06.06.2025: Interview mit der Europaabgeordneten Rima Hassan von France Insoumise: "Antisemitismus, Nazismus und Kolonialismus sind in Europa entstanden, deshalb muss die Lösung auch hier gefunden werden. Befreiung ist kein Staatswesen, es ist nicht Palästina auf der Landkarte, sondern die Rückkehr. Wir wollen keine weitere Nakba, sondern mit gleichen Rechten auf unserem Land leben."
Rima Hassan ist am 1. Juni zusammen mit anderen politischen Aktivist:innenen, darunter Greta Thunberg, im italienischen Catania an Bord der Madleen gehen. Ziel ist Gaza. Eine neue Herausforderung der Freedom Flotilla nach dem israelischen Überfall, der vor wenigen Wochen ein Schiff der Koalition vor Malta außer Gefecht gesetzt hat. (siehe kommunisten.de, 5.5.2025: Drohnen greifen Boot mit Hilfsmitteln für Gaza an. Hungertod in Gaza)
Hassan, die als erste Palästinenserin in das EU-Parlament gewählt wurde, blickt auf eine lange politische Aktivität zurück. Chiara Cruciati und Filippo Ortona haben für die italienische kommunistische Zeitung il manifesto mit Rima Hassan gesprochen.
Warum gehen Sie an Bord?
Es ist eine Frage der Konsequenz, der Kampf für das palästinensische Volk muss an verschiedenen Fronten geführt werden, auf der Straße, mit Aktionen wie denen der Flottille oder dem Globalen Marsch nach Rafah, auf politischer Ebene in den Parlamenten. Wir sind als Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen. Unser Boot ist klein, es wird keine Hilfsgüter transportieren: Es handelt sich um eine politische und symbolische Aktion. Ob ich Angst habe? Ich weigere mich, Angst zu haben. Das Ziel Israels ist es, uns zu lähmen, Angst davor zu schüren, eine Meinung zu äußern.
Auf welche Schwierigkeiten stoßen Sie im Europaparlament? Inwieweit ist dessen Passivität auf die Differenzen zwischen den Fraktionen und die Spaltungen innerhalb der progressiven Kräfte zurückzuführen?
Das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel hätte sofort ausgesetzt werden müssen: Die Menschenrechtsverletzungen, wie in Artikel 2 vorgesehen, waren bereits dokumentiert. Apartheid, Besatzung, willkürliche Verhaftungen, Morde und die Zerstörung von Dörfern waren dokumentiert. Erst jetzt, nach zwanzig Monaten und großen Straßenprotesten, ist es Kaja Kallas gelungen, eine Mehrheit der Staaten für eine Überprüfung des Abkommens zu gewinnen, nicht für dessen Aussetzung. In dem Ausschuss, in dem ich arbeite, dem Ausschuss für Menschenrechte, habe ich alles versucht, um einen Text über die Rechte der Palästinenser, über Kinder, über zerstörte zivile Infrastruktur zu verabschieden... alles wurde von den progressiven Fraktionen blockiert.
Warum haben einige europäische Politiker heute neue Positionen eingenommen?
Der Ton und die Rhetorik haben sich nur dank der Mobilisierung geändert, nicht weil es eine neue politische Überzeugung gibt. Sie sprechen jetzt so, weil sie dazu gezwungen sind, weil sie das Gefühl haben, ihre Glaubwürdigkeit in der Verteidigung der Menschenrechte verloren zu haben. Es hat nur zwei Wochen gedauert, um Sanktionen gegen Russland zu verhängen, hier sind wir zwanzig Monate nach Beginn des Völkermords und sie überlegen noch, was zu tun ist.
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kommunisten.de, 2.6.2025 Gaza: Die apokalyptische Endlösung.Die Auslöschung palästinensischen Lebens in Gaza war schon immer Israels Plan, aber jetzt ist es offiziell ++ Verbündete setzen sich von "bedingungsloser Solidarität" mit Israel ab
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Wie stark beeinflusst die rechtsextreme Politik von Trump die neue Haltung?
Trump ist klar. Er sagt, er wolle Gaza in eine Riviera verwandeln, er spricht von Deportation: Dieser politische Zynismus zwingt die Europäer, ihn zu verurteilen und ihr Engagement für die Verteidigung der Menschenrechte und des Völkerrechts zu bekräftigen. Der einzige "Vorteil” der Politik Trumps besteht darin, dass er Israel isoliert hat, indem er eine so extremistische Lösung präsentiert hat, dass sogar das heuchlerische Europa sich gezwungen sah, sich dagegen zu stellen.
Eines muss man sich vor Augen halten: Aus historischer Sicht ist das Palästinenserproblem ein europäisches Problem. Zionismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus sind europäische Themen. Israel wurde als Antwort auf den europäischen Antisemitismus gegründet; der Zionismus entstand, wie sein Gründer Theodor Herzl schrieb, als Reaktion auf die Verfolgung der Juden in Europa. Und schließlich basiert das Kolonialprojekt auf dem Modell des europäischen Kolonialismus. Das Problem ist europäisch, und die Lösung muss europäisch sein.
