22.12.206: Gilberto Valdés Gutiérrez ist stellvertretender Direktor des Philosophischen Institutes in Havanna und Koordinator der Forschungsgruppe GALFISA [siehe Anmerkungen unten]. In diesem Interview spricht er über das Verhältnis Kubas zu den emanzipatorischen Bewegungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent, die aktuellen Veränderungen in Kuba und über das Verhältnis von Ökonomie, Politik und Kultur.
Frage: Man betont häufig den Einfluss, den die kubanische Revolution auf die lateinamerikanische Linke gehabt hat. Doch spricht man wenig, sehr wenig davon, wie die kubanische Politik das verinnerlicht oder verarbeitet, was sich aktuell auf dem lateinamerikanischen Kontinent abspielt.
Gilberto Valdés: Für unser Projekt ist es ein zentrales Anliegen, uns den Kämpfen, die die Völker Lateinamerikas bewegen, anzunähern und zu verbinden. Unser Ausgangspunkt ist, dass Kuba eine Insel ist und dass wir, um diese großartige Metapher des Schriftstellers Virgilio Piñera von dem "verhängnisvollen Umstand des Wassers überall“ zu benutzen, permanent in einer Spannung mit der Isolierung leben. Außerdem ist es eine historische Tatsache, dass die Revolution eine grundlegend andere Gesellschaft als die der kapitalistischen Welt geschaffen hat, die uns umgab. Tatsächlich ist der revolutionäre Prozess jedoch nie isoliert verlaufen; wir leben und immer weiter in einem konstanten und kontinuierlichen Austausch mit der globalen Realität. Man muss eigentlich sagen, dass Kuba eine Nation im Aufbau ist, sehr offen und dass wir immer sehr zum Austausch bereit waren.
Als José Martí sagte, "auch wenn man unseren Republiken die Welt aufpfropfen will, muss der Stamm aber von unseren Republiken sein“, wollte er unsere Besonderheit, unsere Identität unterstreichen. Es war aber auch der Auftrag, die Welt in unseren Planeten einzubetten, uns der globalen Realität zu öffnen. Das ist GALFISA: konstante Synergie, Verbindung mit und Sympathie für die emanzipatorischen Prozesse in Lateinamerika und der Welt. Wir wollen die Beiträge all der Theorien bewerten und aufnehmen, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind und das Theoriekonzept für den Sozialismus in Kuba bereichern: Die Idee des "Buen Vivir“ (Gutes Leben) zum Beispiel, oder die Kämpfe der organisierten Frauen gegen das Patriarchat als Unterdrückungssystem.
All diese Nischentätigkeiten sind Potenzen, die im Konsolidierungsprozess in Kuba genutzt werden müssen, auch wenn unsere Realität - und hier kommen wir zurück zum "Wasser überall“ - weiterhin im Wesentlichen eine "Welt für sich“ ist.
Frage: Eine Welt für sich, die gerade einen der schwierigsten Momente ihrer Gegenwartsgeschichte erlebt. Der siebte Parteitag der Kommunistischen Partei hat erneut die Notwendigkeit unterstrichen, dass das ökonomische Modell "aktualisiert“ werden muss, um einen "Wohlhaben und Zukunft versprechenden Sozialismus“ zu erreichen. Wie erlebt die kubanische Gesellschaft diese vielschichtige politische Phase?
Gilberto Valdés: Wir gehen von zwei Voraussetzungen aus. Die erste ist die Offensichtlichkeit, dass wir vor der Verwirklichung tiefgreifender Veränderungen stehen, Veränderungen, die in eine entgegengesetzte Richtung zeigen, als die, in die uns die konservativen Kräfte aus dem Ausland drängen wollen. Denn es ist uns vollkommen bewusst, dass Kuba weder einen Übergang zu einer formalen, liberalen und bürgerlichen Demokratie will noch einen solchen braucht. Wir sind uns aber auch vollkommen darüber bewusst, dass wir nachdenken müssen, um eine Aktualisierung des Modells zu entwerfen und dann zu realisieren.
