18.05.2016: In einem beispiellosen Coup wurde Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff suspendiert. Vorerst für 180 Tage. Michel Temer, einer der korruptesten Politiker Brasiliens, hat als Übergangspräsident die Geschäfte übernommen. In weniger als 20 Stunden hat er ein Programm verkündet, mit dem Errungenschaften von Jahrzehnten zurückgerollt werden sollen: der Staatshaushalt soll "saniert“, das Rentensystem "reformiert", der Arbeitsmarkt liberalisiert werden. Die Bedingungen für die Unternehmen will er "deutlich verbessern". Von Kallil Oliveira und Cleusa Slaviero:
Die momentane politische Krise Brasiliens eskaliert weiter und ist eine der gravierendsten der letzten Jahrzehnte. Die politische Kollision betrifft alle brasilianischen Institutionen und hat den politischen Einfluss auch im Justizwesen deutlich verstärkt.
Am 17. April hat das Abgeordnetenhaus über die Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsidentin Dilma Rousseff abgestimmt. Initiiert wurde dies vom Parlamentspräsident Eduardo Cunha (PMDB, Partei der demokratischen Bewegung Brasiliens), obwohl gegen ihn der Obersten Bundesgericht ermittelt und ihm mehrere illegale Konten in der Schweiz mit Korruptionsgeld von Petrobras nachgewiesen wurden.
Die sechsstündige Abstimmung war ein Spektakel, das im Fernsehen übertragen wurde. Von den 513 Abgeordneten sind gegen 299 gerichtliche Ermittlungen im Gange, 76 sind bereits verurteilt, 51 sind vor dem Obersten Gerichtshof angeklagt. Dieser Haufen will eine Politikerin bestrafen, die eine der wenigen ist, die nicht wegen persönlicher Bereicherung angeklagt ist. Die Vorwürfe gegen Rousseff (Bilanztricks im Staatshaushalt) wurden in den Reden der Abgeordneten denn auch nicht einmal erwähnt oder diskutiert. Die Abgeordneten erklärten bei der Abstimmung, dass sie ihre Stimmen ihren Müttern, Kindern, Ehefrauen, sogar ehemaligen Folterknechten der Diktatur widmeten. Deutlich wurde, dass es sich nicht um eine technische Verurteilung, sondern um eine rein politische Klage handelte, die einzig und allein das Ziel hatte, diejenigen die rechtmäßig in der Regierung sind, auf diesem Weg niederzuschlagen, da die Opposition, die an die Macht kommen wollte, bei den Wahlen gescheitert ist.
Auch ist wichtig zu erläutern, dass bereits im ersten Monat der zweiten Regierung von Rousseff die Opposition von einem Amtsenthebungsverfahren sprach - ohne konkrete Gründe zu nennen. Erst sollte die Klage erhoben werden, um dann nach Beweisen zu suchen.
Nachdem das Abgeordnetenhaus dem Amtsenthebungsverfahren zugestimmt hatte, ist die Klage an den Senat weitergeleitet worden. Währenddessen stellte der Vizepräsident Michel Temer (PMDB, auch der Parlaments-und Senatspräsident gehören der PMDB an) bereits eine neue Regierung zusammen, die die von Rousseff ersetzten sollte. Die legitim gewählte Regierung würde somit von denen übernommen, die in den Wahlen gescheitert sind. Offensichtliche eine Verschwörung. Ein Vizepräsident der die Wahlen verloren hat und jetzt bei einer Wahl nur 2% der Stimmen bekommen würde, übernimmt mit einem Putsch die Regierung.
Die Arbeiterpartei PT, Rousseffs und Lulas Partei, ist zwar jetzt geschwächt, hat immer noch mehr Volksakzeptanz als die Parteien der Opposition. Da die Oppositionspolitiker wissen, dass sie bei den nächsten Wahlen im Jahr 2018 von Lula wieder besiegt würden, versuchen sie Rousseff zu stürzen und den Ex-Präsidenten Lula auf irgendeine Weise zu beschuldigen. Die Opposition will die Kandidatur Lulas bei den nächsten Wahlen mit allen Mitteln zu verhindern, denn sie weiß genau, dass sie gegen seine Popularität nicht ankommen kann. Inzwischen werden Demonstrationen gegen den Putsch unterdrückt. Die Massenmedien werden von sechs reichen Familien kontrolliert und übertragen nur das, was für die Opposition günstig ist. Es ist eine surreale Situation entstanden.
