06.08.2020: Bundesinnenminister Seehofer (CSU) verbietet Berlin die Aufnahme von Geflüchteten ++ Bundesverkehrsminister Scheuer (CSU) lässt per Bürokratie ertrinken ++ NRW-Ministerpräsident Laschet (CDU) bricht Besuch in Moria ab ++ EU setzt weiter auf Abschottung und Partnerschaft mit Türkei und Libyen zur Abwehr von Flüchtenden ++ Seebrücke: aktiv werden gegen diejenigen Strukturen, die direkt Menschenleben auf dem Gewissen haben
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat die vom Land Berlin geplante Aufnahme von 300 Geflüchteten aus dem Lager Moria abgelehnt. Begründung: Es müssten "bundesweit einheitliche Regeln gelten". Nach Seehofers Auslegung kann auch der Paragraf 23 des Aufenthaltsgesetzes nicht gelten, der eine Aufnahme von Menschen "aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen" vorsieht. Außerdem solle der Bedarf auf humanitären Schutz schon vor der Einreise festgestellt werden. Geflüchtete, die von den griechischen Inseln aufgenommen werden, müssen jedoch noch das Asylverfahren durchlaufen, so Seehofer.
Der Regierende Bürgermeister Berlins, Michael Müller (SPD), erklärte: "Das macht uns im Senat alle sehr wütend". Eine von den Grünen und DIE LINKE in die Diskussion gebrachte Klage gegen den Bund sieht Müller als nicht erfolgversprechend. Für die Aufnahme von Geflüchteten steht Berlin nach wie vor. Über ein laufendes Bundesprogramm sollen bis Ende August 928 Flüchtlinge aus Griechenland (nicht nur aus Moria) nach Deutschland kommen. Ob es diese Zahl tatsächlich sein wird, ist unklar. Im April 2020 waren es gerade einmal 53 Kinder, die hierzulande aufgenommen wurden und worüber sich die Regierung von CDU und SPD selbst feierten.
Laschet: "Europäische Union muss jetzt wach werden" - Doch die EU ist längst wach und bekämpft die Flüchtenden
Fast zeitgleich mit der Ablehnung der Aufnahme Geflüchteter durch den Bundesinnenminister hat der Ministerpräsident aus NRW und mögliche Kanzlerkandidat der CDU, Armin Laschet, eine Reise nach Griechenland angetreten. Nach einem Empfang beim griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis, stattete er dem überfüllten Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos einen Besuch ab.
Hier wurde er nicht nur mit freundlichen Worten empfangen. Die Geflüchteten brachten Laschet ihre Forderung "Free Moria" mit lauten Sprechchören unüberhörbar entgegen. Das Auftreten Laschets als öffentlichkeitswirksames Medienspektakel mit Flüchtlingsgesprächen ist misslungen. Durch Sicherheitskräfte von den Bewohner*innen des Lagers abgeschirmt wurde der Besuch abgebrochen. Laschet wurde in "Sicherheit" gebracht, die dort lebenden Menschen müssen in Unsicherheit für ihr Leben weiter dort ausharren.
Unter unmenschlichen Bedingungen sind hier die Geflüchteten zusammengepfercht - viel zu wenig Wasser, keine Seife, keine Möglichkeit zum SocialDistancing, und "dank" des Lockdowns haben diese Menschen kaum Zugang zu medizinischem Personal. Errichtet wurde dieser Ort im Oktober 2015 für das vorübergehende Bleiben, als sogenannter "Hotspot" zur Erstregistrierung von Geflüchteten, mit einer Aufnahmekapazität für 3.000 Menschen.
Seit März 2016 werden nach dem Abkommen der EU mit der Türkei die Geflüchteten jedoch nicht mehr nach ihrer Registrierung auf das griechische Festland gebracht, da dies einer Überführung in die Türkei widerspricht.
Spätestens mit diesem Abkommen hat sich das "Gerüst Hotspot" zum Handling – oder sollte besser gesagt werden Handel – mit Menschen auf der Flucht als das dargestellt, was es von der EU und den Regierungen Europas sein soll: ein menschenverachtender Versuch, die Abschottung Europas mit anderen Mitteln umzusetzen.
