Im Interview

IRN Amineh Kakabaveh30.10.2022: "Das Regime wird nicht morgen fallen, aber was zählt, ist der Wandel in der Gesellschaft. Die jungen Menschen von heute sind dabei, das Land wieder zu vereinen, weil sie eine andere Mentalität haben: Sie fühlen sich nicht als Teil der islamischen Revolution, sondern als Kinder einer neuen politischen Perspektive", sagt Amineh Kakabaveh im Interview.

 

Am Samstag (29.10.) drohte der Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden (IRGC), Hussein Salami, den Demonstrierenden und verlangte ein Ende des seit mehr als 40 Tagen andauernden Volksaufstands. "Die Demonstranten sollten die Geduld des Systems nicht überstrapazieren. Wir sagen es unseren Jugendlichen noch einmal: Heute ist der letzte Tag der Unruhen. Kommt nicht mehr auf die Straßen.“ Niemand werde erlauben, weiter Unsicherheit zu stiften und die Universitäten des Landes in ein "Schlachtfeld" zu verwandeln, warnte der General.

Doch trotz der massiven Drohung sind die Proteste am Wochenende weitergegangen. Dabei gingen Polizei, Revolutionsgarden und Milizen wieder mit massiver Gewalt gegen die Demonstrierenden vor. Die Menschenrechtsgruppe Hengaw berichtet, dass iranische Regimekräfte am Samstag (29.10.) das Feuer an einer Mädchenschule in der Stadt Seqiz (Saqqez) eröffnet haben, eine 16-jährige Schülerin wurde offenbar verschleppt. Nach Angaben der Organisation ist auch auf Studierende an der Medizinischen Hochschule in Sine (Sanandadsch) geschossen worden. Mehrere Menschen wurden demnach verletzt, ein Student sei tot, berichtete Hengaw. Seit Mittwoch meldete die Gruppe zahlreiche Todesfälle in Rojhilat. In Mahabad wurden in den letzten Tagen mindestens sieben Menschen getötet.

Chiara Cruciati sprach am Freitag für die Zeitung il manifesto mit Amineh Kakabaveh. Amineh Kakabaveh ist eine schwedische Politikerin mit iranisch-kurdischen Wurzeln. Die ehemalige kurdische Peshmerga-Kämpferin gehörte von 2008 bis 2022 dem schwedischen Reichstag an.

Der Aufstand, der vor 42 Tagen begann, ging von Rojhilat, dem Kurdistan im Iran, aus. Die Proteste gegen den herrschenden Klerus Irans hatten sich an der Ermordung der 22 Jahre alten Kurdin Jihna Mahsa Amini durch die Polizei entzündet. Zum ersten Mal haben sie von den kurdischen Gebieten aus das ganze Land erreicht.

Amineh Kakabaveh: Die Frage muss aus einer historischen Perspektive betrachtet werden: Linke Bewegungen sind unter den Kurd:innen seit jeher sehr stark verwurzelt. Im Iran war die Partei, der ich angehörte, Komala, eine der am besten strukturierten sozialistischen Bewegungen gegen den Schah. Die PKK in der Türkei hat sich von dort inspirieren lassen. Auch die erste feministische Zeitschrift im Nahen Osten wurde in der iranischen Kurdenstadt Mahabad herausgegeben. In Rojhilat haben die Frauen trotz der Islamischen Republik immer gekämpft. Bis Jihna Mahsa Amini aus Saghez, meiner Heimatstadt. Die Behörden versuchten, ihre Familie zum Schweigen zu bringen, was ihnen jedoch nicht gelang.

Und der Protest wurde zu einer nationalen Bewegung: Zum ersten Mal erhob sich der gesamte Iran gegen den islamischen Fundamentalismus. Auf den Plätzen hört man Rufe wie "Kurdistan, das Herz und die Seele des Iran". Es handelt sich um ein historisches Ereignis, die Wiederherstellung der Einheit und Überwindeung einer vom Staat gewollten Spaltung und der Ausgrenzung von Minderheiten wie den Kurd:innen oder Belutsch:innen. Die jungen Menschen, die von Frauen angeführt werden, haben eine andere Mentalität: Sie fühlen sich nicht als Teil einer vier Jahrzehnte alten Revolution - der islamischen -, sondern als Kinder einer neuen politischen Perspektive. Sie haben alles verloren, sie haben keine Arbeit, obwohl sie jahrelang studiert haben, sie haben keine Zukunft, sie haben nichts zu verlieren außer ihrem Leben.