Im Senat wurde ein Komitee gebildet, das die Klage gegen Rousseff begründet. Kurioserweise hat der ausgewählte Berichterstatter, der Senator Anastasia (PSDB, Partei der brasilianischen Sozialdemokraten), die gleichen Delikte begonnen, deren Rousseff angeklagt wird, als er Ministerpräsident des Bundesstaates Minas Gerais war.
Die sogenannten Bilanztricks im Staatshaushalt, deren Rousseff beschuldigt wird, wurden in Brasilien nie als Delikte betrachtet, alle Ex-Präsidenten haben die gleichen Maßnahmen getroffen. Rousseff war eine, die am wenigsten diese Strategie genutzt hat, aber die Rechten haben in diesen Maßnahmen Rousseffs den Anlass gefunden, das Amtsenthebungsverfahren durchzuführen.
Das Komitee hat dem Bericht zugestimmt und an den Senat weitergeleitet. Am 11. Mai wurde im Plenarsaal abgestimmt, so dass Rousseff für 180 Tage ihres Amtes enthoben ist. Dann entscheidet die Abstimmung über den Endbericht, ob sie ihr Amt wieder aufnehmen kann oder ob sie auf Dauer ihres Amtes enthoben ist.
Die Situation wurde noch verworrener, als am Tag der Veröffentlichung des Berichts (09.05.) das Oberste Bundesgericht Eduardo Cunha vom Amt des Parlamentspräsidenten enthob und Waldir Maranhao dieses Amt übernahm. Maranhao hat dann die Abstimmung vom 17.04. mit der Begründung annulliert, es gäbe Irregularitäten bei dem Komitee, das die Klage gegen Rousseff begründet. Er informierte den Senat über diese Entscheidung zum Abbruch des Amtsenthebungsverfahrens.
Der Senatspräsident Renan Calheiros (PMDB) ignorierte jedoch die Entscheidung des Parlamentspräsidenten und entschied, das Verfahren trotzdem weiterzuführen.
Der neuen Präsident des Abgeordnetenhauses, Maranhao, wurde von Mitgliedern seiner Partei und Parlamentskollegen heftig attackiert. Auch der größte Fernsehsender (Rede Globo), der zu den Einpeitschern für das Amtsenthebungsverfahren zählt, übte massiven Druck auf Maranhao aus, seine Entscheidung zur Zurücknahme der Klage gegen Rousseff zu annullieren. Die Rücknahme dieser Entscheidung geschah tatsächlich nach 12 Stunden.
Jetzt eskaliert die Situation weiter. Rousseff ist vorerst suspendiert, in 180 Tagen erfolgt die endgültige Entscheidung.
Die Popularität von Dilma Rousseff steigt wieder deutlich an, die Unterstützung für das Amtsenthebungsverfahren sinkt beträchtlich. Die Bevölkerung merkt allmählich, was hinter dieser Aktion steckt. Der Großteil der Bevölkerung ist immer noch schockiert von der absurden Show, die die Abstimmung vom Abgeordnetenhaus gewesen ist und die von ganz Brasilien im Fernsehen verfolgt worden ist.
Es ist klar geworden, dass man eine ehrliche Präsidentin stürzen will, in dem die brasilianische Rechtsverfassung zerrissen wird - ein moderner Putsch. Überall in Brasilien ist die Bevölkerung auf die Straße gegangen und hat für Rousseff und die Demokratie demonstriert. Gewerkschaften und soziale Bewegungen haben die FBP (Brasilianische Volksfront) gegründet, die allein das Ziel hat, diesen Putschversuch zu vereiteln.
Brasilianer, die im Ausland wohnen setzen sich immer mehr für die Unterstützung Rousseffs ein. Dies ist in allen Kontinenten zu sehen. Die ausländischen Medien spielten eine wichtige Rolle in den letzten Wochen, in dem informative Berichte das brasilianische Drama vermittelten und Reporter über die Unstimmigkeiten dieser komplexen Fase, die Brasilien durchmacht, berichteten.