Eine der schlimmsten Auswirkungen der europäischen Positionen war die Unterdrückung abweichender Meinungen. Sie wurden heftig angegriffen.
Ich bin eine Tochter der Nakba, Trägerin einer Botschaft, die Israel und seine Verbündeten mehr als jede andere provoziert, weil sie zu den Wurzeln zurückführt, ins Jahr 1948. Unsere bloße Existenz als in Flüchtlingslagern geborene Flüchtlinge ist der Beweis für die Enteignung Palästinas. Man nennt mich Syrerin, um meine palästinensische Identität zu leugnen, weil ihre größte Angst das Rückkehrrecht von sechs Millionen Menschen ist.
Inwieweit erfolgte die Unterdrückung der Mobilisierung in Frankreich auf rassistischer, ethnischer, religiöser und klassenbezogener Grundlage?
Viele haben ähnliche Erfahrungen gemacht: abgesagte Initiativen, gerichtliche Verfolgung wegen Verherrlichung des Terrorismus, Dämonisierung in den Medien. Dennoch wurden die allermeisten Fälle, die in Frankreich vor Gericht kamen, von den Aktivisten gewonnen. Das zeigt, dass das Instrument der Repression politisch ist und keine rechtliche Grundlage hat.
Es gibt auch eine Dimension der Klassenunterdrückung, die mit rassifizierten Gemeinschaften mit Migrationshintergrund zusammenhängt.
Medien und Politik behaupten, die Unterstützung für Palästina komme von Muslimen, aber rassifizierte Gemeinschaften unterstützen Palästina, weil sie eine gemeinsame Erfahrung des Kolonialismus haben. Araber und Schwarze fühlen sich mit den Palästinensern verbunden, aber nicht der Islam ist das verbindende Element, sondern ihre eigene Geschichte als Kolonisierte.
Um die palästinensische Sache in einem Kontext der Islamophobie zu dämonisieren, bezeichnen sie sie als islamistische Sache, als Unterstützung der Hamas, anstatt sie als internationale, revolutionäre und antikolonialistische Sache zu bezeichnen.
Sie haben sich als Tochter der Nakba bezeichnet. Wie alle Palästinenser sind Sie mit den Erzählungen Ihrer Großeltern über ihre Vertreibung aufgewachsen. Was empfinden Sie, wenn Sie heute dieselben Bilder sehen?
In diesen Zelten habe ich die Bilder der Nakba wieder gesehen. In dieser zeitlichen und räumlichen Dimension – die Zeit steht still seit 1948, die Diaspora – die vor allem für diejenigen, die in einem Flüchtlingslager aufgewachsen sind, entscheidend ist, ist das, was in Gaza geschieht, ein Tod im Tod. Wenn die Palästinenser aus Gaza deportiert werden, ist die nächste Etappe das Westjordanland. Wir befinden uns in einem historischen Wendepunkt, aber ich bin überzeugt, dass die Palästinenser gewinnen werden.
3.6.2025: Rima Hassan an Bord der Madleen
In Europa wird viel über einen palästinensischen Staat diskutiert, wobei oft das Ziel mit dem Mittel zur Befreiung verwechselt wird. Was ist für Sie die politische Lösung?
Die internationale Gemeinschaft schränkt den Rahmen der politischen Existenz der palästinensischen Sache ein, indem sie sie auf einen Staat beschränkt. Die Völker sagen etwas anderes: Selbstbestimmung.
Wir müssen die Kolonialpolitik Israels ausspielen: Ihr wollt das ganze Gebiet, euch frei bewegen, überall leben? Gut, das wollen die Palästinenser auch. Und die leben bereits vom Fluss bis zum Meer: 20 % der Israelis sind Palästinenser, die Palästinenser leben in Gaza, in Jerusalem, im Westjordanland.
Der einzige Weg, dieses koloniale System zu durchbrechen, ist ein einziger oder binationaler Staat. Wenn die Palästinenser gleiche Rechte haben, werden sie nicht mit Gewalt reagieren. Die Voraussetzung muss Gleichheit und Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit sein.
Das ist die wahre Wiedergutmachung der Nakba. Im Jahr 2018 forderte der Marsch der Rückkehr nicht das Ende der Blockade des Gazastreifens, sondern die Freiheit, in ihre Dörfer zurückzukehren.
Befreiung bedeutet nicht Palästina auf der Landkarte, sondern die Rückkehr. Wir wollen keine weitere Nakba, um die erste wiedergutzumachen: Die israelischen Juden müssen bleiben können, ihre Anwesenheit ist genauso legitim wie meine.
übernommen von: il manifesto, 30.5.2025: Rima Hassan:«Salgo sulla Freedom Flotilla per sfidare l’assedio di Gaza»
https://ilmanifesto.it/rima-hassan-la-questione-palestinese-e-un-problema-europeo
eigene Übersetzung
Infos: https://nie-wieder-krieg.org/gaza/
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