Die zweite Voraussetzung ist die Existenz eines privaten Sektors in Kuba, der sich aus einer Vielzahl von kleinen und mittleren Betrieben zusammensetzt. Das ist ein kapitalistisches Element, das sich strukturell äußert und das wir in der Vergangenheit nicht zu legalisieren oder zu regulieren wussten. Auf dem Parteitag hat Raúl Castro dazu etwas sehr Wichtiges und Entscheidendes gesagt: Wir haben uns hier vielfach die Realität schön geredet und waren deshalb nicht in der Lage, die soziale Wirklichkeit wahrzunehmen. Denn wir hatten die Vision oder Vorstellung eines vollständig verstaatlichten Sozialismus, von Eigentum ausschließlich in der Hand des Staates. Das war die vorherrschende Idee, unsere vorgestellte Idee, nicht aus den Konzeptionen von Marx, Engels und Lenin entwickelt, sondern Ergebnis einer sich im Entwicklungsprozess ergebenen historischen Verformung oder Entstellung. Aber dies ist unsere Geschichte, daher kommen wir und wir können sie nicht leugnen.
Es gibt eine unglaubliche Diskussion zu diesem Thema, eine sehr interessante Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Akteuren der kubanischen Gesellschaft und nicht nur in den institutionellen, führenden Kreisen der Politik. Es gibt Basisbewegungen und Basisvorstellungen in Kuba und wir nehmen sie auf, integrieren sie, um damit den revolutionären Prozess zu stärken. Ganz Kuba ist aufgerufen, die soziale Architektur des Landes neu zu gestalten und das Volk nimmt daran teil, ergreift das Wort, führt den Austausch, obwohl daran gearbeitet werden muss, dass dies sich stärker in der Presse widerspiegelt. Man denke nur daran, dass der letzte Parteitag die politischen Dokumente nicht beschlossen hat, sondern die formalen Voraussetzungen für den Beginn eines breit angelegten Diskussionsprozesses geschaffen hat, mit dem der Aufbau eines Konsenses rund um das Projekt verwirklicht werden soll.
Wir versuchen für diese Debatte Formen zu finden, wie wir eine Beteiligung vorantreiben können, die in der Lage ist auch die Vielfalt zu akzeptieren. Wir wollen die Vielfalt erkennen und verstehen, ohne dass dies bedeutet, sie in Unterschiedlichkeit oder Ungleichheit umzuwandeln. Im Gegenteil wollen wir die Vielfalt nicht dazu erkennen und verstehen, um sie zu atomisieren, sondern um sie zu gestalten und aus ihr einen Reichtum zu machen, der vervielfältigt, geschützt und respektiert werden muss. Die Vielfalt bereichert die Menschheit, aber sie muss gestaltet werden, damit sie humanistische Ziele erreicht. Mit dieser Philosophie und in diesem komplexen Kontext setzen wir darauf, einen erneuerten Sozialismus zu erschaffen. Ein Modell, das es uns erlaubt, den Weg zu einem Horizont des Volkseigentums zu stärken, mit Formen vollständiger Kooperation sowie auch mit diesem angehängten Sektor, der das private Eigentum zur Grundlage hat, das allerdings Gesetze beachten und ihnen vollständig unterworfen sein muss.
Frage: Es gibt große Teile der Bevölkerung, die mit positiven Gefühlen und mit Begeisterung die Liberalisierungsmaßnahmen sehen, die in einigen Wirtschaftsbereichen vorgenommen wurden. Welche politische Bedeutung hat dieses soziologische Phänomen? Und wie will man in Kuba mit der Frage nach dem Privateigentum umgehen?
Gilberto Valdés: Wenn wir aufmerksam betrachten, worauf uns all die kubanischen zivilgesellschaftlichen Basisgruppen hinweisen, sollten wir nicht dem Fehler unterliegen, den Staat und den Markt auf einer Linie zu sehen. Es gibt viele verschiedene Formen Wirtschaft zu betreiben, partnerschaftliche Formen und kooperative Formen, die in den Basisbewegungen als Gegenposition zur kapitalistischen Hegemonie durchgeführt werden und das nicht nur in Lateinamerika sondern auch in Europa und anderen Regionen der Welt.
