Literatur und Kunst

Der dänische Marxist Torkil Lauesen über "Imperialismus und Widerstand" und der "Globalen Perspektive"    
Der Kapitalismus ist untrennbar mit dem Imperialismus verbunden. So lautet die Kernthese von Torkil Lauesens Buch »Die globale Perspektive«, das nun auf Deutsch vorliegt. Schlussendlich geht es Lauesen aber um die praktischen Möglichkeiten – Visionen und Strategien – antiimperialistischen Widerstands im neoliberal globalisierten kapitalistischen Weltsystem.  
14.11.2022: Eine Buchbesprechung von Günther Stamer

 

Imperialismus – kaum ein Schlagwort wird zur Zeit so sinnentleert benutzt wie dieses. So erklärte beispielsweise Bundeskanzler Scholz in einem Gastbeitrag in der FAZ am 17.7.22 unter dem Titel "Der Imperialismus ist zurück in Europa", dass mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine, "der Imperialismus" wieder auf die politische Weltbühne zurückgekehrt sei. Und im gleichen Atemzug stellt er fest, dass die EU die "gelebte Antithese zu Imperialismus und Autokratie" sei.

"Aber war er denn je weg? China und Russland agieren 'imperialistisch', die USA und ihre stets willigen Partner dagegen 'verteidigen' sich – und sei es tausende Kilometer entfernt am Hindukusch. Oder sie 'helfen' – wie im Jemen, in Mali oder in Libyen. Ob diese 'Hilfe' Millionen Tote mit sich bringt und die von ihr beglückten Nationen als 'Failed States' zurücklässt, spielt dabei keine Rolle. Imperialisten sind immer die anderen," schreiben die Herausgeber:innen (Lower Class Magazine) in ihrem Vorwort zu Torkil Lauesens jetzt auf deutsch erschienenem Buch "Die Globale Perspektive. Imperialismus und Widerstand."

Was ist Imperialismus?

Lauesen orientiert sich in seinem Buch am Imperialismus-Begriff Lenins, den er in seinen Untersuchungen über die grundlegenden ökonomischen Veränderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte ("Der Imperialismus als höchstes Stadium [jüngste Etappe] des Kapitalismus" 1917). Danach ist "Imperialismus" der Kapitalismus in seinem "monopolistischen" Stadium. Lenin arbeitet die veränderte Rolle der Banken (Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital zu Finanzkapital) und die Rolle von Kapitalexporten bei der Aufteilung der Welt in Interessensphären heraus.

Lenin Imperialismus

Für Lauesen ist besonders Lenins Untersuchungen über den "Parasitismus" der imperialistischen Nationen von aktueller Relevanz. Will sagen: Die in den imperialistischen Zentren beheimateten Monopolkonzerne eignen sich den Mehrwert aus der ganzen Welt an und sind damit in der Lage, einen kleinen Teil der Beute an die privilegiertesten Arbeiterschichten der eigenen Nation weiterzugeben, um sich damit den sozialen Frieden in ihren Ländern zu erkaufen.

Lauesen fasst den Imperialismus-Begriff allerdings noch weiter als Lenin. Für ihn ist die kapitalistische Produktionsweise des "Globalen Nordens" von Beginn an insofern "imperialistisch", als sie nur durch Eroberung, Plünderung, Ausbeutung und Kolonisierung des "Globalen Südens" Bestand haben konnte.

Dies schildert der Autor im ersten Teil ("Die Geschichte des Imperialismus") seines in drei Teile strukturierten Buches. Er schreibt: "Zwischen 1000 und 1500 war die Welt in drei Blöcke aufgeteilt: China und Indien waren ökonomisch und politisch am weitesten fortgeschritten, der Nahe Osten war der Nabel des Welthandels und Europa war ein Teil der Peripherie." Das änderte sich im 15. Jahrhundert mit Eroberung der sog. Neuen Welt und die Ausbeutung ihrer Reichtümer durch die europäischen Staaten; es folgte die Kolonisierung großer Teile Asiens uns Afrikas. "Für die nicht-europäische Welt war der Kolonialismus eine Katastrophe. Der nicht-europäische Anteil der Weltbevölkerung fiel zwischen 1500 und 1900 von 83 auf 62 Prozent."[1]

