22.08.2018: Griechenland beendet Zeit der Memoranden und der Kontrolle durch die Troika ++ Dokumentiert: Rede von Premierminister Alexis Tsipras zum Abschluss der Memoranden
Am Montag, 20. August, hat Griechenland das 3. Kreditprogramm und die Kontrolle durch die Troika beendet. Acht Jahre aufdiktierter Kürzungsprogramme und inhumaner Austerität liegen hinter dem Land und seiner Bevölkerung. Internationale Finanzmärkte, Europäische Zentralbank, Europäische Kommission und Internationaler Währungsfond trieben Griechenland in die größte Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, warfen Millionen von Menschen in die Verarmung, zerstörten die größten Teile der Mittelschicht, zerstörten Löhne und ruinierten stabile Arbeit, zwangen eine halbe Million Griechen zur Migration, zerschlugen das Gesundheitswesen und führten zu einer Verschuldung von mehr als 30.000 Euro für jede Griechin und jeden Griechen im Alter von 0 bis 99 Jahren. Eine ganze Generation junger Griech*innen wurde ruiniert, die sich unabhängig von ihren Fähigkeiten und ihrer Ausbildung mit einem Lohn von 300-400 Euro mit Teilzeitjobs in Cafés und Fast-Food-Betrieben zufrieden geben müssen. Die Verschuldung Griechenlands stieg auf 345 Milliarden Euro.
siehe auch ESM zahlt letzte Tranche von 15 Mrd. EUR. Griechenland verlässt Zwangsjacke der »Rettungspakete« |
Der griechische Premierminister Alexis Tsipras verkündete am 21. August in einer Rede auf der griechischen Insel Ithaka das Ende der 2010 begonnenen Programme und Auflagen der Troika. "Am Montag endete das Finanzhilfeprogramm für Griechenland offiziell", sagte der griechische Ministerpräsident. Dieser Tag markiere den "Beginn einer neuen Ära", versprach Tsipras.
"Mit dem Abschluss des laufenden Kreditprogramms ist Griechenland seinen Gläubigern noch längst nicht entronnen. Ein wichtiger Schritt zu mehr Souveränität ist aber getan. SYRIZA kann nun mit einer detaillierten Wachstumsstrategie in den nächsten Wahlkampf ziehen. Nach und nach werden sich die Spielräume zur Verbesserung der sozialen Lage erhöhen. Ab sofort endet die Ära, in der jegliche Maßnahme bis ins Detail mit den Gläubigern abgestimmt werden muss. SYRIZA hat versucht, aus schwierigsten Umständen das Beste zu machen. Ein tiefgreifender Wandel lässt sich nicht per Ordre de mufti beschließen. Argumente, Griechenland hätte sich mit einem Ausstieg aus dem Euro bessere Politikchancen verschafft, haben mich nie überzeugt. Entsprechende Pläne setzen Zugeständnisse der europäischen Partner voraus, die unrealistisch sind." |
Wir dokumentieren die Rede von Alexis Tsipras, Ministerpräsident von Griechenland, anlässlich des Abschlusses des 3. Kredit-Programms (2015-2018)
"Heute ist ein neuer Tag für unsere Heimat. Ein historischer Tag.
Die Memoranden von Austerität, Rezession und sozialer Verwüstung sind endlich zu Ende.
Unser Land gewinnt sein Recht zurück, sein Schicksal und seine Zukunft zu bestimmen. Als ein normales europäisches Land. Frei von Zwang und Nötigung.
Keine Erpressungen mehr.
Keine Opfer mehr von Seiten unseres Volkes.
"Unser Land ist eingesperrt. Die beiden schwarzen Symplegaden* schließen es ein", sagt der Dichter.
Wir haben diese Symplegaden hinter uns gelassen. [*Symplegaden: bewegliche Felsen am Eingang zum Pontus Euxinos, die jedes Schiff, das zwischen ihnen durchfahren wollte, zerquetschten.]
Im Bewusstsein, dass Griechenland seine eigene Geschichte hat. Auch die Errungenschaften, die Kämpfe, die Leiden.
All das hat seinen Weg durch die Jahrhunderte markiert.
Ein Weg, der nie einfach war.
Aber immer ein Weg mit einem Ziel.
Selbst in den dunkelsten Tagen, in den schlimmsten Schwierigkeiten.
Seit 2010 erlebt Griechenland seine moderne Odyssee.
Innerhalb von fünf Jahren sind für ein Land in Friedenszeiten beispiellose Ereignisse eingetreten:
25% unseres nationalen Reichtums sind verloren gegangen.
3 von 10 wurden arbeitslos, bei jungen Leuten sogar 6 von 10.
Es wurden Austeritätsmaßnahmen in Höhe von 65 Milliarden Euro umgesetzt.
Gewalt und Unterdrückung wurden Teil des täglichen Lebens.
Die Demokratie wurde ausgehöhlt.
Die Bankiers wurden zu Premierministern und die Minister zu Bankiers.
Faschistische Banden kamen nach 60 Jahren aus ihrem Versteck.
Ein Land im permanenten Ausnahmezustand.
Und eine Bevölkerung, die nie akzeptierte, was die Mächtigen für sie auf dem Programm hatten.
Und sie schrieb neue Seiten des Widerstands.
Die griechischen Menschen haben vor dreieinhalb Jahren eine historische Entscheidung getroffen.
Um das Ruder des Landes von denen zu übernehmen, die es zerstört haben.
Und es neuen Kapitänen zu übergeben.