Die Regierung Griechenlands, vor allen Dingen aber die Menschen in den Lagern, wurden allein gelassen. Auch ein Brand 2016, bei dem 60% des Lagers zerstört wurde, änderte nicht die Haltung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten; es änderte nichts, dass 2019 bei einem Brand zwei Menschen starben; es änderte sich nichts als viele der über 20.000 dort im wahrsten Sinne des Wortes untergebrachten Menschen aktiv wurden und mit Demonstration und Protest im Frühjahr 2020 die Bearbeitung ihrer Asylanträge forderten. Sie wurden von den sogenannten Sicherheitskräften zusammengeknüppelt und niedergeschlagen, ihr Protest erstickt.
Auch die Forderung von Ärzte ohne Grenzen zur Evakuierung des Lagers seit Beginn der Corona-Pandemie brachte nur den sprichwörtlichen "Tropfen auf den heißen Stein" mit wenigen hunderten Evakuierungen in andere Länder Europas und auf das griechische Festland. Anfang August 2020 waren laut Angaben des SPIEGEL noch 17.000 Menschen in Moria.
In dieser Situation machte Laschet also einen Besuchsversuch und sagte nach dessen Abbruch, er habe in Moria "einen Aufschrei der Verzweifelten" erlebt, und "Die ganze Europäische Union muss jetzt wach werden".
Weshalb, so muss gefragt werden, muss die EU erst jetzt wach werden?
Gerade hat die EU unter der Ratsherrschaft von Deutschland beschlossen, für 130 Millionen Euro weitere Ankerzentren für fliehende Menschen an den europäischen Außengrenzen zu errichten, die eine weitere Abschottung Europas für Menschen auf der Flucht sind. Weshalb sind bisher weder Laschet noch die EU und schon gar nicht der Bundesinnenminister Seehofer aktiv geworden, um die Geflüchteten aus den Lagern in Griechenland herauszuholen? Und weshalb soll dies nun, nur weil ein Ministerpräsident aus NRW einen Besuch in Moria abgebrochen hat, plötzlich alles anders werden?
EU setzt weiter auf Abschottung |
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Die EU-Kommission plant enger mit den afrikanischen Herkunfts- und Transitländern zusammen zu arbeiten, um Menschen an der Flucht übers Mittelmeer zu hindern. Bundesinnenminister Seehofer will künftig noch stärker mit Libyen kooperieren, mit der dortigen Polizei und der sog. libysche Küstenwache, die sich aus Menschenrechten nichts macht. Auf YouTube dazu der Film von Monitor: https://www.youtube.com/watch?v=HzFHb97DCeU |
Scheuer lässt ertrinken
"Anscheinend sieht Minister Scheuer lieber Menschen ertrinken, als dass sie lebend Europa erreichen."
Hanno Bruchmann vom Vorstand von Mare Liberum
Auch Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) erschwert mit der veränderten Schifffahrtsverordnung und den Auflagen die Arbeit von privaten Rettungsorganisationen. Still und heimlich hat das Bundesverkehrsministerium die Verordnungen für die Schifffahrt verschärft. Nun sabotiert Scheuer die Seenotretter*innen mit "derart strengen Sicherheitsanforderungen, die finanziell und technisch nicht erfüllt werden können", wie die deutschen Organisationen Mare Liberum, Mission Lifeline und Resqship in einer gemeinsamen Stellungnahme erklärten.
"perfide Sabotage der Menschenrechtsarbeit"
Mare Liberum, Mission Lifeline und Resqship
Da die Umrüstung der Schiffe viel mehr Geld und Zeit kostet, bleiben sie über Monate im Hafen, das Ertrinken von Menschen und illegale Pushbacks werden in Kauf genommen. "Diese rassistische Abschottungspolitik hat viele Gesichter." so Seebrücke-Kiel.
"Die humanitäre Lage im zentralen Mittelmeer hat sich dramatisch zugespitzt: Obwohl in den letzten Wochen mehr Menschen versuchten, in seeuntauglichen Booten aus Libyen zu fliehen, sind inzwischen fast alle aktiven Seenotrettungsschiffe wegen angeblicher Sicherheitsmängel in Italien festgesetzt oder werden mit nicht erfüllbaren Auflagen am Einsatz gehindert. Somit ist derzeit kein ziviles Seenotrettungsschiff im Mittelmeer im Einsatz. ... " aus der gemeinsamen Erklärung von Sea-Eye, Sea-Watch und SOS MEDITERRANEE Deutschland, 4. August 2020 |
"Sichere Häfen" nur für Wenige
Inzwischen haben sich in Deutschland über 160 Gemeinden, Kommunen und Städte zu Sicheren Häfen erklärt, davon 15 Kommunen in Schleswig-Holstein.