Arbeiterbewegung des Globalen Nordens und der Kolonialismus / Neokolonialismus

Lauesen zeigt, wie die sozialdemokratischen Massenparteien der Zweiten Internationale - im Bestreben, die Interessen der Arbeiterklasse mit denen des bürgerlichen Staates in Einklang zu bringen – kaum Kritik an der herrschenden Kolonialpolitik äußerten. Als bei dem Kongress der Internationale 1907 in Stuttgart der Kolonialismus auf der Tagesordnung stand, erklärte Eduard Bernstein für die deutsche Sozialdemokratie: "Eine gewisse Vormundschaft der Kulturvölker gegenüber den Nichtkulturvölkern ist eine Notwendigkeit, die auch Sozialisten anerkennen sollten. (,…) Das Wohl unserer Wirtschaft beruht auf Produkten aus den Kolonien, mit denen die Eingeborenen nichts anzufangen wussten."[2]

Demgegenüber maßen Lenin und die Kommunistischen Parteien der Komintern dem Internationalismus eine entscheidende Rolle zu. In einer Resolution auf dem Gründungskongress der Komintern in Moskau 1919 hieß es: "Auf Kosten der beraubten kolonialen Völker korrumpierte das Kapital seine Lohnsklaven, schuf die Interessengemeinschaft zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern gegenüber den unterdrückten Kolonien – gelben, schwarzen, roten Kolonialvölkern – fesselte die europäische und amerikanische Arbeiterschaft an das imperialistische Vaterland."[3]

Ausführlich schildert Lauesen, wie auf den nachfolgenden Kongresse der Komintern und in der von ihr gegründeten "Liga gegen den Imperialismus" darum gerungen wurde, die Einheit des Kampfes der Arbeiter:innen-Bewegung des kapitalistischen Zentrums mit der der Kolonien und den dortigen antikolonialen Befreiungsbewegungen herzustellen – mit unterschiedlichem Erfolg: Während diese Bemühungen im Globalen Süden (z.B. in China und Indochina) sehr erfolgreich waren (Schaffung einflussreicher Kommunistischer Parteien und erstarkende antikoloniale Befreiungsbewegungen), blieben die Erkenntnisse und praktischen Schlussfolgerungen in den imperialistischen Zentren eher gering.

Die Herausbildung eines sozialistischen Lagers nach dem Zweiten Weltkrieg als Gegengewicht zu den alten imperialistischen Kolonialmächten schuf dann neue Freiräume für antikoloniale Bewegungen. Indien/Pakistan (1947), China (1949) und viele weitere asiatische und afrikanische Länder erlangten in den 60er Jahren ihre Unabhängigkeit. Doch nichts änderte sich grundsätzlich am Charakter des Imperialismus – er suchte nun über seinen "Neokolonialismus" die ehemaligen Kolonien ökonomisch unter seiner Gewalt zu halten. Lauesen konstatiert, dass auch zur Zeit des "Kalten Krieges" und nachfolgend während des "Neoliberalismus" das weitestgehende Desinteresse europäischer Arbeiter:innen und ihrer Organisationen am Schicksal der Ausgebeuteten in Asien, Afrika und Lateinamerika als politische Konstante blieb.

"Parasitärer Staat" und Arbeiteraristokratie. Dependenztheorie

Die Gründe für den fehlenden proletarische Internationalismus des Globalen Nordens liegen nach Lauesen in der Verbindung von "parasitärem Staat" und "Arbeiteraristokratie". Dabei bezieht er sich theoretisch auf den dänischen Marxisten Gotfred Appel (1924; † 1992).

Appel erarbeitete die sog. "parasitäre Staatstheorie", die besagt, dass sich die Arbeiterklasse in Westeuropa und den Vereinigten Staaten, dem "Globalen Norden", in einer doppelten Situation befindet: Sie wird in der Produktion ausgebeutet und schafft Mehrwert, wird aber gleichzeitig bestochen, da ihr Lebensstandard und damit ihre wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse auf jahrzehntelanger Beteiligung an der kolonialen und neokolonialen Ausbeutung beruhen. Der Bestechungsfaktor und die daraus immer weiter wachsende "Arbeiteraristokratie" seien der Grund, warum die revolutionäre Bewegung in Westeuropa klein gehalten wird. Erst wenn sich der "Globale Süden" vom Imperialismus befreit und damit die Grundlage für den Superprofit der reichen Länder beseitigt hätte, gäbe es in Westeuropa einen fruchtbaren Boden für revolutionäre gesellschaftliche Veränderungen.