Wir haben diese große Verantwortung übernommen.
Mit Entschlossenheit, Zielstrebigkeit, aber auch mit Respekt vor den Opfern unseres Volkes.
Wir gingen ohne Sicherheiten. Bis auf eine. Die, die vom griechischen Volk aufgetragen wurde: Das Land aus dem Sumpf der Memoranden und der endlosen Kürzungen zu holen.
Wir haben viele Wogen passiert, um heute unser Ziel zu erreichen.
Die Besatzung wurde geändert.
Einige fürchteten die Wellen, andere zähmten sie.
Wir haben zu oft die Sirenen der Sinnlosigkeit gehört. Dass sich die Situation in Griechenland nie ändern würde. Und die Memoranden für immer bleiben würden.
Dass es keinen Sinn mache, sich gegen Laistrygonier (* in der Argonautensage ein Volk von Riesen und Kannibalen) und Zyklopen zu wehren. Bestien, die das kleine und schwache Griechenland nie besiegen könne.
Aber nichts hat unsere Bemühungen gebremst. Denn die Menschen, die unser Ziel erreichen wollten, wurden nicht mehr zurückgelassen.
Sie waren nicht mehr ohne Einfluss, ohne Stimme, ohne Hoffnung. Sie standen mit uns am Ruder.
Und sie hielten es fest, gegen die Widrigkeiten.
Frauen und Männer in Griechenland,
Heute ist ein Tag der Befreiung.
Aber es ist auch der Beginn einer neuen Ära, und wir werden keine Überheblichkeiten begehen und die Lehren aus den Memoranden ignorieren.
Wir werden uns nicht dem Vergessen hingeben.
Wir werden nicht zu Lotophagoi (Lotusfressern). [*Aus Homers Odyssee: Als Odysseus mit seinen Gefährten an Land geht, schickt er zwei Männer zur Erkundung aus. Diese werden von den Lotophagen freundlich empfangen. Als Willkommensgeschenk geben sie den Gefährten Lotos. Darauf vergessen die Männer ihre Heimat und den Zweck ihrer Landung.]
Wir werden nie die Ursachen und Personen vergessen, die das Land zu den Memoranden geführt haben.
Die Steuerhinterziehung des großen Vermögens, die allgemeine Korruption und die Eigeninteressen, die Straflosigkeit einer Reihe von Unternehmens- und Verlagsgruppen, die jahrelang glaubten, einen Anspruch auf Griechenland zu haben, der Zynismus und die Verachtung einer politischen Elite, die Griechenland für ihr eigenes Lehen und die griechischen Bürger für eine unterwürfige Masse hielt.
Wir werden nie diejenigen vergessen, die Griechenland und die Griechen verwüstet und abgewürdigt haben, weil Griechenland und die Griechen der Durchführung eines jahrzehntelangen neoliberalen Experiments nicht zugestimmt haben.
Aber wir werden auch diejenigen nie vergessen, die in schwierigen Zeiten an der Seite Griechenlands und des griechischen Volkes standen, Einzelpersonen und politische Kräfte aus allen europäischen Ländern. Sie widersetzten sich den Plänen für Grexit und der Bestrafung unseres Landes. Weil sie wissen, dass Griechenland für Europa viel mehr bedeutet als nur Finanzzahlen.
Wir werden nicht vergessen, was wir durchgemacht haben, denn was wir durchgemacht haben, ist nicht nur für die Historiker eine Fallstudie der Zukunft. Unsere Erfahrung liefert auch die Grundlagen für ein Land, das gerade eine neue Seite seiner Geschichte schreibt.
Über eine Ent-Täuschung und ein paar Lehren für Europas Linke |
Wir sind am Ziel angekommen, wir haben die Memoranden verlassen, aber wir sind noch nicht fertig.
Neue Schlachten liegen vor uns. Die "modernen Übernahmeinteressenten" sind immer noch hier und konfrontieren uns immer noch. Diejenigen, die einen weiteren Untergang sehen wollen. Diejenigen, die Griechenland nach ihrem eigenen Bild und Gleichnis erbaut haben; das sind Korruption, Eigeninteressen und Elitenmacht. Diejenigen, die ungestört mit Steuerhinterziehung weitermachen wollen, die auf Kosten des öffentlichen Interesses überleben wollen, indem sie Offshore-Gesellschaften gründen und ihre Gelder auf Konten außerhalb Griechenlands sichern. Diejenigen, die sich über das Gesetz und die Rechtsstaatlichkeit stellen. Diejenigen, die Angst vor der Idee einer unabhängigen Justiz haben.
Wir werden Ithaka nicht in ihren Händen lassen.
Jetzt, da wir unser begehrtes Ziel erreicht haben, haben wir die Kraft, unser Land zu dem zu machen, was es verdient. Das kämpferische, innovative griechische Volk kämpfte mit Opfern für das Ende der Memoranden. Von heute an beginnen wir mit Zielstrebigkeit und Entschlossenheit für die neue Ära unseres Landes. Mit Vorsicht und Verantwortung, um sicherzustellen, dass wir nie wieder zu Defiziten und Konkurs zurückkehren. Aber auch mit Mut zur Wiedergeburt Griechenlands, für eine Heimat der Gleichheit, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit.
Denn Ithaka ist erst der Anfang ".
Ithaka, 21.08.2018
Quelle: https://primeminister.gr/2018/08/21/20354
eigene Übersetzung
fotos: https://www.facebook.com/tsiprasalexis