Die zentrale Rolle, die die Forderungen der Frauen bei den Aufständen im Mittleren Osten spielen, ist seit einigen Jahren offensichtlich: Der Feminismus bringt das Thema der allgemeinen sozialen Gerechtigkeit voran. Haben Sie das auch im Iran erwartet?

Amineh Kakabaveh: Seit mehr als zwei Jahrzehnten sind es die feministischen Bewegungen, die für einen radikalen Wandel im Mittleren Osten stehen. Es sind die Frauen, die den Islamismus herausfordern, sei es der radikale Islam des IS oder der politische Islam der Islamischen Republik. Eine Tatsache, die auf die jahrzehntelange Unterdrückung der Frauen, unserer Körper, unserer Persönlichkeit und Identität zurückzuführen ist, die vom Staat, von den Familien, von den Clans sexualisiert wurde.

Die Revolution in Rojava, die bewaffnete Erfahrung der Kurd:innen, die eine Infragestellung des Patriarchats ermöglichte, und der arabische Frühling spielten eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung der Forderungen der Frauen.

Im Jahr 2011 waren Frauen auf den Plätzen präsent und standen im Visier der Polizei: Sie wurden vergewaltigt, ihnen wurde gesagt, dass ihr Platz im Haus sei. Aber auf dem Tahrir und den arabischen Plätzen waren die Frauen da. Und auch wenn diese Revolutionen leider gescheitert sind, sind die Ideen nicht tot: Die Erfahrung lebt weiter und die politische Beteiligung hat sich radikal verändert. Dies lässt sich auch an der neuen Bedeutung der sozialen Medien und des unabhängigen Journalismus ablesen. Im Iran werden die Medien von der Regierung kontrolliert, aber die Modernität der Informationen hat es möglich gemacht, die Außenwelt zu erreichen.

Viele sprechen heute vom Anfang vom Ende der Islamischen Republik. Sehen Sie das auch so?

Amineh Kakabaveh: Das ist nicht leicht zu sagen. In diesen 43 Jahren hat sich das Regime einen starken Sicherheitsapparat geschaffen, die Pasdaran, die Basidsch-Miliz, die Polizei. Mir wurde jedoch gesagt, dass sich in Kurdistan viele Agenten dem Aufstand anschließen. Das Regime wird nicht morgen fallen, aber Tausende und Abertausende von jungen Menschen demonstrieren seit über 40 Tagen, skandieren "Jin Jiyan Azadi" (Frau, Leben, Freiheit), legen ihre Schleier ab und filmen sich selbst ohne Hijabs. Bis vor einem Monat war dies in den meisten Familien unmöglich. Der wirkliche Wandel findet in der Gesellschaft statt, und das ist das Wichtigste. Im Nahen Osten ändern sich zwar die Regime, aber wenn die Gesellschaften gleich bleiben, ist der Wandel nie wirklich vollzogen. Diesmal stehen wir jedoch vor gesellschaftlichen Umwälzungen, von Ägypten bis Rojava.

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Sie haben es vom Guerillakrieg in den Bergen bis ins schwedische Parlament geschafft. Können Sie Ihre Geschichte erzählen?

Amineh Kakabaveh: Ich komme aus einer armen Familie. Als Khomeini an die Macht kam, war ich vier Jahre alt. Einige Jahre später wurde Kurdistan militärisch überfallen und viele junge Menschen wurden getötet. Ich begann zu demonstrieren, und deshalb wurde meine Familie unter Hausarrest gestellt. Die Behörden wollten meinen Vater zwingen, mich zu verheiraten, aber ich war noch ein Kind und er weigerte sich.

Als ich 13 Jahre alt war, beschloss ich, in die Berge zu gehen, um meine Familie nicht zu gefährden und mich zu verteidigen: Ich war fünf Jahre lang bei den Peshmerga. Ich habe gekämpft, weil ich nicht wollte, dass sie uns weiterhin alles wegnehmen, unsere Körper, unsere Rechte, unsere Identität als kurdische Frauen. Mein Schicksal hätte das von Mahsa Amini sein können.

Als ich 19 Jahre alt war, beantragte ich über die UNO, die damals die Aufnahme organisierte, politisches Asyl: Schweden bot mir an, mich aufzunehmen. Ich habe der schwedischen Delegation gesagt, dass ich studieren möchte. Im Iran hatte ich keine Gelegenheit dazu: Kein Kind sollte den Kugelschreiber für die Kalaschnikow eintauschen. Ich hatte unter dem Schah nur ein Jahr lang die Schule besucht, und mit der islamischen Revolution gingen Millionen Kurd:innen von der Schule ab. Ich begann, mit meiner Mutter zu arbeiten und zu Hause zu lernen. Bei den Peshmerga habe ich Lesen und Schreiben auf Kurdisch und Farsi gelernt. In Schweden habe ich die Abendschule besucht. Tagsüber arbeitete ich, um meine Familie zu unterstützen, die im Iran geblieben war. Ich trat in die schwedische Linkspartei ein und blieb dort 25 Jahre lang. Elf Jahre im Parlament mit ihnen, dann drei als Unabhängige.