Im Mittelteil seines Buches stellt Lauesen Forschungen vor, die sich ab den 60er Jahren intensiv mit modifizierten Imperialismus-Theorien beschäftigt haben. So die us-amerikanischen Ökonomen Paul Sweezy, Harry Magdoff, Immanuel Wallerstein, der Grieche Arghiri Emmanuel und der Ägypter Samir Amin. Verallgemeinernd können sie als "Dependenztheoretiker" bezeichnet werden, die (bei allen Unterschieden) von folgendem Grundmodell ausgehen: Der Imperialismus ist ein System mit einer "Metropole", bestehend aus Nordamerika, Westeuropa und Japan (der "Triade") sowie einer "Peripherie", dem Globalen Süden. Die Länder der Peripherie versorgen die Metropole mir Rohstoffen und Waren, produziert von billigen Arbeitskräften. Da das politische und ökonomische Machtzentrum in der Metropole liegt, hat diese kein Interesse daran, dass sich in den ausgebeuteten Ländern eine dynamische Wirtschaftsentwicklung vollzieht, die auf dem Weltmarkt zu einem Konkurrenten werden könnten. Wie diese globalen Dependenzbeziehungen im neoliberalen Kapitalismus funktionieren und was das für die Menschen des Globalen Südens bedeutet, schildert der Autor in Teil II ("Der globale Kapitalismus") an vielen Beispielen seines Buches.

Und welche Rolle spielt China?

Nach zwei Drittel des Buches hat der Lesende den Eindruck, dass Lauesen – ganz im Duktus von Samir Amin – daraus schlussfolgert: Der einzige Weg zur wirklichen politischen und ökonomischen Unabhängigkeit der Länder des Globalen Südens besteht darin, sich vom kapitalistischen Weltmarkt rigoros abzukoppeln. "Der ungleiche Tausch kann nur beendet werden, wenn die Länder der Peripherie nicht mehr länger die Bedürfnisse der Länder des Zentrums bedienen. In der Metropole würde es dadurch zu einer Krise kommen, die dann den historischen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit auflöst.[4]

Aber dann kommt China ins Spiel und der Lesende merkt, wie Lauesen ins Grübeln kommt. China, ökonomisch und politisch die dominierende Kraft des Globalen Südens, hat seit den 70er Jahren genau das Gegenteil gemacht. Statt sich von der imperialistischen Weltwirtschaft abzukoppeln hat sich China über unzählige Fäden mit dem Weltmarkt verwoben und ist spätestens seit der Finanzkrise 2007 zu einem entscheidenden Stabilisator der Weltökonomie geworden. In dem Kapitel "Sozialismus, der chinesische Weg"[5], zeichnet Lauesen in groben Zügen die Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas und der Volksrepublik von 1921 bis zur Gegenwart nach. Seine Schlussfolgerung fällt sehr zwiespältig aus. Aus seiner Sicht hat der "Dengismus" zu einer "staatskapitalistischen Entwicklung" geführt, in deren Folge China von einem der Länder der Welt mit den geringsten Einkommensunterschieden zu einem mit dem höchsten wurde. "Die Zukunft wird zeigen, ob die Planökonomie Chinas die Integration des Landes in den globalen Kapitalismus übersteht, oder ob aus China ein neoliberales Land wie alle anderen wird."

Andererseits stellt er positiv heraus: China "fordert die globale Herrschaft der Triade heraus und zielt auf eine polyzentrische Machtverteilung ab. In internationalen Debatten steht die chinesische Regierung für die Interessen des Südens ein. Ihr Einfluss in Asien, Afrika und Lateinamerika wächst. Sie investiert in Infrastrukturprojekte, etabliert Entwicklungsbanken und versucht den Geist von Bandung wieder aufleben zu lassen." Jüngstes Beispiel: Senegal etwa, baut stellvertretend für ganz Westafrika die Beziehungen zum BRICS-Bündnis aus, in dem dort im Oktober 2022 offiziell eine BRICS-Repräsentanz eröffnet wurde.

"Kriegsopposition war immer Teil des Antiimperialismus"

Schlussendlich geht es Lauesen in seinem Buch um das Ausloten praktischer Möglichkeiten und Strategien antiimperialistischen Widerstands im neoliberal globalisierten kapitalistischen Weltsystem. "Es steht viel auf dem Spiel. Wird das System sich selbst durch eine ökologische oder nukleare Katastrophe zerstören, die die ganze Welt mit sich in den Abgrund reißt?"