Das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff ist der vorläufige Höhepunkt einer Kampagne der rechten Opposition, die seit der ersten Regierung von Lula (2002 – 2006) einen Kriminalisierungsprozess gegen die Arbeiterpartei, ihre Mitglieder und sogar ihre Anhänger führt.
Die Regierungen von Lula und Rousseff förderten die soziale Inklusion und haben Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer aus der größten Armut herausgeholt. Allerdings haben sie nicht die notwendigen Reformen in Gang gesetzt, wie die Demokratisierung der Medien und eine Reform des politischen Systems. Rousseff hat die Krisen der Welt bestanden und ihre Regierung macht eine starke wirtschaftliche Krise durch, die verschärft wurde durch die Art und Weise wie die Operation 'Lava Jato' (Auto Wäsche) gegen Korruption vorgegangen ist. Diese hat das größte staatliche Unternehmen, Petrobras, in einem Korruptionsskandal bloßgestellt, worauf der Aktienkurs verfiel. Gleichzeitig sanken die Ölpreise, weil Öl im Übermaß auf dem Weltölmarkt vorhanden ist. Das Ölunternehmen hat an Kraft verloren, ist aber nicht Bankrott gegangen, wie die Medien, die den Putsch unterstützen, behaupten. Die Bevölkerung reagiert perplex und natürlich negativ, wenn sie miterlebt, wie das Nationalsymbol langsam zugrunde geht. Dies ist ein Teil des Putsches, weil damit die bisher noch existierende Wertschätzung der Arbeiterpartei und der Rousseff-Regierung zerstört und die mit der Regierung verbundenen Kräfte negativ stigmatisiert werden.
Gegenwärtig herrscht ein repressives Klima, es finden Unterdrückungen statt, hauptsächlich in den Bundesstaaten wo die Oppositionspartei PMDB regiert - wie in Parana und im größten Bundesstaat Sao Paulo. Der Ministerpräsident von Sao Paolo wird schwerwiegender Korruptionsfälle bezichtigt, aber es werden die Ermittlungen noch nicht einmal fortgeführt. Es ist offensichtlich, dass der Kampf gegen Korruption in Brasilien selektiv ist. In der Ermittlungsoperation 'Lava Jato' ist das Schweigen üblich, wenn Anzeigen gegen Parteien auftauchen, die nicht Teil der Regierung sind, wie PSDB, DEM, PP u.a. – oder auch der PMDB.
Die sozialen Netzwerke entlarven den Putsch und wirken auf diese Weise mit, dass mehr Menschen Zugang zu Informationen bekommen, die der Realität entsprechen. Die Massenmedien sind in der Hand einer kleinen Clique und manipulieren auf eine extreme Weise. Rede Globo ist der größte Fernsehsender und sendet in die Wohnungen eines Großteils der Bevölkerung. Sein Einfluss wird als so mächtig betrachtet, dass der Sender allein definieren kann, ob ein Präsident gewählt oder abgesetzt wird. Diesmal hatte Rede Globo bei der Wahl durch die Demokratie verloren, aber jetzt beim Putsch gewonnen.
Michel Temers Verrat wurde von der Mehrheit der Bevölkerung schlecht angesehen. Über 60% lehnen die Regierung von Michel Temer ab. Es gibt natürlich Kritik an der Rousseff-Regierung, jedoch stimmen auch bekannte Persönlichkeiten und die Führer anderen Parteien zu, dass Rousseff eine ehrliche Präsidentin ist und aus politischen Gründen ihres Amtes enthoben wird, was gegen die brasilianische Rechtsverfassung verstößt. So ist ein großer Teil der Bevölkerung gegen die Amtsenthebung Rousseffs und betrachtet dies als einen Putsch gegen die Demokratie in Brasilien. Diese hat sich erst jetzt allmählich von den Konsequenzen des letzten Putsches von 1964 und der darauffolgenden Militärdiktatur erholt. Diese hatte das Land für zwei Jahrzehnte in Angst und Schrecken versetzt und die Auswirkungen waren noch vor kurzem zu spüren. Rousseff und Lula waren zwei der Jugendlichen, die damals gegen die Diktatur und für die Demokratie in Brasilien gekämpft haben. Heute sind die Zwei wieder im Einsatz für Brasilien. Die Präsidentin tritt der gegen sie gerichteten Klage mit Würde und Souveränität entgegen. Sie weigert sich abzudanken und ist bereit bis zum Ende zu kämpfen, davon überzeugt, dass sie aus dem Verurteilungsprozess als unschuldig hervorgehen wird. Denn sie hat kein Verbrechen begangen.