Nun gut, in der aktuellen Phase kann die Aktualität der kubanischen Wirtschaft durch eine Art Dreibein dargestellt werden. Das Staatseigentum ist und bleibt noch immer das Fundament. Die zentrale Bedeutung des Staatseigentums aufzukündigen wäre tatsächlich für ein so kleines und ökonomisch schwaches Land wie Kuba der Selbstmord für unser sozialistisches Projekt. Gleichwohl muss diese Form des Staatseigentums erneuert werden: es müssen Formen der Mitbestimmung und des Genossenschaftswesens oder der Kooperation gefunden werden, Formen, die mehr produktive Effizienz und soziale Rationalität garantieren. Sie bilden die zweite Achse. An dritter Stelle haben wir die nicht staatlichen produktiven Formen. In der Vergangenheit dachten wir, dass sie a priori antisozialistisch seien, das war ein Fehler von uns. Im Gegenteil ist es eine Herausforderung, zu verhindern, dass dieser Sektor einer antisozialistischen Hegemonie Tribut erweist. Denn das Eigentum kann man nicht per Dekret eliminieren, das ist ein sehr komplexer historischer Prozess, der darüber hinaus mit der globalen Realität zu tun hat. Wir müssen es erreichen, dass sich diese Formen der Produktion unserem revolutionären Projekt anschließen.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir uns mitten in einer tiefgreifenden Arbeitsreform befinden zur Rationalisierung der Welt der Betriebe, der Förderung des Genossenschaftswesens in verschiedenen Wirtschaftszweigen und auf verschiedene Weisen. Auf Kuba gab es immer schon erfolgreiche Beispiele bei landwirtschaftlichen Kooperativen, aber in den letzten Jahren erleben wir die Entstehung neuer Genossenschaften im städtischen Umfeld, zum Beispiel im Dienstleistungssektor.
Wir unterstützen die Bildung von Kooperativen, wir begleiten diese Prozesse damit sie in nichtkapitalistischem Sinn erfolgreich sind, damit sie eine ethische, politische, soziale und gemeinschaftliche Vision haben, die in der Arbeit der einheimischen Bevölkerung verankert ist und nicht in der des globalisierten Kapitalismus.
Darüber hinaus verfolgen wir als Gruppe GALFISA und als Institut für Philosophie eine sehr interessante Arbeit: wir bringen das Genossenschaftswesen mit dem Auf-eigene-Rechnung-Sektor (Privatsektor) in Verbindung. Wir arbeiten daran, dass diese beiden Realitäten in einen Dialog eintreten und Ideen und Erfahrungen austauschen. Wir wollen den Privatsektor nicht zum Feind machen. Wir sprechen dabei von einer sehr komplizierten und schwierigen ideologischen Arbeit, denn es ist nicht allein eine Frage von Regeln und von Kontrolle.
Es gibt in der kubanischen Gesellschaft ein Defizit bei der Wertschätzung dieser alternativen Formen gegenüber dem Staat und dem Markt. Denn die Akteure, die für Kuba eine Rückkehr zum Kapitalismus suchen, setzen genau auf den Privatsektor, da im globalen und historischen Kontext einer Entpolitisierung der Massen die Ideologie des leichten Verdienens, des Reich Werdens in der kürzest möglichen Zeit, ein Mittel ist, um in diesem Bereich auf restaurative Wege hin zu orientieren. Die Vereinigten Staaten setzen beispielsweise darauf, die Strategie Obamas war es, sich mit diesen Gruppen zu treffen, die auf eigene Rechnung arbeiten. Wir Kubaner und Kubanerinnen jedoch nehmen diese Herausforderung an ohne uns Illusionen zu machen. Es ist ein Disput um Macht und Werte, ein Kampf um Ideologie, Politik, Kultur, Erkenntnis und es ist offen, wo der Hahn den Sieg ausrufen wird. Deshalb ist das gesellschaftliche und politische Engagement auf diesem Gebiet lebensnotwendig. Denn um diese ganze Bewegung in Kuba zu regieren, zu führen und zu orientieren, müssen wir jene empfindliche hegemoniale Arbeit realisieren, die ich "Erweiterung des nicht kapitalistischen Kulturkorridors“ nenne.
Frage: Außerhalb der Insel wird sehr viel über die Aktualisierung des ökonomischen Modells gesprochen. Sehr wenig wird dagegen darüber debattiert und informiert, wie sich dieser Prozess politisch äußert, wie über die Bedeutung und die Form der Volksmacht und die Demokratie in Kuba debattiert wird.
Gilberto Valdés: Es stimmt, dass es zu Beginn dieses Aktualisierungsprozesses eine Konzentration auf die ökonomische Frage gab. In Kuba gibt es einen Witz: Man sagt, dass es in diesem Land drei fundamentale Probleme gibt: das Frühstück, das Mittagessen und das Abendessen. Man kann nicht leugnen, dass das drängendste Problem das ökonomische gewesen ist, seit den 90iger Jahren eine dramatische Angelegenheit. Vor allem von Seiten der Frauen mit einer doppelten Arbeitszeit, der Hausarbeit und der Lohnarbeit. Daher ist die Konzentration auf die ökonomische Frage verständlich, aber man kann nicht leugnen, dass man manchmal dem Irrtum aufsitzt, einen ökonomistischen, alles ökonomisch betrachtenden Blickwinkel einzunehmen. Man kann das Ökonomische nicht unabhängig vom Politischen, vom Kulturellen sehen. Das Ökonomische erwächst aus dem Gesellschaftlichen und in der Welt der Aktiven, der kubanischen Intellektuellen, in den politischen Organisationen hat man viel darüber debattiert.