Lauesens Schlussfolgerungen lauten:

  • "Die NATO wird in naher Zukunft in zahlreiche Konflikt involviert sein. Krieg und Imperialismus gehen Hand in Hand. Kriegsopposition war daher immer Teil des Antiimperialismus. Das betrifft Konfrontationen zwischen imperialistischen Ländern genauso wie Aggressionen gegen den Globalen Süden."[6]
  • Aber auch die "bloße Ökonomie" wird zunehmend zur Waffe, und zwar in Form von Sanktionen, Wirtschaftsblockaden, Handels- und Wirtschaftskriegen. Um dem entgegen zu wirken, bedarf es gemeinsamer Kämpfe der Arbeiter:innenklasse des Globalen Nordens und Südens.
  • Nationalismus hat sich immer als großes Hindernis für progressive Entwicklungen erwiesen. Beispiel: Die nationalen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts brachten dem Globalen Süden weder einen Sozialismus noch dauerhaft Ausbrüche aus neokolonialen Strukturen.
  • "Das Minimum, das wir brauchen, ist eine Art 'Rettungsboot-Sozialismus', wo gerechte Verteilung und ein nachhaltiger Gebrauch von Ressourcen den individuellen Konsum als Motor der Wirtschaft ablösen. Weniger reicht nicht, um zu überleben, und selbst das erfordert eine neue Weltordnung."[7]

Mein Fazit

Im Klappentext zur "Globalen Perspektive" heißt es, dies sei gleichermaßen ein Einführungs- und Diskussionsbuch. Das kann uneingeschränkt unterstrichen werden. Es bietet einen informativen Überblick über die Geschichte des Kapitalismus/Imperialismus vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart – und zwar perspektivisch betrachtet vor allem aus dem Blickwinkel des ausgebeuteten Teils der Welt, des Globalen Südens. So kommen in dem Buch ausdrücklich auch antikoloniale und antiimperialistiche Theoretiker zu Wort: Mao, Ho Chi Minh, Che Guevara, Kwame Nkrumah (Ghana), Amilcar Cabral (Guinea-Bissau), Julius Nyerere (Tansania). Und der Autor gibt Einblicke in das Theorie-Praxis-Verständnis der zapatistischen Bewegung und wirft einen Blick auf die Sozialforums-Bewegung.

Zur Diskussion anregen werden vor allem Fragen zur Rolle und Zukunft der Arbeiterbewegung im Globalen Norden (Gewerkschaften und Parteien), die von Lauesen m.E. zu apodiktisch und daher "undialektisch" postuliert werden. Und natürlich lässt sich unter Linken trefflich und vor allem kontrovers über China streiten.

Ich habe das Buch als inhaltliche Bereicherung empfunden, in Ergänzung zu Büchern mit ähnlichen inhaltlichen Fragestellungen wie z.B. bei Frank Deppe "Sozialismus im 21. Jahrhundert" [8] oder Brand/Wissen, "Imperiale Lebensweise" sowie Stephan Lessenich "Neben uns die Sintflut". [9]

Zum Autor:

DK Torkil LauesenTorkil Lauesen war Mitglied der Blekingegadebanden (Blekingegade-Bande), einer linken, bewaffneten Untergrundorganisation, die von Dezember 1972 bis Mai 1989 politisch motivierte Banküberfälle verübte und mit dem erbeuteten Geld Befreiungsbewegungen unterstützte (so z.B. die Palästinenserorganisation PFLP). Lauesen gehörte zu den zu zehnjähriger Haftzeit verurteilten Mitgliedern, die Ende 1995 auf Bewährung freigelassen wurden. Heute ist Torkil Lauesen ein unabhängig Forschender im Bereich der marxistischen Ökonomie und Dependenztheorie. 2017 wurde sein Buch "Die Globale Perspektive" im Dänischen, 2018 im Englischen veröffentlicht – und jetzt auch auf deutsch.

 

Fußnoten

[1] S. 35/61
[2] Internationaler Sozialisten-Kongress Stuttgart 1907. Vorwärts-Verlag Berlin 1907, S. 28. Zit nach: Lauesen, S. 97
[3] Zit nach Lauesen S. 108
[4] Lauesen, S. 185
[5] S. 318-337
[6] S. 400
[7] S. 257
[8] Der Trümmerhaufen als Aussichtsturm
Frank Deppe: "Sozialismus. Geburt und Aufschwung - Widersprüche und Niedergang - Perspektiven"
https://www.kommunisten.de/rubriken/kultur/8535-der-truemmerhaufen-als-aussichtsturm
[9] Leben wie Trump in "America"? Aktuelle Bücher hinterfragen die "imperiale Lebensweise" 
https://www.kommunisten.de/rubriken/kultur/6797-leben-wie-trump-in-qamericaq-aktuelle-buecher-hinterfragen-die-qimperiale-lebensweiseq

 

Buch Die globale Perspektive Torkil Lauesen


Torkil Lauesen

Die Globale Perspektive. Imperialismus und Widerstand

400 Seiten, 24 Euro

Unrast-Verlag, Münster 2022

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