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Im Juli 2021 ruhte das Schicksal der schwedischen Regierung zwei Wochen lang auf den Schultern einer der offensten und unabhängigsten Abgeordneten des Landes. Amineh Kakabaveh, eine ehemalige iranisch-kurdische Peshmerga (Guerillakämpferin), hat ein dramatisches und beeindruckendes Leben geführt. Die willensstarke und kämpferische Frau hat ihr ganzes Leben lang für Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft, insbesondere für die Rechte von Frauen in traditionellen Kulturen und gegen Ehrverbrechen und religiösen Fundamentalismus. Heute ist ihr Kampf aktueller denn je. Amineh Kakabavehs Autobiografie, verfasst gemeinsam mit Johan Ohlson, schildert ihren außergewöhnlichen Weg.

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Warum haben Sie die Linkspartei verlassen?

Amineh Kakabaveh: Ich war gegen den Kopftuch für Mädchen. Ich forderte ein Verbot und die Wahlfreiheit mit 18 Jahren, aber die Partei hielt dies für eine Maßnahme, die als islamfeindlich bezeichnet werden könnte. Ich halte das für eine rassistische Praxis: In Europa betrachten selbst die Linken alle Muslime als gleich, als ein monolithisches Volk, sie löschen die Vielfalt und damit den Reichtum aus. Ich habe den Hijab getragen, ich wurde vom Staat, von den Medien und von der Gesellschaft, die die Weigerung, ihn zu tragen, als entehrend ansieht, gezwungen. Der Hijab ist zu einer Quelle der Identität geworden, auch für Frauen und Familien, die nicht religiös sind. In der Türkei unter Atatürk und im Iran unter dem Schah wurde der Schleier verboten. Ich bin gegen jede Form von Zwang: Jeder muss frei wählen können. Deshalb bin ich der Meinung, dass kleine Mädchen nicht gezwungen werden dürfen, ihn zu tragen.

Im vergangenen Juni unterzeichneten Schweden und Finnland ein Memorandum mit der Türkei, um der NATO beizutreten: ein Ende des Waffenembargos und der Unterstützung für die syrischen Kurdeneinheiten YPG und YPJ sowie die Auslieferung von Kurd:innen, die Ankara als Terrorist:innen betrachtet. Was ist seither geschehen?

Amineh Kakabaveh: Diese Vereinbarung ist das Ergebnis des Versagens der Linken auf internationaler Ebene. Schweden und Finnland wollten um jeden Preis der NATO beitreten, Länder mit zweihundertjähriger Neutralität unterzeichneten ein Abkommen mit der Türkei zur Verfolgung von Kurden und kurdischen Vereinigungen. Derzeit liegen vier Fälle der Auslieferung von Kurden an die Türkei vor, die mit Straftaten in Zusammenhang stehen. Diejenigen, die politisches Asyl haben, können zwar nicht ausgeliefert werden, aber wir befürchten immer noch, dass sie aus Gründen der politischen Propaganda und der Zweckmäßigkeit zur Strecke gebracht werden könnten. Zinar Bozkurt zum Beispiel sitzt immer noch im Gefängnis, obwohl er homosexuell ist, und seine Auslieferung wurde nur durch die Intervention des Europäischen Gerichtshofs gestoppt.

Es gibt Verträge, die die Auslieferung von politischen Flüchtlingen verbieten, sowohl Schweden als auch die Türkei haben sie unterzeichnet, aber hier ist das Ziel ein politisches: Erdogan muss seine interne Propaganda aufrechterhalten, um die Wahlen im nächsten Jahr zu gewinnen. Die kurdische Frage ist in Erdogans Erzählung von entscheidender Bedeutung, um den Konsens zu festigen. Deshalb drängt er darauf, die PKK auf den europäischen Terrorlisten zu belassen, obwohl die Anschläge in der Türkei zwischen 2014 und 2015 alle der kurdischen Gemeinschaft galten, in Ankara, Suruc und Diyarbakir.

 

Das Interview führte Chiara Cruciati für die Zeitung il manifesto
eigene Übersetzung aus dem italienischen


 

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Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge

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