So kamen wir dahin, zu verstehen, dass die Herausforderung eine politische ist. Es muss ein hegemonialer sozialistischer Konsens aufgebaut werden, die Hegemonie eines Sozialismus, den wir unter den gegebenen Bedingungen errichten können. Die Überwindung des Modells der extremen Verstaatlichung wird sicher davon begleitet sein, dass einige Personen in dieser Bewegung eine Merkantilisierung oder Kommerzialisierung sehen werden. Zweifellos gibt es den Druck auf Kuba mittels einer Ausbreitung von Privateigentum zum entfesselten Kapitalismus zurück zu kehren. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir tun.
Anzuerkennen, dass wir das Privateigentum nicht eliminieren können, heißt nicht, dass wir ihm zentrale Bedeutung geben und freien Umgang damit zulassen, denn wir wollen und müssen ihm Grenzen setzen. Und um diesem Privateigentum Grenzen zu setzen, brauchen wir eine politisierte Bürgerschaft, die ein Bewusstsein über die reale Natur des Kapitalismus entwickelt hat.
Man kann es mit dem Bild von einem Garten und der Wildnis vergleichen. In der historischen Epoche, die wir gerade erleben, ist der Sozialismus wie ein Garten, der permanent gepflegt werden muss, damit er überhaupt existiert. Die kapitalistische Wildnis jedoch, taucht aus dem Nichts auf. Das, was heute eine Kleinigkeit ist, kann ein Krebs sein, der sich sehr schnell ausbreitet. Das Mittel, um dies zu verhindern, besteht in der Vergesellschaftung und Demokratisierung der Macht. Das ist eine Herausforderung für den historischen Sozialismus, die wir in vielen Aspekten annehmen, in anderen nicht. Und um uns dem zu stellen, müssen wir die Demokratie stärken. Wir haben eine Partei, eine einzige Partei, die nicht die Totalität repräsentiert, aber die überwiegende Mehrheit. Gut, wie Raúl sagt: dies muss eine Partei der gesamten Gesellschaft sein, eine demokratische Partei der Debatten und der Diskussion.
Deshalb sind wir dabei, eine institutionelle Neufassung des Wahlrechts zu diskutieren und zu studieren. Bei uns baut alles auf den territorialen Basisversammlungen auf. Die Mobilität jedoch, von dieser Ebene der Machtausübung nach oben, muss verbessert werden: vom Wohnviertel zur Nationalversammlung. Und wir sehen schon einen Prozess der Wertschätzung der Munizipalisierung (Dezentrale Formen kommunaler politischer Organisation).
Die Aufgabe, die sich GALFISA und viele andere Mitstreiter gestellt haben, geht in diese Richtung der Vertiefung der Volksmacht; die liberalen Lösungen der formalen Demokratie abzulehnen und die Beteiligung der Bevölkerung zu festigen, eben die substantielle Demokratie. Wir sind uns dessen bewusst, dass es den Verlust der Schönheit einer gleichberechtigten, gerechteren Revolution bedeuten wird, wenn unser Prozess die Fähigkeit verliert, das zu sein, was Fidel eine "Revolution der einfachen Leute, mit den einfachen Leuten und für die einfachen Leute“ genannt hat. Das ist der größte Beitrag Kubas für die Menschheit. Deshalb werden wir von der Welt beobachtet und beobachten uns unsere Freunde und es kümmert sie, was in Kuba geschieht.
Anmerkung: Gilberto Valdés Gutiérrez (geb. 1952 in Havanna) ist stellvertretender Direktor des Philosophischen Institutes und Koordinator der "Forschungsgruppe Lateinamerika: Sozialphilosophie und Axiologie (Lehre von den Werten)“ (Grupo de Investigación América Latina: Filosofía Social y Axiología, GALFISA). Das Philosophische Institut hat seinen Sitz in Havanna und ist dem Ministerium für Wissenschaft, Technologie und Umwelt zugeordnet.