Die jetzt amtierende Regierung von Temer hat in den ersten 20 Stunden ein Programm verkündte, mit dem die Errungenschaften von Jahrzehnten zurückgerollt würden. Diese Regierung vertritt die Interessen der Agrarindustrie, des Finanzsektors und der Oligarchie, sie ist eng verbunden mit dem Polizeiapparat, dem Militär und den konservativsten Kreisen der Pfingstkirchen. Als eine der ersten Maßnahmen wurde das Kulturministerium abgeschafft. Die 'Bolsa Familia' (eine Unterstützung in Form von Basisernährung für die ärmsten Teile der Bevölkerung) und die Stipendien für Auslandsstudierende sollen ebenfalls abgeschafft werden. Mit der Arbeiterpartei-Regierung hatten Frauen, Farbige, Indigene und andere historisch diskriminierte Gruppen erstmals eine Stimme und effektive Mitbestimmung, dies ist jetzt wieder vorbei. Diese Gruppen haben in der Regierung nun keine Repräsentation mehr.
Das Ende der politischen Krise ist nicht vorhersehbar, während der Putsch fortschreitet wächst der Widerstand des Volkes.
Text von Kallil Oliveira und Cleusa Slaviero
Übersetzung von Daniele E. Franck Costa
Cleusa Slaviero ist Journalistin, Autorin und arbeitet als Lektorin in einem Buchverlag. Sie ist in sozialen Bewegungen und Medien aktiv für die Verteidigung und Vertiefung der Demokratie in Brasilien. Sie lebt in Curitiba.
https://www.facebook.com/slaviero.cleusa
Kallil Oliveira ist Autor und Kolumnist. Mit dem Nachrichtenportal 'A Voz do Sertão‘ (http://www.kalliloliveira.com/) arbeitet er gegen das Medienmonopol der brasilianischen Oligarchie.
siehe auch
- XX. Internationales Seminar: Geht der progressive Zyklus zu Ende?
- "Der progressive Zyklus wird in Venezuela entschieden"
- Carolus Wimmer von der KP Venezuelas: "Viele möchten mehr Revolution haben"
- Lateinamerika: "Ein Prozess, der sich nicht radikalisiert, geht rückwärts."
- Isabel Rauber: Lateinamerika - Ende eines Zyklus oder neue politische Zeit?
- Valter Pomar: Linksregierungen: Möglichkeiten und Grenzen
- Álvaro García Linera: Lehren für die Linke in der ganzen Welt
- Fin del ciclo progresista?
- Mexiko – Internationales Seminar 2015 „Die Parteien und eine neue Gesellschaft“
- Mexiko: Das XVIII. Internationale Seminar linker und kommunistischer Parteien
- Mexiko - XVII Internationale Seminar linker und kommunistischer Parteien
- Mexico: XVI. Internationales Seminar linker und kommunistischer Parteien
- Mexico: XV. Internationales Seminar - Von der Reform zur Transformation
- XX. Internationales Seminar: Geht der progressive Zyklus zu Ende?
- "Der progressive Zyklus wird in Venezuela entschieden"
- Carolus Wimmer von der KP Venezuelas: "Viele möchten mehr Revolution haben"
- Lateinamerika: "Ein Prozess, der sich nicht radikalisiert, geht rückwärts."
- Isabel Rauber: Lateinamerika - Ende eines Zyklus oder neue politische Zeit?
- Valter Pomar: Linksregierungen: Möglichkeiten und Grenzen
- Álvaro García Linera: Lehren für die Linke in der ganzen Welt
- Fin del ciclo progresista?
- Mexiko – Internationales Seminar 2015 „Die Parteien und eine neue Gesellschaft“
- Mexiko: Das XVIII. Internationale Seminar linker und kommunistischer Parteien
- Mexiko - XVII Internationale Seminar linker und kommunistischer Parteien
- Mexico: XVI. Internationales Seminar linker und kommunistischer Parteien
- Mexico: XV. Internationales Seminar - Von der Reform zur Transformation