Der Kommentar

17.03.2025: Der Westen, Europa hat so viel in einen Sieg der Ukraine über Russland investiert. "Wir" haben alles gegeben, haben uns selbst emotional ganz und gar in den Kampf geschmissen und wir haben trotzdem verloren? Aber was macht Europa mit seiner Niederlage? Was hat es bekommen? Dieser Frage geht Ingar Solty nach.

 

 

Der Westen, Europa hat so viel in einen Sieg der Ukraine über Russland investiert: Waffen, seine eigene Wirtschaft, die der Bumerang der Sanktionen traf und dabei das deutsche Exportmodell zerschlug, seine Demokratie und liberale Kultur, die innerlich zeitengewendet wurde, und die Massenpsyche seiner Bevölkerung, der man erzählte, man könne heute endlich auf der richtigen Seite und dazu aus der sicheren Entfernung noch einmal gegen Hitler kämpfen.

Nun hat Europa, mit Ankündigung - Kritiker, zu denen ich gehöre, haben es von Anfang an geschrieben - verloren.

Und es hat verloren nicht, weil man die Dosis der Waffenmedizin zu zögerlich verabreichte, was Europas neue Dolchstoßlegende ist. Man hat verloren, weil es eine geschichtliche Dialektik des Krieges gibt, auf die Leute wie ich ebenfalls von Anfang an hingewiesen haben: Denn es ist heute die ukrainische Arbeiterklasse, die den Krieg durch Abstimmung mit den Füßen beendet, die sich vor dem Zugriff des zwangsrekrutierenden Staates versteckt, die beginnt, die Zwangsrekrutierer zu erschießen, die Kameraden aus ihren Händen zu befreien und die Institutionen der Zwangsrekrutierung in die Luft zu sprengen.

Die ukrainische Arbeiterklasse tut dies nicht, weil der ukrainische Krieg ungerechter wäre. Der russische Staat hat völkerrechtswidrig die Ukraine überfallen. Die ukrainische Arbeiterklasse tut es, weil sie es im Gegensatz zur russischen Arbeiterklasse tun muss, denn für sie gilt die Zwangsrekrutierung, für die russische Arbeiterklasse gilt sie angesichts des numerischen Ungleichgewichts zwischen angreifendem und verteidigendem Staat nicht. Oder, denn ich würde mir den gleichen "Krieg dem Krieg" (Rosa Luxemburg) auch auf russischer Seite wünschen, leider noch nicht. Denn der russische Staat findet immer noch genügend arme Schweine, die er an der Front für einen Krieg, in dem sie nichts zu gewinnen haben, verheizen kann.

Aus westlicher Perspektive ist aber die Situation eingetreten, wo die oben nicht mehr können wie sie wollen, weil die unten nicht mehr wollen wie sie sollen. Und nur europäisches Geld könnte die Ärmsten der Armen im Armenhaus Europas vielleicht noch dazu bringen, sich für ein Jahr freiwillig zu verpflichten, freiwillig russisches Roulette zu spielen: Bringt die nächste Kugel den Tod, die Verstümmelung oder die lebenslange Traumatisierung? Oder bringt sie vielleicht doch das zehnfache Jahreseinkommen, den zinslosen Baukredit und das gebührenfreie Studium?

Dass dieses Angebot an die 18-24jährigen Ukrainer ziehen wird, ist sehr fraglich.

Aber was macht Europa mit seiner Niederlage? Was hat es bekommen?

Man hat ein paar dequalifizierte Arbeitskräfte für Kitas, Krankenhäuser und Altenheime gewonnen, die laut Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und "Bundesamt für Migration und Flüchtlinge" nicht mehr in ihr durch Russland und die Kriegsverlängerung zerstörtes, entvölkertes und ökonomisch ruiniertes Land zurückkehren wollen. Man hat die Nationengründung der Ukraine in prowestlicher und zugleich radikal antikommunistischer, Nazi-Kollaborateure verherrlichender Weise abgeschlossen.

Aber sonst?

Krieg, Sanktionen, Gegensanktionen und die Einleitung einer neuen Blockkonfrontation, die sich gegen China richtet, haben das deutsche Exportmodell erledigt. Man wird trotzdem bezahlen müssen, was Russland und der verlängerte Krieg zerstörten. Die Beute einfahren werden - dafür sorgen gerade Trump und die Silicon Valley-Konzerne - die USA.

Man hat die Demokratie auf dem Altar der ohne gesellschaftliche Debatte von oben beschlossenen "Zeitenwende" und neuerdings Grundgesetzänderungen mit längst abgewählten Parlamenten geopfert.

Man hat die liberale Öffentlichkeit der eigenen Propaganda, die überall "fünfte Kolonnen" mit "Putin-Narrativen" identifiziert, geopfert; und man hat sich durch diese Propaganda und für die ideologische Unterstützung der eigenen Politik in der Bevölkerung eine gefährliche Massenpsyche, um nicht zu sagen: Massenpsychose, geschaffen, die nun droht, die weit zurückreichende Politik realistischer Großmachtinteressen Deutschlands und der EU ins Irrationalistische zu treiben.