Im Jahr 1994 – der Sozialismus in Europa war zusammengebrochen, der Neoliberalismus hatte weltweit gesiegt, Kuba kämpfte in der "periodo especial“ um das Überleben und in aller Welt wurden schon die Grabesreden auf das sozialistische Kuba geschrieben – hatte sich eine kleine Gruppe junger kubanischer PhilosophInnen zusammengefunden, um darüber zu beraten, wie es mit dem Sozialismus weitergehen kann. Ihre Losung: „Die Utopie ist realisierbar!“ Sie gingen davon aus, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein revolutionärer Zyklus zu Ende gegangen ist und die Formen der Revolution des 20. Jahrhunderts – weder der Typ der Oktoberrevolution noch derjenige der kubanischen Revolution – für das 21. Jahrhundert nicht mehr brauchbar sind. Ein neuer Typ von Revolutionen für ein neues Zeitalter müsse erarbeitet werden: "Revolutionen von Unten“ mit einer neuen, autonomen Rolle der sozialen Bewegungen zur Organisierung und Bewusstseinsentwicklung der unterdrückten Bevölkerung; "Einheit in der Vielfalt“ für einen emanzipatorischen Prozess der Befreiung von allen Formen der Unterdrückung.
Denn 1994 war nicht nur die Zeit, in der die Ideologen des Neoliberalismus das "Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) verkündeten, sondern in Lateinamerika deuteten sich auch bereits erste Risse in der Hegemonie des Neoliberalismus an. Am 1. Januar 1994 war die Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN, deutsch Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) erstmals mit einem bewaffneten Aufstand öffentlich in Erscheinung getreten. Ihr Sprecher, Sub-Comandante Marcos, entfachte mit den strategischen Konzeptionen der Zapatisten eine weltweite Debatte in der Linken über die Strategie zur Überwindung von Unterdrückung und Kapitalismus. Zudem hatten sich in vielen Ländern Lateinamerikas starke Bewegungen für die Verteidigung des Bodens, gegen die Privatisierung von Wasser und öffentlicher Infrastruktur und die Auslieferung der natürlichen Ressourcen an die Transnationalen Konzerne entwickelt; Initiativen gegen Sexismus, Homophobie und koloniale Diskriminierung vernetzten sich mit den Kämpfen um das Territorium, gegen Militarisierung, Korruption und Straffreiheit; eine neue Arbeiterbewegung war im Entstehen.
GALFISA stellt sich die Aufgabe, gesellschaftliche Forschungserfahrung zu entwickeln (das rein akademische Studium mit theoretischen Überlegungen zu vereinen, die im gesellschaftlichen Engagement verortet sind) und das gesellschaftliche Denken Kubas mit der Realität der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen in ganz Lateinamerika zu verknüpfen.
Vor diesem Hintergrund lud GALFISA im Januar 1995 AktivistInnen aus gesellschaftlichen Bewegungen und Basisgruppen, AkademikerInnen sowie den Bewegungen verbundene Intellektuelle aus ganz Lateinamerika zum ersten Treffen nach Havanna ein, um den internationalen Dialog für eine neue emanzipatorische Denkweise zu eröffnen. Diese Internationalen Seminare haben unter dem Titel "Paradigmas Emancipatorios" (emanzipatorische Denkweisen) inzwischen alle zwei Jahre stattgefunden. (Bericht vom 11. Treffen im Januar 2015: Havanna: "Die Utopie ist realisierbar!“)
"Emanzipatorische Paradigmen entstand als und bleibt noch immer ein Ort der Verknüpfung, um die akademische Welt mit der Welt der politischen Kämpfe näher zusammen zu bringen“, erläutert Gilberto Valdés Gutiérrez. "Wir bilden im Weltsozialforum zusammen mit anderen kubanischen Organisationen die kubanische Abteilung und arbeiten heute mit an der Gestaltung der gesellschaftlichen Bewegungen von ALBA (Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika). Das heißt, wir sind gleichzeitig Denker und Beweger, denn wir sind der festen Überzeugung, dass man das eine nicht unabhängig vom anderen betreiben kann.“
Die 12. Internationale Werkstatt "Paradigmas Emancipatorios - Berta Cáceres Vive” wird vom 9. – 12 Januar 2017 in Havanna stattfinden. kommunisten.de wird berichten.
Das Interview führte Davide Angelilli.
Übersetzung: Elisabeth Ospitaletche-Borgmann
Foto: lm
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