25.09.2021: "Ändert das System, nicht das Klima″ ++ weltweit Hunderttausende beim Klimastreik am 24.9. mit alten und neuen Losungen auf der Straße ++ zwei Jahre Pandemie haben die Stärke der Bewegung nicht beeinträchtigt ++ Berlin: 100.000 fordern Klimaschutz ++ Greta Thunberg: "Natürlich müssen Sie am Sonntag wählen gehen, aber denken Sie daran, dass Ihre Stimme nicht ausreichen wird, um etwas zu ändern" ++ nach der Wahl sind Klimaproteste wichtiger denn je
Neu-Delhi, Melbourne, Kapstadt, Sierra Leone, Rom, Berlin, London, New York, Mexico Ciudad, Rio de Janiero - auf den Plätzen jeder Stadt sah man am Freitag, den 24. September 2021, bunte Ströme junger Menschen, die an dem Tisch rüttelten, an dem die Großen der Welt diskutieren und Entscheidungen verschieben, als ob die Zeit zum Handeln in der fernen Zukunft läge. Der weltweite Streik fand nur wenige Wochen vor dem großen Klimagipfel COP26 im schottischen Glasgow statt, auf dem die Staats- und Regierungschefs der Welt zusammenkommen werden, um wieder einmal notwendige Verpflichtungen zur Bekämpfung des Klimawandels zu debattieren. Auf der Website der Bewegung sind die Zahlen dieses Treffens aufgeführt: 97 Länder, 1.155 Städte, insgesamt eine unüberschaubare Zahl von Teilnehmer*innen.
Die Rückkehr von Fridays for Future auf die Straße war ein weltweiter Erfolg: zwei Jahre Pandemie haben der Energie, Kreativität, Entschlossenheit und Begeisterung der Fridays keinen Abbruch getan: Die Slogans sind die gleichen wie immer: "Wir haben keinen Planeten B", "Ändert das System, nicht das Klima". Es waren aber auch neue dabei: "Lasst die Reichen für die Krise zahlen", "Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit", die auf den Bewusstsschub hinweisen, den sie in den vielen Monaten gemacht haben, in denen sie von der Straße weg an ihre Schreibtische gezwungen waren: eine Zeit, in der sie offensichtlich nicht aufgehört haben, miteinander zu kommunizieren, sich gegenseitig zu konfrontieren und eine Welt zu beobachten, die die Verantwortung und die Folgen der Klimakrise nicht gleichmäßig aufteilt.
"Es waren eineinhalb seltsame Jahre mit der Pandemie, aber die Klimakrise ist noch dringlicher als zuvor", sagte die 18-jährige Greta Thunberg im Vorfeld der Proteste. "Wir werden jetzt wieder auf die Straße gehen, um zu zeigen, dass wir nicht verschwunden sind und dass wir Klimamaßnahmen und Klimagerechtigkeit fordern."
″Wir wollen den Wandel, wir fordern den Wandel, wir sind der Wandel″
Greta Thunberg
Auf dem afrikanischen Kontinent fanden die größten Demonstrationen in Uganda statt, wo die Aktivistin Hilda Flavia Nakabuye, nachdem sie erkannt hatte, dass die Klimakrise für die Überschwemmungen verantwortlich war, durch die ihre Familie von ihrem Land vertrieben wurde, 2019 Fridays for Future Uganda gründete. Innerhalb kurzer Zeit wurde diese zur größten Jugendbewegung Afrikas. In Südafrika fanden im Rahmen eines dreitägigen Streiks in 12 Städten Demonstrationen statt, um die Regierung aufzufordern, einen gerechten Übergang weg von fossilen Brennstoffen zu organisieren.
In Nordamerika, das von Wirbelstürmen und Waldbränden heimgesucht wurde, fanden fast 200 Veranstaltungen statt, 168 allein in den USA, wobei die größten Proteste in New York City und Los Angeles stattfanden; in Kanada, vor allem in Québec, protestierten mehr als 100.000 Menschen gegen politische Maßnahmen, die der Krise nicht gewachsen snd.
In Mexiko versammelten sich Demonstrierende vor dem Nationalpalast in Mexiko-Stadt, um von der staatlichen Ölgesellschaft Pemex die Vorlage eines Dekarbonisierungsplans zu fordern.
