06.02.2024: Tracy Chapman erobert mit "Fast Car" 36 Jahre später die Bühne, ein Song, der den amerikanischen Mythos einer gnadenlosen Kritik in Sachen Klasse und Geschlecht unterzieht.
von Alberto Piccinini (il manifesto)
36 Jahre ist es her, seit der Hit «Fast Car» von Tracy Chapman die Charts eroberte. Am Sonntag erlebte das Lied bei den Grammy Awards in Los Angeles eine Renaissance. Der Sänger Luke Combs performte eine Coverversion des Songs, worauf plötzlich auch Tracy Chapman mit ihm auf der Bühne stand.
Wenn Sie fünf Minuten Zeit haben, sehen Sie sich Tracy Chapman bei der Grammy-Verleihung in Los Angeles an. Sie ist mit Fast Car überall in den sozialen Medien. Gestern Morgen sind viele von uns darauf hereingefallen, es klang wie eine dieser alten Audiokassetten, die jeder technologischen Apokalypse entkommen sind und die der Protagonist in Wim Wenders' Film Perfect Days im Van spielt, während das Leben an ihm vorbeizieht. "You've got a fast car: "You've got a fast car/I want a ticket to go anywhere/let's make a deal/and go together".[duetsche Übersetzung hier] Mit der gleichen präzisen Stimme wie damals, ihr Haar ergraut. Wie unseres. Diejenigen, die eine Träne darüber vergossen haben, müssen sich nicht schämen.
Tracy Chapman & Luke Combs Perform Fast Car at the Grammys 2024
Wie viel Jahre hatte ich sie nicht mehr gesehen? Ungefähr zehn. Zurückhaltend, schüchtern, sehr wenige Interviews, Tracy Chapman war eine Ikone in den Tagen der Wohltätigkeits-Rockkonzerte, sie hat seit 2009 keine Platte mehr aufgenommen. In einer der letzten Folgen der Letterman Show sang sie Ben E. Kings "Stand by Me" mit dem Respekt, der einem Stück Geschichte gebührt, der Fähigkeit, jedes Liebeslied in eine gesellschaftliche Angelegenheit zu verwandeln und umgekehrt: "Whenever you're afraid/ Stand by me". Das ist es, was uns die afroamerikanische Kultur schon immer gelehrt hat, vom Gospel von Mahalia Jackson über den Blues von Bessie Smith und Ma Rainey bis hin zu den Übersetzungen von Dylan und Springsteen. Die Geschichte eines einzelnen Menschen als die Geschichte von uns allen.
Vor sechsunddreißig Jahren kam Fast Car wie aus dem Nichts zu uns. Nach einer Weile kannten wir es alle, diejenigen, die nur Francesco Guccini (Anm.: einer der bekanntesten italienischen Liedermacher) gehört hatten, und diejenigen, die bereits auf Raves zu Techno groovten.
Tracy Chapmans Stimme hatte die Zärtlichkeit und Entschlossenheit der Protagonistin, die mit einer alleinstehenden Mutter und einem alkoholkranken Vater aufwächst, kaum zur Schule geht, in einem Tante-Emma-Laden arbeitet, um ein paar Dollar zu verdienen, und mit ihrem Freund in die Stadt zieht, um "herauszufinden, was es bedeutet zu leben". Ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt, wird in den Strophen nicht gesagt, die englische Grammatik hilft dabei.
Der Song wurde zu einer Hymne der Igbt+-Bewegung, vor allem nachdem die Schriftstellerin Alice Walker ungewollt eine lange Liebesaffäre mit der Songwriterin aus Cleveland offenbarte. So funktionieren alle Songs, in denen es einen Ort gibt, an dem man "das Gefühl haben kann, jemand zu sein (...) Die Lichter der Stadt vor uns. Und dein Arm fühlte sich gut an auf meiner Schulter", Gloria Gaynor, die Pet Shop Boys, und so weiter.
Fast Car ist ein Lied, das sowohl zärtlich als auch hart ist, wie man allmählich am Tonfall der Stimme erkennt, die es singt, denn es erzählt so schön von einem zerbrochenen Traum. Hart, indem er den amerikanischsten aller Mythen, Liebe, Flucht, Wiedergeburt, Rock'n'Roll, einer gnadenlosen Kritik in Sachen Klasse und Geschlecht unterwirft, ohne ein anderes Erklärungsmuster zu verwenden. Strophe für Strophe wird das gleiche schnelle Auto zum Wrack, zum Kadaver eines Traums. "Du hast ein schnelles Auto/ und ich habe einen Job, der all unsere Rechnungen bezahlt/ Du hängst bis spät nachts in der Bar und trinkst/ Siehst deine Freunde öfter als unsere Kinder."
Ein bisschen wie The River, der Springsteen-Song, in dem der Protagonist seine Träume in demselben Fluss sterben sieht, in dem sie geboren wurden. Aber aus dem umgekehrten Blickwinkel. In einem immer enger werdenden Kreis durchlebt die Protagonistin das Leben, das vor ihr das ihrer Mutter war, und versucht mit aller Kraft zu entkommen. Aber allein kann man nicht entkommen, auch nicht diejenigen, die es versuchen.
Warum sprechen wir 36 Jahre später immer noch über Fast Car? Weil der Country-Sänger und Songwriter Luke Combs letztes Jahr eine Version davon aufgenommen hat, die bei spezialisierten Radiosendern und sogar auf TikTok viral ging. Wir wissen immer zu wenig über die Welt von Nashville, wo das weiße, tiefsinnige und manchmal sehr verunsicherte Amerika schon immer vertreten war. Combs, ein 33-Jähriger, der in der vergangenen Nacht auf der Bühne stand und mit Tracy Chapman mitsang, sagt, es sei der erste Song, an den er sich aus dem Autoradio seines Vaters erinnert. So dürfte es auch Taylor Swift ergangensein, der superpreisgekrönten Königin des Pop, die gestern Abend im Grammy-Publikum zu sehen war, als sie den vollen Text des emotionsgeladenen Fast Car mitsang. Sowohl Combs als auch Taylor Swift bekennen sich zu den Demokraten. Combs hat es geschafft, zum ersten Mal eine lesbische, feministische schwarze Frau in das Heiligtum des amerikanischen Country zu bringen. Taylor Swift gehört bekanntlich offiziell zu den Zielscheiben der Trumpianer, die in ihr eine Geheimwaffe der großen Verschwörung der Pädophilen und so weiter sehen.
Alle großen Lieder sind in der Lage die Zeit anzuhalten und den Schmerz zu lindern: Chapmans Fast Car ist immer bereit, wieder loszufahren, mit der gleichen Gewissheit, dass es morgen besser sein könnte, dass es besser werden wird.
Tracy Chapman - Talkin' About A Revolution
https://youtu.be/Xv8FBjo1Y8I
deutsche Übersetzung hier
übernommen von il manifesto