geführt hat, die Bevölkerung in den Genuss von übertriebenen und unfassbaren Subventionen kommen zu lassen: wir verkauften den Diesel nicht, wir verschenkten ihn. Die nationale Ölgesellschaft PDVSA musste die Konzessionäre bezahlen, damit sie ihn für 8 Cent pro Liter verkaufen konnten. Das hat zu einer Verzerrung des inneren Marktes geführt. Unser alltäglicher Verbrauch sollte bei 420 000 Barrels pro Tag liegen, aber er liegt bei mehr als 600 000, weil niemand mit Diesel sparsam umgeht. Es ist üblich, den Wagen zu nehmen, um sich kaum zwei Straßen weiter zu bewegen. Das ist eine Frage der Kultur. Es ist dringend, eine produktive Wirtschaft aufzubauen, die unseren Rohstoffen einen Mehrwert zufügt, und eine Anstrengung zu unternehmen, um uns in den Rang eines Exportlandes zu erheben.
Frage: Wie wollen Sie eine der großen Anfälligkeiten der venezolanischen Wirtschaft, nämlich seine Hyper-Abhängigkeit von Agrar- und Nahrungsmittelimporten korrigieren?
Rodrigo Cabezas: Wir hatten bedeutende Störungen auf dem Gebiet der Agrarproduktion. Die Steigerung der Importe und die Unterstützung einer Art von überbewerteter Erpressung, das heißt ein billiger Dollar, haben die Importe und die Idee genährt, dass es leichter sei zu importieren als im Inland zu produzieren. Der inflationistische Prozess bis 2014 – gemäßigt um 20 Prozent – hat die Überbewertung und die Suche nach einem Dollar im Dienst des Imports mit etwa 6 Bolivar für einen Dollar verstärkt. Wir haben jüngst eine Anpassung des Wechselkurssystems vorgenommen. Denn bisher hat unsere Wechselkurspolitik in die Richtung unserer Import-Position gewirkt, womit die inländische Produktion gehemmt wurde. Im letzten Jahr haben die Reisenden aus Venezuela 5 Milliarden Dollar aus dem Land gebracht, gegenüber 2 Milliarden Dollar in den vorhergehenden Jahren.
Frage: Die Lohnerhöhungen gleichen die Preisexplosion nicht aus. Wie wollen Sie die Inflation bekämpfen, die zu Spannungen im Alltagsleben der Venezolaner führt?
Rodrigo Cabezas: Das Missbehagen sozialen Charakters erklärt sich aus dem Inflationsprozess. Er ist vor allem die Frucht des von den produktiven Sektoren geführten Wirtschaftskrieges, die Produkte zurückhalten und damit spekulieren. Sie haben Produkte gehortet, um Mangel zu erzeugen. Die Subventionen für manche Produkte waren der Grund für das „Bachaqueo“, wie es in Venezuela genannt wird, was nichts anderes ist als der Aufkauf von subventionierten Gütern zu sehr niedrigen Preisen, um sie dann sehr viel teurer weiterzuverkaufen. Ein Beispiel: das Mehl Harina Pan ist zu 19 Bolivar verkauft worden, während seine Herstellungskosten schon über 100 Bolivar lagen. Die Mafia-Netze haben sich dieser Ware bemächtigt, um sie für bis zu 500 Bolivar weiterzuverkaufen, womit sie einen Mangel und eine Inflation provozierten, die die Zentralbank nicht mäßigen kann. Dritter Faktor: Die großen Mafias haben in dieser Verzerrung der Preise die Gelegenheit gesehen, einen Schmuggel der Ausfuhr von Gütern an der kolumbianischen Grenze zu organisieren, womit der Mangel an Produkten und die Inflation geschürt wurden. Der Schmuggel mit Diesel hat zu einem auf 6 Milliarden Dollar geschätzten Verlust geführt, und der von Lebensmitteln und Pharmaprodukten von 8 Milliarden Dollar.
Wir gehen gegenwärtig zu Berichtigungen unserer Wechselkurspolitik über. Wir korrigieren auch die Preispolitik mit dem Blick darauf, die Orthodoxie des „Alles subventioniert“ aufzugeben. Die Tätigkeiten, seien sie handwerklicher oder auch landwirtschaftlicher Art, müssen ein Minimum an Rentabilität als solcher aufweisen, und nicht nur dank der vom Staat überwiesenen Ausgleichsvergütungen. Die Anpassungen mancher Preise haben eine Auswirkung auf die Löhne gehabt, aber wir haben es vorgezogen, einen Ausgleich zwischen der Produktion, den Preisen und den Löhnen zu suchen, eben den, den wir in den letzten drei Jahren verloren haben. Wir hoffen, aus der derzeitigen makroökonomischen Inflationskonjunktur herauszukommen in den ersten sechs Monaten 2017.
Frage: Staatschef Nicolas Madura hat die Schaffung von alternativen Strukturen zu den traditionellen Netzen der Verteilung von Produkten erwähnt, einschlie0lich solcher des Staates. Geht es dabei darum, dem Schmuggel entgegenzutreten, auf den Sie sich bezogen haben?
