19.08.2021: Die Taliban wechseln vom Schlachtfeld in den Bereich der institutionellen Kommunikation ++ in einer ersten Pressekonferenz bemühen sie sich, die Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft zu beruhigen ++ Erdoğan für enge Beziehungen mit Taliban-Regime ++ Türkei baut Mauer zur Abwehr von Flüchtenden aus Afghanistan.
Der Krieg in Afghanistan ist vorbei, eine neue Phase der Versöhnung und des Wiederaufbaus habe begonnen. Das "islamische Emirat", wie die Taliban das Land nun nennen, hege keinen Groll gegen irgendjemanden. "Jedem ist verziehen." Niemand brauche Angst zu haben. Man wolle keine Feinde im In- oder Ausland, und es werde keine Vergeltungsaktionen geben. Dies versprach Zabiullah Mujahid, der bekannteste Sprecher der islamistischen Bewegung, auf der ersten öffentlichen Konferenz nach der Machtübernahme durch die Taliban.
Doch aus dem Panjshir-Tal, dem einzigen Gebiet des Landes, das noch nicht unter der Kontrolle der Koranschüler steht, kommt Widerspruch. Der ehemalige Vizepräsident Amrullah Saleh erklärt, dass er nach der noch gültigen Verfassung der Vertreter des Präsidenten ist. Der ehemalige Geheimdienstchef versicherte in den letzten Tagen, dass er sich niemals dem Taliban-Regime unterwerfen werde. Diese Erklärung wirft eine institutionelle Frage auf, die die gesamte internationale Gemeinschaft in den kommenden Tagen zu beantworten haben wird. Wer vertritt die Regierung und die Institutionen? Amrullah Saleh, der in Panjshir isoliert ist, oder die Taliban, die den Arg, den Präsidentenpalast, gewaltsam erobert haben und die Institutionen, die 20 Jahre lang von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wurden, zum Einsturz gebracht haben?
Die Talibans interssiert dies allerdings nicht. Sie setzen auf die Macht des Faktischen. Sie haben die Macht mit Gewalt übernommen, in einer militärischen Offensive, die weniger als zwei Wochen dauerte und in der Kapitulation von Kabul gipfelte. Ohne Blutvergießen. Ein Punkt, den sie bereits in ihrer Propaganda ausnutzen.
Mit der ersten Pressekonferenz am Dienstag (17.8.) hat die Propaganda der Taliban den Modus gewechselt. Sie wird zur institutionellen Kommunikation und begleitet den Versuch, den Weg von der bewaffneten Oppositionskraft zur Regierungskraft zu beschreiten. Dies ist der Übergang, den die Bewegung, die von Mullah Omar, dann von Mullah Mansur - der 2016 im pakistanischen Belutschistan getötet wurde - und schließlich seit 2016 vom derzeitigen Führer Haibatullah Akhundzada, der als Mann der Vermittlung gewählt wurde, angeführt wird, nun zwischen widerstreitenden Interessen vermitteln muss.
Zabiullah Mujahid behauptete, der Krieg sei mit dem Sieg der Taliban beendet. Er bestätigte die Amnestie für alle Regierungsbeamten und Soldaten. Er sagte, dass auch Frauen nach islamischem Recht eine wichtige Rolle in der Zukunft des Landes spielen können. Welcher Zustand ihnen vorschwebt, ist noch nicht klar. Seit Jahren greifen sie auf die Zauberformel zurück: "Wir wollen ein wahres islamisches System". Jetzt müssen sie erklären, welche, welche Art es ist und wie es organisiert ist.
Die Talibans haben sich an das afghanische Volk und die internationale Gemeinschaft gewandt. Sie dachten aber vor allem an die Weltöffentlichkeit, der sie versicherten, dass von afghanischem Gebiet keine Bedrohung ausgehen würde. Die Anerkennung, nach der sie streben, kann nur von außen kommen. Dafür verwenden sie Schlagworte, die überall bekannt sind: Amnestie, Meinungsfreiheit, Frauenrechte.
Wenn sie in diesen zwanzig Jahren des bewaffneten Widerstands und der listigen diplomatischen Spiele etwas gelernt haben, dann ist es die Nutzung der Medien. Die Geschwindigkeit der Militäroffensive mit der raschen Kapitulation der alten Regierung, Deals in Hinterzimmern und die Flucht von Regierungssoldaten hing auch von der breiten Nutzung der Medien und der sozialen Medien ab. Sie haben innerhalb und außerhalb des Landes das Bild von der Unvermeidlichkeit der Niederlage Kabuls projiziert.
Sie sprechen die Sprache, die von ihnen erwartet wird
Jetzt, wo sie an der Macht sind, sprechen sie die Sprache, die von ihnen erwartet wird. Aber das eigentliche Spiel findet außerhalb Kabuls statt, im Rest des Landes, das jetzt - nach der Evakuierung von Ausländer*innen und einheimischen Journalist*innen - ohne Beobachtung ist und wenig Aufmerksamkeit hervorruft. Dort wird die Übereinstimmung zwischen den offiziellen Erklärungen und der tatsächlichen Politik ermittelt. Wenn das Medieninteresse nachlässt und die Bevölkerung sich mit einem Regime konfrontiert sieht, dem man nicht trauen kann, werden die Taliban aktiv werden können.