Auch in Brasilien und Argentinien kam es zu großen Demonstrationen. "Der globale Norden sollte eine Klimapolitik entwickeln, deren Kernstück Klimagerechtigkeit und Rechenschaftspflicht gegenüber den am stärksten betroffenen Menschen und Gebieten ist", sagte die brasilianische Klimaaktivistin Valentina Ruas. "Stattdessen beuten sie weiterhin gefährdete Gemeinschaften aus und fördern rücksichtslos fossile Brennstoffe, während sie mit ihren irrelevanten Plänen zur Emissionsreduzierung prahlen."
In Bangladesch forderten die Aktivisten den Baustopp für neue Kohle- und Gaskraftwerke.
In vielen europäischen Hauptstädten wie Wien, Prag und Warschau füllten überwiegend junge Leute die Plätze und Straßen, wo sich junge Demonstranten auf den Boden warfen, um das Ende des Planeten zu simulieren.
"Wir sind hier, weil wir ein klares Nein zu dem sagen, was in Polen, dem Königreich der Kohle, passiert", sagte die 19-jährige Aktivistin Dominika Lasota bei der Demonstration in Warschau. "Unsere Regierung blockiert seit Jahren jede Art von Klimapolitik und ignoriert unsere Forderungen nach einer sicheren Zukunft."
In London unterstützte der aus der Labour-Partei ausgeschlossene Ex-Vorsitzende Jeremy Corbyn die jungen Demonstrant*innen, die sich auf dem Parlamentsplatz versammelten und zur Kathedrale von Westminster marschierten. Er bezeichnete die 26. Klimakonferenz im Vereinigten Königreich als ein "Festival des Greenwashings". In Glasgow, der schottischen Stadt, in der der Gipfel demnächst stattfinden wird, zogen die Demonstrant*innen zum Parlament.
Bei den zahlreichen, gut besuchten Demonstrationen in Italien, an denen Tausende von Schüler*innen und Studierenden teilnahmen, war der für seine Liebe zu Atomkraftwerken bekannte Minister für den ökologischen Wandel, Roberto Cingolani, häufig das Ziel von Parolen und wurde auf Transparenten als "Minister für ökologische Fiktion" bezeichnet. Die italienischen Fridays lassen sich von Ministerpräsidenten Mario Draghi nicht ruhig stellen, auch wenn dieser in letzter Zeit auf Linie gebracht worden zu sein scheint, und, zumindest in Worten, keine Gelegenheit auslässt, den Ernst der Klimakrise und die Dringlichkeit radikaler Maßnahmen zu betonen. In seiner jüngsten Rede am Donnerstag vor der UN-Generalversammlung bezeichnete er die jungen Klimaaktivist*innen als "Träger des Wandels, denen man zuhören muss".
In Berlin gingen 48 Stunden vor der Bundestagswahl 100.000 Menschen auf die Straße, "um Druck auf die Parteien auszuüben, die die Klimakatastrophe noch nicht ernst nehmen", wie Luisa Neubauer, Sprecherin von Fridays For Future, sagte.
″Aus Menschen werden Massen und aus Massen erwächst Macht – wir schreiben Geschichte!″
Luisa Neubauer, Fridays for Future.
In Deutschland hat ein breites Bündnis von Klimagerechtigkeitsgruppen zu Demonstrationen zwei Tage vor der Bundestagswahl aufgerufen. ″Alle Menschen, Jung und Alt, sollen ein freudenreiches und lebenswertes Leben auf diesem Planeten haben können. Dafür muss die Klimabewegung kurz vor der Wahl ein deutliches Zeichen setzen und Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft auf die Straße bringen″, heißt es im Aufruf zur Demonstration.
Die bisherige Koalition aus Christdemokraten und Sozialdemokraten hat in diesem Bereich nach Ansicht vieler Wissenschaftler, Organisationen, Ökonomen und einer breiten Öffentlichkeit kläglich versagt. In den letzten Jahren wurde häufig über Klimaschutz geredet, aber wenig Konkretes getan. Oft wurden Maßnahmen weit in die Zukunft verlegt und lediglich als Ziel angekündigt. Bei den politischen Entscheidungen werden immer wieder die ökonomischen Interessen der Konzerne, gepusht durch Lobbyisten, in den Vordergrund gestellt, und das Klima bleibt auf der Strecke.