Rodrigo Cabezas: Es gibt eine soziale Notlage. Die Regierung hat zusammen mit der Volksmacht und den örtlichen Regierungen den Beschluss gefasst, in die Nahrungsmittelverteilung einzugreifen, um den typischen Warenkorb zu schützen. Wir haben die „Clap“ geschaffen, die örtlichen Komitees für Versorgung und Produktion, mit dem Ziel, dass die Produkte zu den unteren und am meisten benachteiligten Sektoren kommen, um so die maffiosen Kreisläufe des „bachaquero“ zu zerschlagen. Das ist eine zeitweilige Maßnahme, denn der Markt kann nicht ersetzt werden, wenn es Normalität ist, dass die Familien sich in den Geschäften versorgen. Aber die Spekulation mit Gütern ist derart, dass sie sogar eine Art „informelle Arbeit“ geworden ist.
Frage: Erklärt diese negative sozial-ökonomische Situation auch den von der PSUV registrierten Wahlrückschlag bei den Parlamentswahlen vom 6. Dezember zugunsten der Rechten?
Rodrigo Cabezas: Die Ergebnisse vom 6. Dezember waren durch die Wirtschaft geprägt- Das Volk hat nicht dafür gestimmt, dass die USA in unser Land eingreifen. Es hat nicht gestimmt für den Neoliberalismus oder gegen das Erbe von Präsident Chavez und die Sozialmissionen. Das Volk ist irritiert aufgrund der Versorgungsmängel, der Warteschlagen vor den Geschäften usw. Es hat also sein Unbehagen zum Ausdruck gebracht. Fast 800 000 Venezolaner, die den Chavismus unterstützten, haben ihren Zorn gezeigt, indem sie für die Opposition stimmten, ohne aber Mitglied derselben zu sein. Etwa 700 000 Wähler haben sich der Stimme enthalten. Das ist eine Kundgebung des Protests. Wir müssen diesen sozialen Raum wieder zurückholen. Die einzige Art dafür ist es, die Wirtschaft zu korrigieren. Der 6. Dezember ist die Frucht der Verschlechterung der Wirtschaftslage und unserer eigenen Fehler. Nicht alles kann der imperialistischen Strategie, dem Fall des Ölkurses angelastet werden. Unsere Unzulänglichkeiten bei der Wechselkurs- und Preispolitik hat Verzerrungen mit sich gebracht, die von der Opposition und dem amerikanischen Staatsdepartement mit Beifall aufgenommen worden sind. Die PSUV hat es anerkannt, denn im Allgemeinen gibt es innerhalb der Linken eine Kultur, die darauf hinauslkäuft, die Verantwortlichkeit für Niederlagen auf andere, auf das Volk zu schieben. Es gibt objektive Gründe für unseren Rückschlag.
Frage: Könnte die Rechte wieder anknüpfen an die Strategie der Gewalt in der Öffentlichkeit, wie das 2014 der Fall war, um die Regierung zu destabilisieren?
Rodrigo Cabezas: Die demokratischen Sektoren der Opposition sind gegen Gewalt. Die am meisten radikalen Rechten sind auf der politischen Ebene isoliert. Das Volk setzt auf Frieden. Es möchte, dass unsere Kontroversen in friedlicher und zivilisierter Weise gelöst werden. Die PSUV wie die Regierung von Präsident Nicolas Maduro sind die Garanten für dieses Vorgehen. Der Friede ist eine Pflicht, die wir in unsere DNA eingeschrieben haben. Die Ereignisse von 2014 haben als Lektion gedient, weil 47 Venezolaner ermordet wurden, aber auch auf Grund des Chaos und des Terrors, die in manchen Städten regiert haben, ähnlich wie den tödlichen Spannungen in der Ukraine. Manche Sektoren der Rechten haben aus dieser Tragödie gelernt.
Frage: Die Opposition möchte ein Abberufungs-Referendum gegen Präsident Nicolas Madura organisieren. Wie steht es damit?
Rodrigo Cabezas: Die vom Chavismus eingeführte Verfassung sieht diese Art von Konsultation vor. Um dies zu tun, sind mehrere Etappen zu absolvieren wie die Sammlung einer genauen Prozentzahl von Wähler-Unterschriften. Der Nationale Wahlrat (CNE) ist allein befugt, den ordentlichen Verlauf des Prozesses zu garantieren. Es gibt heute eine Polemik bezüglich des Datums von 2017. Wir sind der Ansicht, dass das Referendum im Jahr 2016 nicht organisierbar ist, die Opposition meint das Gegenteil. Aber in Venezuela ist es der CNE, der entscheidet, und wir werden seine Entscheidung respektieren, wie wir es immer getan haben. Wir sind niemals auf die Straße gegangen, um die Ergebnisse im Gefolge einer Wahlniederlage in Frage zu stellen, wie zum Beispiel beim Referendum von 2007 oder bei den Parlamentswahlen vom 6. Dezember. Das ist eine Demonstration des Bestehens einer Demokratie. Selbst wenn die Ergebnisse für uns nicht vorteilhaft sind, respektieren wir sie.
(Das Interview erschien in der französischen kommunistischen Tageszeitung „Humanité“ vom 15. Juli 2016)
Übersetzung: Georg Polikeit
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