Giuliana Sgrena schreibt: ″Diejenigen, die immer noch behaupten wollen, dass sich die Taliban geändert haben, dass sie, wie sie in ihren Flugblättern behaupten, den Westen und die Bevölkerung respektieren werden, sind durch die Tatsachen widerlegt worden. Wo sie ankamen, haben sie getötet und geplündert. Die Tatsache, dass es keine Opposition gibt - entweder aus freien Stücken oder wegen Unfähigkeit - spielt den Taliban in die Hände, die eine Art ′Hegemonie’ beanspruchen können. Zwischen denjenigen, die sich ergeben, und denjenigen, die sich widersetzen, wird das schlimmste Schicksal natürlich diejenigen treffen, die sich widersetzen, dieselben Menschen, die sich gegen die ausländische Besatzung gewehrt haben und die für eine demokratische Gesellschaft kämpfen, die von unten nach oben aufgebaut wird.″
Giuliana Sgrena fordert, dass die Taliban pazifistischen Kräften und Journalist*innen die Einreise ermöglichen, damit es Zeug*innen vor Ort gibt. ″Es reicht nicht aus, wie in vielen Appellen gefordert, die Grenzen für den Exodus zu öffnen, Afghanistan gehört allen Afghanen und nicht den Taliban. Wir können Afghanistan nicht ohne Zeugen verlassen, wir sollten die Öffnung der Grenzen fordern, um pazifistischen Kräften, die die Methoden der Taliban ablehnen, die Einreise zu ermöglichen. Ich weiß noch, wie verärgert sie über die Anwesenheit ausländischer Zeugen waren, als ich in den späten 1990er Jahren in Kabul war.″ [1]
Online-Veranstaltung der marxistischen linken mit Matin Baraki über die aktuelle Situation in Afghanistan, den Niedergang westlicher Besatzungspolitik, den Aufstieg der Taliban und mögliche Entwicklungen in Afghanistan. |
Die Taliban werden die Spaltungen in der internationalen Gemeinschaft ausnutzen. Nach Islamabad, Peking und Moskau erklärte auch Teheran, dass es seine Botschaft in Kabul offen halten werde. Der türkische Außenminister bewertete die Zusicherungen der Taliban zum Schutz ausländischer diplomatischer Vertretungen als "positiv". So positiv, dass Ankara die Idee, die Sicherheit des Flughafens von Kabul zu gewährleisten, die es seit langem mit Washington diskutiert, noch nicht aufgegeben hat. Die türkische Regierung spricht nun mit den Taliban darüber. "Die Militärpräsenz der Türkei in Afghanistan wird die Position der neuen Regierung auf dem internationalen Parkett stärken und ihre Arbeit erleichtern", erklärte der türkische Autokrat Erdoğan heute.
Die sich abzeichnende türkische Präsenz in Afghanistan liegt auch im Interesse westlicher Machtpolitik.
″Sollte es tatsächlich zu einer Einigung mit der Türkei über den Betrieb des Flughafens kommen, stünden umfangreiche informelle Kanäle offen, ohne dass weitere NATO-Staaten selbst das Taliban-Regime anerkennen müssten. Damit liegt die sich abzeichnende türkische Präsenz in Afghanistan auch im Interesse westlicher Machtpolitik. Während sich schon jetzt mit Blick auf die Wirtschaft ein erheblicher chinesischer Einfluss abzeichnet, könnten die Taliban so zumindest rudimentäre Beziehungen zum Westen aufrechterhalten und perspektivisch auch Teilen des Kabuler Bürgertums eine integrative Perspektive anbieten. Insgesamt wird das neue Taliban-Regime ökonomisch weitaus stärker mit dem Rest der Welt interagieren als das alte – an seinem repressiven politischen und kulturellen Führungsanspruch dürfte dies aber wenig ändern″, schreibt Axel Gehring. [2]
Der Dialog der Türkei mit den Taliban wird zwangsläufig auch die Migrationsfrage betreffen. Vor einigen Tagen kritisierte die Türkei die Entscheidung des US-Außenministeriums, die Kriterien für die Erteilung von Visa an Afghanen, die mit Washington kollaboriert haben, zu erweitern. Und in den letzten Tagen hat sie mit dem Bau einer Mauer an der Grenze zum Iran begonnen, um die Einreise afghanischer Flüchtlinge zu verhindern.
Im Moment ist die Mauer 5 Kilometer lang, berichtet Reuters. Aber sie wird 295 Kilometer lang werden. Sie soll Afghanen und afghanische Frauen aufhalten. Die vielen Menschen, die im Land geblieben sind, warten gespannt darauf, wann die Taliban ihre Karten auf den Tisch legen und über öffentliche Erklärungen hinausgehen werden.
Verwendete Quelle: il manifesto, Rosa Luxemburg Stiftung
Anmerkungen:
[1] Giuliana Sgrena: ″Criminali intervento e ritiro, ora s’interponga la pace″
https://ilmanifesto.it/criminali-intervento-e-ritiro-ora-sinterponga-la-pace/
[2] Axel Gehring: ″Afghanistan: Das Scheitern des Westens″,
https://www.rosalux.de/news/id/44820/afghanistan-das-scheitern-des-westens
- Kerem Schamberger: Holt die Leute da raus! Sofort!
- "Schande über die ganze Welt!"
Afghan*innen, die sich in den letzten Jahren aktiv für Menschenrechte und Demokratie eingesetzt haben und deshalb jetzt von Folter und Tod bedroht sind, werden ihrem Schicksal preisgegeben.
Von Thomas Rudhof-Seibert