Deshalb prangern die Aktivist*innen das eklatante Versagen der vierten Merkel-Regierung an, ein echtes Klimagesetz zu schreiben. "Die Politik der Regierung war so schlecht, dass das Verfassungsgericht eingreifen musste und CDU, CSU und SPD zwang, Korrekturen vorzunehmen, um künftige Generationen zu schützen. Einen Sommer lang musste sich Olaf Scholz anhören, dass sein durchgeknallter Plan Kohle bis 2038 laufen zu lassen, zum Scheitern verurteilt ist. Wir haben die Parteien dazu gezwungen, einen Sommer lang über Klimapolitik zu reden, obwohl ihre Programme dafür nicht ausreichen und das wissen sie auch selbst. Kein Wunder, dass Sie dann lügen müssen, Herr Laschet“, sagte Luisa Neubauer in ihrer Rede, bevor sie von der Bühne vor dem Reichstagsgebäude der riesigen Menschenmenge zurief: "Heute schreiben wir Geschichte".
"Natürlich müssen Sie am Sonntag wählen gehen, aber denken Sie daran, dass Ihre Stimme nicht ausreichen wird, um etwas zu ändern. Die Parteien schauen nicht weit genug voraus und haben uns nie ernst genommen, deshalb müssen wir weiter auf die Straße gehen", appellierte Greta Thunberg von der Bühne an die Berliner*innen. In ihrer Rede bezeichnete sie Deutschland als "einen der größten Klima-Bösewichte“. "Deutschland ist der viertgrößte Kohlenstoffdioxid-Emittent in der Geschichte, und das bei einer Bevölkerung von 80 Millionen Menschen.“ Thunberg forderte unter großem Applaus eine Veränderung des "Systems". Man könne sich aus der Krise nicht "herausinvestieren, bauen oder kaufen", so Thunberg. "Und je länger sie so tun, als könnten wir die Krise innerhalb des heutigen Systems lösen, desto mehr Zeit verlieren wir.“
″Keine Partei hat ein Programm, das mit der 1,5 Grad-Grenze vereinbar ist. Die Politik steuert auf eine zwei bis vier Grad wärmere Welt zu. Jetzt ist die allerletzte Chance, um das noch zu ändern″, sagte die 17-jährige Hannah Pierot, Sprecherin von Fridays for Future Berlin. Carla Reemstma, eine der Organisatorinnen von Fridays for Future bekräftigt dies: ″Keiner der Kandidaten hat ein politisches Programm, das wirklich auf den aktuellen Klimanotstand abgestimmt ist. Im Gegenteil, die meisten von ihnen denken über den Bau neuer Kohlekraftwerke, Gaspipelines und Autobahnen nach. Wir hingegen fordern sofortige Maßnahmen zur Verringerung der CO2-Emissionen und zur Einstellung der Finanzierung fossiler Brennstoffe."
Neben der Hauptstadt gingen die Fridays auch in Hamburg, Leipzig, Köln, Bonn, Freiburg, München und vielen anderen Städten in Deutschland auf die Straße, wobei Berlin einen neuen Teilnehmerrekord aufstellte. Alle eint der gleiche Slogan gegen "die alten Politiker, von denen wir keine Entschuldigungen mehr hören wollen".
Klimaproteste braucht es nach der Wahl erst recht
Fridays for Future hat kurz vor der Wahl eines ganz deutlich gemacht: Vorschusslorbeeren für die nächste Bundesregierung gibt es keine. Kurt Stenger kommentiert in der Zeitung nd:
"Natürlich macht es einen großen Unterschied, welches Farbenspiel sich am Ende durchsetzt. Doch das ändert nichts daran, dass letztlich nur Druck von außen für genug Bewegung sorgen wird. Und dies wird nur dann gelingen, wenn sich Schüler und Studenten, konservative Umweltschützer und radikale Autogegner trotz unterschiedlicher Protestformen nicht auseinanderdividieren lassen, auch Kontakte zu Sozialverbänden und Gewerkschaftern intensivieren. Der recht neue Diskurs, es gebe beim Klimaschutz einen Generationenkonflikt zwischen Jung und Alt, ist zwar nicht ungefährlich, aber er bleibt meist in den Feuilletons, hat wenig mit der Alltagserfahrung zu tun. Es ist sehr vielen Bürgern klar, dass es in den kommenden Jahren die viel zitierte Klimaregierung braucht. Zustande kommen wird sie nicht am Koalitionsverhandlungstisch, sondern wenn die Klimabewegung sie mit langem Atem erzwingt." (nd, 25.9.2021)