Denn die Massenpsyche fragt sich: Es ging gegen ein zivilisatorisch unter uns stehendes "Obervolta mit Atomwaffen" (Helmut Schmidt), es ging gegen Hitler, wir haben alles gegeben, haben uns selbst emotional ganz und gar in den Kampf geschmissen und wir haben trotzdem verloren? Hitler ist noch da? Wo bleibt das Hollywood'sche Happy End? Wo bleibt die Katharsis?

Europas Niederlage ist eine kollektive narzisstische Kränkung. Der Narzisst, der sich selbst über alle anderen erhöht, handelt aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus. Er muss ständig das Gefühl der Überlegenheit herstellen. Das macht ihn so machtstrebend, macht ihn so gefährlich.

Aus der Kränkung ergeben sich Übersprungshandlungen. Darum triggern wir, wenn wir den Unsinn der Hochrüstung benennen, so viele Leute, die sich sonst eigentlich nie für Politik interessierten, nie zu Wort meldeten, aber es heute schlicht nicht ertragen können, dass wir ihre Weltsicht nicht teilen, die sich vor dem Russen erst sicher fühlt, wenn jeder Bürger seine Privatatombombe hat.

Kränkung heißt: Der Gekränkte kann nicht lockerlassen. Der Stachel sitzt zu tief. Er juckt. Die Niederlage muss ungeschehen gemacht werden. Daraus entsteht Revanchismus - in der Liebesbeziehung, bei der der verlassene Mann die Ex-Frau stalkt, ebenso wie in der Politik.

Aber Revanchismus ist ein teuflisches Gift.

Viele Menschen, die heute die Aufrüstung begleiten, erinnern mich an die Deutschen, die Ende des 19. Jahrhunderts für den "Deutschen Flottenverein" spendeten, weil man als sendungsbewusstes Volk der Dichter und Denker gegenüber den "Krämervölkern" bei der kolonialen Aufteilung der Welt zu spät gekommen war und nun gegen die seit 1588, seit dem britischen Sieg über die Spanische Armada, bestehende britische Seeherrschaft anstinken wollte.

Mit Nietzsche'scher Übermenschphilosophie im Tornister und einem flotten Soldatenlied auf den Lippen zog man dann in den Weltkrieg, und anstatt "Weihnachten wieder zuhause" zu sein, lag man vier Jahre "neben den französischen Genossen" im Schützengraben und ließ sich beim Heraustreten ins Niemandsland dann von Maschinengewehrfeuer niedermähen.

Viele Menschen, die heute die Hochrüstung mit Zähnen und Klauen verteidigen, obwohl sie nie im Leben mit den Mikes, Michaels und Kevins von der Hauptschule Wehrdienst geleistet hätten, erinnern mich an meinen Danziger Großvater und seine Anfang der 1920er Jahre geborenen Generation, denen jedes neu angeschaffte Kriegsschiff, dessen technische Daten sie natürlich alle auswendig kannten und auf dem Schulhof mit denen des Feindes vergleichen konnten, ein Gefühl des "Wir sind wieder wer" verschaffte.

Ein Gefühl der Genugtuung, das die Schmach der Weltkriegsniederlage, des Versailler Vertrags, der Entmilitarisierung, der Rheinlandbesetzung (noch dazu durch schwarze Kolonialsoldaten Frankreichs), der Territorialverluste, des Polnischen Korridors wettmachte.

Bis sie dann irgendwann die Waffen, die ihnen das Gefühl der Stärke, Macht und Unbesiegbarkeit gegeben hatten, selbst in die Hand nehmen mussten. Bis sie sich für fremde Zwecke in die totale Ohnmacht um sie herumfliegender Partisanenkugeln und Katjuscha- und Stalinorgel-Geschosse fügen mussten.

Mein Großvater, der, mehrfach kriegsverwundet, zum Schluss noch die Schlacht am Monte Cassino überlebte, sieht auf seinem ersten Foto in Wehrmachtsuniform aus wie ein Schulkind mit panischer Angst in den Augen. Auf den Fotos wenig später ist der Blick aschgrau.

Nach dem Krieg sagte er: "Die Nazis haben uns unsere Jugend gestohlen."


zum Thema

Wir werden in unsere Heimat zurückkehren

Palestina Wir werden zurüückkehren

Viva Palästina

++++++++++++++++++++++++++++++++

Solidaritätskampagne mit der Palästinensischen Volkspartei für Gaza: 30.000 Euro überwiesen. Die Solidarität geht weiter!

Gaza Soliaktion 2024 12 09 5
zum Text hier
++++++++++++++++++++++++++++++++

EL Star 150

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.