Trotzdem hat sich die Landesregierung von CDU/FDP/Grüne Schleswig-Holstein nur zur Aufnahme von 35 Menschen aus griechischen Lagern bereit erklärt. Und sie weigert sich nach wie vor, ein Landesaufnahmeprogramm für Menschen aus griechischen Lagern umzusetzen. Es wird mit dem Hinweis der Landesregierung auf die fehlende Zustimmung des Bundesinnenministeriums nicht durchgeführt. Dabei, so Seebrücke-Kiel, ist Horst Seehofer "nur die Fassade der rassistischen und menschenverachtenden Migrationspolitik Deutschlands."
Seebrücke: EU hindert Flüchtende aktiv daran nach Europa zu kommen
Die Forderungen an die Regierenden zur sofortigen Aufnahme Geflüchteter wurden am Wochenende auf einer Demonstration von 300 Menschen in Kiel gestellt.
Anlass der Demo war die Gründung der Seebrücke-Bewegung vor zwei Jahren und die Tatsache, dass diese Bewegung immer noch notwendig ist. Im Aufruf der Seebrücke-Kiel heißt es: "Heute müssen wir immer öfter zusehen, wie Boote zurück nach Libyen oder in die Türkei gebracht werden. Die Zahl der illegalen Rückführungen durch die libysche Küstenwache mit finanzieller Unterstützung der EU ist gestiegen. Allein im Jahr 2020 wurden bisher ca. 6.000 Menschen an den Ort zurückgebracht von dem sie fliehen wollen. Bei diesen Rückführungen hilft oft ein Aufklärungsflugzeug von Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenzschutz und Küstenwache. Das politische Kalkül, Schutzsuchende aktiv daran zu hindern, nach Europa zu gelangen oder wenigstens einen Sicheren Hafen zu erreichen, hat sich in den letzten Jahren eher verschärft als vermindert. Die Kriminalisierung und Behinderung der zivilen Rettungsorganisationen geht indes weiter."
Die Wut auf die Parteien und Politiker*innen die nicht für, sondern gegen Seenotrettung, nicht für sondern gegen Menschenrechte beschließen, war auch in der Abschlussrede am Sonnabend in Kiel deutlich zu hören:
"Kein Mensch sollte auf der Flucht & in der Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben an den Außengrenzen der EU oder anderswo sterben oder leiden. Wir fordern immer und immer wieder legale & sichere Fluchtwege bei Aktionen, Demonstrationen, Kundgebungen oder Solidaritätsbekundungen.
Und immer wieder stellen wir uns die Frage:
Sind unsere Proteste mit Kreideaktionen, Menschenketten und bunten Transpis dafür noch angemessen? Gehen wir nach diesen Aktionen alle stolz nach Hause, weil wir wieder etwas Gutes getan haben? Oder reißen wir uns endlich mal zusammen, werden wirklich aktiv gegen diejenigen Strukturen, die direkt Menschenleben auf dem Gewissen haben und gegen diejenigen Strukturen, die mit ihrer geistigen Brandstiftung dem Rechtsruck den Boden bereiten? Wir alle kennen Gruppen oder Strukturen, die versuchen hier oder anderswo aktiv zu werden. Unterstützen wir sie genug? Wir alle kennen Menschen in unserem Umfeld, die rechtes Gedankengut offen aussprechen. Bringen wir denen noch immer Verständnis und Zurückhaltung entgegen? Wir alle wissen von rassistischer Polizeiarbeit. Sehen wir dabei weiter tatenlos zu?
Es wird Zeit, dass sich was ändert! Dazu braucht es jede*n von uns!"
Horst Seehofer, Armin Laschet, Ursula von der Leyen, die Parteien in den Bundesländern, im Bund und in der EU sollten sich endlich bewegen und nicht bei versuchten Besuchen, bei Worten und schon gar nicht bei ihrer Blockadehaltung gegen die sofortige Aufnahme von Geflüchteten bleiben.
Der vielzitierte "lange Atem von Bewegungen" um Veränderungen zu erkämpfen scheint bei der Seebrücke-Bewegung aufgebraucht!
Den Unterstützer*innen geht es ebenso, denn:
Es geht um das Leben!
txt: Bettina Jürgensen, marxistische linke